Von Clara Sinn

„Schau mich endlich an!“, rief der Spiegel.

Aus der blanken reflektierenden Scheibe guckte jäh ein zürnendes Kind.
„Schau mich endlich an!“

Alles war. Bisher. Äußerst glatt.
Gewesen.

Mit Männern hatte sie es von je her leicht gehabt. Hormongesteuerten. Schwanzträgern.
Was sie liebte. 

Hatte sich dieser Narr von erstem Mann im Reich nicht Besseres zu wünschen gehabt als die Schönste. Äußerlich.

Wieso nicht? Sie hatte auch ihre Prioritäten.

Hatte sie also diese bedrohliche Tochter um die Ecke gebracht. Dank treu ergebener Diener. Tötungskompetenter Niederstrecker. Von Wild. Normalerweise.

Und dann das: Erwies sich die als zäher. Denn jeglicher Zauber. Den sie beherrschte. Frauen waren noch nie so leicht, nahtlos in eigene Wünsche einzufügen. Wie Männer.

Hatte sie nun Anlass festzustellen, dass ihr dieser Satansbraten von Unschuldsengel schon ganze zwei Neidkrisen beschert hatte. Mit Gürtel und Kamm ausgestochen!

Derweil der unberührte Spiegel stets verlauten ließ: „… schöner als Ihr.“ Kreisch!!
Und an diesem Morgen ganz ungefragt wie nebenbei eine echte Ansage einstreute: „Wie lange soll das so weitergehen?“

Nicht, dass ihr die äußerst hübsch beschaffene Kinnlade heruntergefallen wäre, aber der verdammte Wahrheitsgemahner hatte Recht.

Wo wiederholtes Töten nicht weiterhalf …

Doch eh sie ein endgültig Zwingendes hätte ausbrüten können, hatte sich ihr poliertes Gegenüber gleich noch mehr erdreistet:

„Schau …!“

Leistete sich diesen Befehlston. Mit Betonung. Auf sich selbst:

„… mich …!“

Wobei die glänzende ebene Fläche begann, sowas wie Wellen zu schlagen und in dem bewegten Bild ein Kindergesicht erscheinen zu lassen. Ein aufgebrachtes Mädchen. Von etwa sechs. Es stampfte heftig auf mit seinem rechten Fuß. Als wolle es nachdrücklichst klarmachen, ‚hier spielt die Musik!‘

„… an!“

Okay.

An diesem Widerstand kam sie nicht vorbei. Hier war sie ans Ende gekommen. Mit ihrem Mörderinlatein.

Und sie begriff blitzartig. Im Wettlauf gegen eine Jüngere war nimmer zu siegen.

Aber

ihr Spiegel-Lauser, ihr inneres Kind, war jünger, ha, als dieses frühpubertierende Balg. Im Exil.

Und sie nahm sich der alten, offen gebliebenen Rechnung an.

„Na, schön“, bekannte sie sich, „du bist mächtiger.“

War heimlich heilfroh, dass sie das diesem Wutsprössling einzugestehen hatte. Nicht ihrer Widersacherin. Da draußen.

„Was willst du?“

„Toben! Zerstampfen …!“

„Und was bräuchtest du … eigentlich?“

„Lieb…“

Und da brachen sich auch schon dicke Tränen Bahn …

Wer nicht lieben kann, muss hassen. Wer hatte das nochmal gesagt? Ach, ja, dieser Richter. Wer nicht leiden will, muss hassen.

Liebesleid. Liebesbetrug erleiden. Müssen … müssen? Wo stand solches geschrieben?!

Mit ihr nicht!

„Ich will für dich da sein“, formte ein wohlmodellierter Mund die Wendeworte.

Und ein hintergründig hehres Herz zerlegte den Panzer. Drum herum. Dick und dicker geworden. Seit damals …

Ich habe überlebt, erholte sie sich. Diese Formel immer wieder wiederholend. Indes das Spiegelkind gedieh und an gesunder Gestalt gewann.

Ich habe überlebt um den Preis, dass ich dich ausschalten musste.

Muss ich jetzt nicht mehr.

Liebestrost.

„Du bist mir schön genug.“