Von Irmi Feldman
Der gedämpften, pseudoklassischen Musik zum Trotz, war die Atmosphäre geladen wie immer. Bert und Karlotta saßen sich im eleganten Esszimmer ihres Hauses gegenüber. Diesmal hatte Karlotta Rosenkohlauflauf gezaubert. Natürlich hasste Bert ihn. Natürlich wusste Karlotta, dass Bert ihn hasste. Natürlich wusste Bert, dass Karlotta wusste, dass er den Auflauf hasste. Ebenso wie all die anderen gemüselastigen Aufläufe, die sie tagein, tagaus für ihn kreierte.
Wegen der Aufläufe, aber auch weil ihre Ehe seit einigen Jahren auf holprigem Pfad wandelte, nicht zuletzt wegen der vegetarischen Aufläufe, verliefen ihre gemeinsamen Essen, je nach Stimmung, entweder in hasserfülltem Schweigen oder geheuchelter Fürsorge.
Ob es ihm schmecke, säuselte Karlotta.
„Wunderbar!“, parierte Bert mit seiner Standardantwort.
Vera und Heinz seien schon wieder am Streiten, informierte ihn Karlotta.
Was sonst noch neu sei, warf Bert irritiert ein. Karlottas Freunde seien schließlich immer am Streiten. Musste sie deswegen jetzt wirklich ein Gespräch anfangen?
Dieses Mal wollen sie sich aber wieder versöhnen, fuhr Karlotta fort. Deshalb habe sie ihnen auch den Schlüssel gegeben. Sie wollen ein ungestörtes Wochenende verbringen.
„Aha!“, meinte Bert, ohne von seinem Handy aufzublicken.
„Du hast doch nichts dagegen, Schatz?“, fragte Karlotta.
„Hm!“, warf Bert ein.
„Gut!“, sagte sie. Sicher seien sie schon dort angekommen.
„Angekommen?“ Bert horchte auf.
„Im Haus.“
„Was für ein Haus?“
„Un-ser Wald-haus! Lieb-ling!“, erklärte Karlotta langsam, damit Bert es begriff.
Bert blickte auf. Blass war er geworden. Schock stand in seinen Augen. Er kniff sie zusammen, um besser zu verstehen.
Karlotta wiederholte es. Diesmal noch langsamer.
„Ja, doch!“, stieß Bert gereizt hervor. Er habe schon verstanden.
Er müsse nochmal ins Büro, sagte er schließlich. Er habe ein wichtiges Dokument vergessen. Er müsse es überarbeiten.
Aber es sei doch Freitagabend, flötete Karlotta. Sie wolle den Abend mit ihm genießen.
Er sei gleich wieder zurück. Bert zwang sich zur Ruhe. Nicht lange werde er wegbleiben.
Karlotta reckte ihm ihr Schmollgesicht entgegen. Bert überwand sich und küsste sie auf die Wange. Ihr Atem roch nach Rosenkohl. Er hielt seinen an.
„Mist! Scheiße! Verdammt!“, quetschte Bert zwischen den Zähnen hervor, als er die Haustür hinter sich zuzog.
Die Fahrt zum Waldhaus dauerte normalerweise zwei Stunden und 15 Minuten, wenn man auf der Landstraße fuhr. Nahm man die Autobahn, so könne man es in weniger als zwei Stunden schaffen, vor allem, wenn man raste.
Bert entschied sich für die Landstraße. Er musste nachdenken.
Er ärgerte sich, dass er Karlotta nicht gefragt hatte, wann Vera und Heinz den Schlüssel zum Haus abgeholt hatten. Diese Information wäre von großem Vorteil gewesen. Doch mit so viel Interesse machte er sich verdächtig.
Jetzt, da die Entscheidung welchen Weg zu nehmen, getroffen war, konnte er darüber nachdenken, wie genau sein letzter Besuch – es war erst vor einer Woche gewesen – abgelaufen war.
Er hatte vor dem Haus auf der Lichtung im Wald geparkt, war sogleich ums Haus herum zur Kellertür gegangen und hatte sie aufgesperrt. Von außen sah die Tür ziemlich unscheinbar aus, doch was sich dahinter, besser gesagt, darunter befand, war seiner Meinung nach, ein Meisterwerk. Erst vor zwei Jahren, als Karlotta drei herrliche Monate bei ihrer Mutter verbracht hatte, um ihr nach einem unglücklichen Sturz beiseitezustehen, hatte Bert die Gelegenheit genutzt und den Kellerraum umgebaut. Allein. Sogar die Tür war jetzt schalldicht. Karlotta hatte davon natürlich keine Ahnung. Zum Glück kam sie nie zum Waldhaus. Es sei ihr zu einsam. Ja, fast gruselig.
Wie immer waren seine Hände in jener Nacht voll gewesen. Keuchend hatte er seine Last in den Keller gezerrt.
Verdammt! War jetzt wirklich sein Geheimnis dahin? Nur weil Karlotta ihren doofen Freunden den Schlüssel gegeben hatte? Nach all diesen Jahren? Nach all seiner Vorsicht?
Er, der nie Kreditkarten benutzte, wenn er Sachen für den Keller besorgte. Er, der große Umwege auf sich nahm, nur um Geschäfte aufzusuchen, wo ihn keiner kannte. Er, der immer, immer, immer darauf bedacht war, nicht aufzufallen, weder positiv noch negativ. Sein Hass auf Karlotta stieg ins Unermessliche.
Aber er schweifte schon wieder ab. In Gedanken ging er nochmal den letzten Besuch durch. Es war alles wie immer verlaufen. Nachdem er im Keller fertig war, hatte er penibel alle gebrauchten Gegenstände gereinigt. Den Restmüll hatte er wie immer in den Wald gezerrt und ihn dort an diversen Stellen vergraben. Als Letztes hatte er einen Rundgang gemacht, um sicher zu sein, dass keine Spur zurückgeblieben war.
Er war die Treppe hinaufgestiegen, hatte das Licht gelöscht und die Kellertür zugesperrt mit dem einzigen Schlüssel, den es gab, und den er immer bei sich trug.
Dann traf es ihn wie ein Hammer. Nein! Er hatte die Kellertür eben nicht abgeschlossen. Denn gerade in dem Augenblick, als er den Schlüssel ins Schlüsselloch hatte stecken wollen, hatte er ein Geräusch hinter sich gehört. Obwohl er zweimal ums Haus herumgegangen war und angestrengt in den Wald und in die Nacht hineingelauscht hatte, konnte er nichts Verdächtiges finden. Danach war er ins Auto gestiegen und nach Hause gefahren. Und die Kellertür hatte er nicht abgeschlossen. Mist!
Der Schweiß brach ihm aus. Er musste anhalten. Er hätte sich ohrfeigen können.
„Denk!“, befahl er sich. „Denk!“
Er fragte sich, wie lange Vera und Heinz schon im Haus waren. Ob sie schon einen Hausrundgang gemacht hätten? Ob sie auch außen ums Haus herumgegangen seien? Ob sie die Kellertür entdeckt hätten?
Warum sollten sie außen ums Haus herumgehen? Dazu gebe es doch gar keinen Grund. Man inspiziere ein Haus genau, wenn man es kaufen wolle, doch nicht, wenn man nur ein Wochenende im Haus seiner Freunde verbringe. Das erschien ihm logisch. Das beruhigte ihn.
Dann fiel ihm ein, dass Vera neugierig war. Das habe ihn immer schon an ihr gestört. Dass sie immer nachbohre. Dass sie alles hinterfragen müsse. Dass sie immer alles erkunden müsse. Die Vera, die werde darauf bestehen, außen ums Haus herumzugehen. Die werde den Keller finden. Die werde hinuntersteigen.
Das Herz klopfte ihm bis zum Halse. Er konnte kaum atmen. Schweiß tropfte ihm von der Stirn. Sein Hemd klebte an seinem Rücken. Warum saß er denn immer noch da?
Widerwillig fuhr er weiter. Er fuhr und fuhr. Er fuhr zu schnell. Nahm die Kurven zu scharf. Trotzdem hatte er das Gefühl, dass er nicht weiterkam. Die Minuten verstrichen, doch die Strecke wurde nicht kürzer. Nicht kürzer. Kein bisschen kürzer.
Ob er vor dem Haus parken sollte? Oder besser weiter weg noch auf dem Waldweg und zu Fuß zum Haus gehen? Vielleicht konnte er sich ja ums Haus schleichen, die Kellertür absperren und wieder verschwinden. In diesem Fall müsste er auf dem Waldweg parken. Aber dann würde er nie wissen, ob sie den Keller schon entdeckt hatten. Nein, er müsste sich schon sichtbar machen; müsste ihre Reaktion sehen. Reagierten sie ängstlich? Schauten sie ihn komisch an?
Er brauchte eine Entschuldigung, um seine Anwesenheit plausibel zu machen. Er könnte sagen, dass Karlotta vergessen habe, dass er, Bert, dieses Wochenende im Waldhaus verbringen wollte. Es täte ihm leid. Ob sie bitte abfahren könnten?
Falls er mit ihnen spreche, müsste er auch vor dem Haus parken. Denn ohne Auto zu erscheinen, wäre überaus verdächtig. Außerdem, wenn sie wirklich abführen, könne sein Auto nicht den schmalen Waldweg versperren.
Er würde vor dem Haus parken, entschied er sich. Er war erleichtert, dass diese Entscheidung getroffen war, und er nicht länger darüber nachdenken musste.
Endlich erreichte er die Ortschaft. Dunkel und ruhig lag sie da. Am Ende der Ortschaft, gerade vor dem Ortsausgangsschild, das, wenn man von der Autobahn kam, den Ortseingang anzeigte, zweigte ein ungeteerter Weg nach links zum Wald ab.
Jetzt erreichte er den Wald, fuhr hindurch und näherte sich der Lichtung, auf der das Haus stand. Es war stockdunkel. Waren die etwa schon im Bett? So früh? Na ja, sie wollten sich versöhnen. Aber ein Licht lasse man doch brennen. In einem fremden Haus lasse man doch ein Licht brennen.
Und dann sah er, dass da kein Auto stand. Alles war ruhig. Verwirrt schaute er sich um. Hatten die hinter dem Haus geparkt?
Oder waren die schon weggefahren? Hatten die im Keller herumgeschnüffelt? Ihm wurde schlecht. Seine Knie wurden weich. Trotzdem befahl er sich, aufs Haus zuzugehen, die Tür aufzusperren und in den Gang zu treten. Er schaltete das Licht ein.
„Hallöchen“, rief er so unbeschwert, wie er konnte. Doch alles blieb still.
Im Keller! Schoss es ihm durch den Kopf. Die sind im Keller.
Er rannte aus dem Haus, ums Haus herum, und blieb erstarrt vor der Kellertür stehen. Sie stand sperrangelweit offen. Jetzt war alles vorbei. Mein Gott! Das war das Ende.
Trüb baumelte die nackte Glühbirne über der Treppe. Mit klopfendem Herzen stieg Bert hinab. Mitten im Raum stand …
„Karlotta?“, rief er aus. „Aber. Was machst du hier? Ich verstehe nicht. Wo sind deine Freunde?“
Karlotta schaute ihn verächtlich an. Leichenblass war sie. Bis ins Mark erschüttert war sie. Was das sei? Krächzte sie. Sie habe keine Worte. Sprachlos sei sie. Wie er so etwas machen könne? Sowas Abscheuliches. Nie habe sie gedacht, dass er zu so etwas fähig sei. Sie habe ein Monster geheiratet. Ein Scheusal.
Lange schon hege sie einen Verdacht. Die ständigen Reisen. Die ständigen Besuche im Waldhaus. Diese ständige Geheimnistuerei.
Angewidert blickte sie im Raum umher. Betrübt folgte Bert ihrem Blick, vorbei an den riesigen Kühlschränken, Gefriertruhen, Töpfen und Messern bis hinauf zu den schweren Eisenhaken an der Decke, von der sie baumelten:
Die geräucherten Schinken, Salamistangen und anderes fleischlastiges Gehänge.
V3, 9797z
© Irmi Feldman, 2025