Von Christiane Labusga

Der kleine Junge hatte sein Holzpferd bis zur Tür galoppieren lassen und setzte sich nun im Schneidersitz davor. Siebenmal so hoch wie er selbst, musste er den Kopf in den Nacken legen, um sie bis zum oberen Rahmen betrachten zu können.

Es schien ihm, als hörte er Wörter, Stimmen, ja sogar seinen Namen, und als käme durch den Schlitz unter der Tür Licht und hin und wieder ein Schatten.

Gebannt steckte er den Kopf des Holzpferdchens in seinen Mund und lutschte daran, bis er einschlief. Die Stimmen, so fremd und doch so vertraut, hatten ihn eingelullt.

 

Als er etwas älter war, war er überzeugt, dass hinter der Tür seine Eltern lebten. Denn andere Kinder hatten Eltern, er nur eine Großmutter. Er versuchte fast jeden Tag, die Tür zu öffnen, aber sie war verschlossen. Oft rief er dann nach Mutter und Vater, aber es kam keine Antwort. Lediglich beim Einschlafen war ihm manchmal, als flüstere seine Mutter leise seinen Namen.

 

An seinem zwölften Geburtstag rief ihn die Großmutter an den Küchentisch. Vor ihr lagen ausgebreitet eine Traueranzeige, Unfallberichte.

„Finn, du bist jetzt alt genug, dass ich dir von deinen Eltern erzählen kann. Sie sind beide vor 10 Jahren gestorben. Es war eine eiskalte Januarnacht, in einer Kurve kam ein ihnen entgegen fahrendes Auto auf der vereisten Straße ins Schleudern und hat den Wagen deiner Eltern gerammt. Sie sind beide sofort tot gewesen.“

Die Großmutter zog Finn, der wie gelähmt vor Schreck war, auf ihren Schoß.

„Wenn du nicht gewesen wärst, wäre ich damals an dem Schmerz um meine liebe Tochter, deine Mutter, gestorben. Sie hat dich sehr geliebt. Lass uns heute auf den Friedhof an ihr Grab gehen!“

Auf dem Doppelgrab standen nur die Vornamen seiner Eltern und das Todesdatum. Finn hatte lange schon nicht mehr nach den Eltern gerufen, hatte sich daran gewöhnt, dass sie nicht da waren. Heute konnte er zum ersten Mal um sie weinen. Die Großmutter legte beschützend ihren Arm um seine Schultern. Nein, einsam war er nicht gewesen, dank ihr.

 

Als er noch ein wenig älter und ein großer Fantasy-Fan wurde (wie alle in seiner Klasse), belagerte er seine Großmutter fast täglich, sie möge ihm den Schlüssel für die große Tür mitten im Haus geben. Nach seinen Berechnungen konnte dahinter ja nur eine gemauerte Wand sein, was also sollte sie verbergen, außer das Tor zu einer anderen Welt? Und das wollte er mit seinen Freunden zu Halloween durchschreiten. Aber die Großmutter nickte nur, ja, da war eine Wand, und einen Schlüssel gäbe es nicht.

 

Finn zog zum Studium fort, bekam einen gutbezahlten Job in einem andern Bundesland, und als die Großmutter nicht mehr allein leben konnte, holte er sie in ein Pflegeheim in seiner Nähe. Doch die Großmutter verfiel immer mehr, trotz seiner täglichen Besuche, und schließlich kam der Tag, an dem ihm nur noch ihre private Habe überreicht wurde. 

Er packte gerade das kleine Schmuckkästchen in den Koffer, als die Stationsschwester ihn zur Rezeption rief: „Die Polizei, etwas ist mit dem Haus Ihrer Großmutter passiert.“ Sie überreichte ihm den Hörer.

Gerade in der Nacht, als die Großmutter gestorben war, war auch ein Brand in ihrem alten Häuschen ausgebrochen. Möglicherweise Vandalismus oder Fahrlässigkeit von Jugendlichen, die sich dort in den Wintermonaten herumtrieben, seit die Großmutter nicht mehr dort wohnte. Bis auf die Grundfesten abgebrannt, es war nichts mehr zu retten, das Feuer war zu spät bemerkt worden. Es galt nur noch, eine Ausbreitung zu verhindern. Er solle Ende der nächsten Woche vorbeikommen, dann würden sie ihm das Protokoll für die Versicherung aushändigen können.

 

Als Finn wieder zuhause war, nahm er sich ihren Koffer noch einmal vor. Man hatte ihn gebeten, ein Kleid für die Aufbahrung herauszusuchen. Auch das Schmuckkästchen betrachtete er jetzt eingehend.  Darin waren nur die alte Flussperlenkette, die sollte auch mit zur Aufbahrung, und ein großer Schlüssel.

Die Reite des ungewöhnlich großen Schlüssels war mit einer Krone verziert, die genau so aussah wie die Krone am Beschlag der großen Tür mitten in Großmutters Haus.

„Also hat sie doch einen Schlüssel gehabt!“

 

Nach der Beerdigung fuhr Finn zurück in seine Heimatstadt. Tatsächlich war das Feuer von einem Lagerfeuer ausgegangen, das Jugendliche nach einer Party nicht ordentlich gelöscht hatten. Es waren auch schon einige Namen ermittelt worden. Finn erhielt ein Aktenzeichen für die Versicherung.

„Sie können gerne zum Brandplatz, der ist gesichert und die Spuren sind sämtlich aufgenommen. Nehmen Sie in Ruhe Abschied, Sie sollen dort ja auch selbst einmal gewohnt haben.“

 

Finn parkt vor der Einfahrt, nimmt den überwucherten Fußweg zum Haus, den er als Junge so oft gegangen ist. Dann steht er vor dem Brandplatz. Kein Stein, nichts ist mehr übrig geblieben. Nur in der Mitte die hohe Tür. Leicht geschwärzt, mehr hat ihr das Feuer nicht anhaben können.

 

Finn tastet nach dem Schlüssel in den hinteren Hosentaschen seiner Jeans. Er wollte ihn dem Haus zurückgeben, hatte ihn ohne Nachzudenken mitgenommen. Jetzt weiß er, warum.

 

Über die kalte Asche geht er zur Tür, legt den Kopf in den Nacken. Die Tür scheint immer noch so viel größer als er selbst zu sein, als wäre sie gewachsen, seit er nicht mehr im Haus wohnt.

 

Er schiebt den Schlüssel in das Schlüsselloch, dreht ihn, ohne Widerstand bewegt sich der Mechanismus. Finn legt die Hand an den Türgriff, senkt ihn langsam und öffnet die Tür.

 

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