Von Michael Kothe

Verschwörerisch steckten Harald, Gesine und Rod die Köpfe zusammen, wobei Rod seinen erst einmal mit vor Schreck geweiteten Augen zurückzog. Gesines Gabel war seinem Gesicht gefährlich nahe gekommen. Noch immer fuchtelte sie mit dem Werkzeug herum.

»Ihr könnt euch nicht vorstellen, was ich heute entdeckt habe! Als Strafarbeit hatte ich die Küche zu putzen und …«

»Als Strafarbeit?« Harald kicherte ungeniert. »Was hast du denn verbockt?«

»Einen exquisiten Nachtisch wollte ich zaubern, verwechselte aber Zucker mit Salz. Also, ich wische da die Küche und brauche noch etwas. Beim Suchen stoße ich auf eine Tür, die ich nicht auf bekam.« Ihre Stimme war nur noch ein Hauch. »Dahinter hörte ich Stimmen, und durch die Ritzen waberte Licht.«

»Mmh, mhh.« Die Aufsicht im Speisesaal räusperte sich. »Lümmelt euch nicht so auf der Bank! Setzt euch gerade hin!«

Ärgerliches Brummen der drei quittierte den Anpfiff, und sie verschoben weitere Gespräche auf den Nachmittag nach der Unterrichtsstunde über magische Selbstverteidigung. Es war nach den Ferien ihr erster Schultag im „Hofrath’s“. So nannten die Internatsschüler die „Akademie Hofrath für angewandte Magie und Hauswirtschaft“, die den Namen ihres Begründers und Betreibers trug. Gesines Entdeckung wäre nur eines der Themen, über die sie sich austauschen wollten. Dass ein Ereignis des ersten Unterrichtstages ihre Ferienerlebnisse in den Schatten stellen würde, ahnten sie nicht.

 

Rod kratzte sich im Ohr, dann streichelte er Glatze, seinen fast haarlosen Hamster. Wobei er – sich sichernd umsehend, ob es auch ja keiner seiner Freunde bemerkte – etwas Schmalz an den wenigen Fellinseln abstreifte. Glatze verkraftete das, war er doch ein magisches Haustier, von denen jeder Schüler Hofraths eines besaß. Im Stillen beneidete Rod seinen Freund Harald Töpfer, hatte der doch eine Fledermaus, die nachts »Huhu« zu rufen pflegte. Und Glatze konnte nicht fliegen!

»Wie kommen wir ungesehen in die Küche?«

Wie Harald und Gesine war Rod begierig auf ein Abenteuer. Doch weder antworteten die beiden noch sahen sie zu ihm herüber. Er wiederholte seine Frage.

»Wie kommen wir ungesehen in die Küche?«

Gesine wusste Rat.

»Wir klettern über die Feuerleitern. Ist ganz einfach.«

Harald grinste breit.

»Nee! Du vergisst, dass sie verzaubert sind und immer die Richtung ändern.«

»Verzaubert nicht.« Gelangweilt gähnte Gesine. »Sie sind nur drehbar, und weil sie über Jahre hinweg niemand gewartet hat, sind sie lose und pendeln unkontrollierbar in alle Richtungen. Aber du hast recht. Es mag länger dauern. Wir sollten unmittelbar nach dem Unterricht aufbrechen.«

 

Der Nachmittag zog sich wie Kaugummi. Nur die Unterweisung in magischer Selbstverteidigung als letzte Stunde war kürzer und aufregender als beabsichtigt

Harald behielt ein dichtes Büschel schwarzer Nasenhaare zurück. Seinen Zauberstab hatte er verkehrt herum gehalten, und sein Übungspartner kehrte den Angriffszauber auf ihn um.

Rod in der ihm eigenen Schusseligkeit sprach seinen Verteidigungszauber »Fuge posthac – fliehe hinfort!« falsch aus. Mit »Fimum pasthoc!« sorgte er für ein schnelles Ende der Unterrichtsstunde. Panisch hasteten alle aus dem Raum und ließen einen verdatterten Rod zurück, den der Lehrer sofort zum Saubermachen verdonnerte.

Einzig Gesine blieb von magischen Nebenwirkungen verschont, wenn man von ihrer plötzlich ausgedehnten Oberweite absah. »Für eine Zwölfjährige entschieden zu viel!«, befand sie und zog den Pullover ihrer Schuluniform etwas höher, so dass er blusiger wirkte. Dennoch wünschte sie ihrem Übungspartner die Krätze an den Hals.

 

Es dämmerte, als Harald, Gesine und Rod durch Flure und Treppenhäuser schlichen. 

Harald schluckte trocken, als er Gesine ins Mädchenklo folgte. »Wie peinlich«, dachte er, »wenn mich jemand sähe! Ein Artikel in der „Daily Brochure“, Großbritanniens größter Zauberzeitschrift, wäre mir sicher.« Zum Glück war der Flur menschenleer. Doch im Vorraum gefror ihm das Blut: In einer offenen Kabine stand mit weit aufgerissenen Augen die Jaulende Dörte! Ihr Maulen und Klagen verstummten, sie öffnete den Mund und holte tief Luft für einen Schrei, der sicherlich alle Bewohner Hofraths aufschrecken ließe. 

Rechtzeitig presste Gesine der Jaulenden Dörte die Hand auf den Mund.

»Psst! Hab dich nicht so, wir müssen nur hier durch. Wir habe Hunger«, log sie, »und vom Flur her ist die Küche verschlossen. Wir müssen über die Feuerleiter vorm Fenster.«

Dörte wand sich los, ihr Mund zog sich breit zu einem Lächeln, und mit strahlenden Augen besah sie Harald vom Scheitel bis zum Schritt. 

»Wenn du öfter hier reinschaust, würde ich mich freuen.«

»Nix da!«, fuhr Gesine dazwischen, »du machst ihn mir nicht abspenstig!«

Mittlerweile hatte Rod das Fenster geöffnet und sich auf die pendelnde Feuerleiter gehangelt. Reglos verharrte er – den Blick starr nach unten gerichtet. »Wenn ich hier falle, lande ich genau auf der Schlagenden Buche. Die bricht mir alle Knochen im Leib. – Au, was soll das?«

Panisch blickte er auf seine Fingerknöchel, die vom krampfhaften Festhalten weiß hervortraten und auf denen nun reliefartig ein Waffelmuster prangte. Gerade hob sich Haralds Stiefelette über Rods Hand nach oben.

»‘tschuldigung! War abgerutscht.«

Behände schwang sich Gesine aus dem Fenster. Überrascht schaute sie nach unten, als sie Rod jammern hörte.

»Wehe, du schaust mir unter den …« Abrupt vergaß sie ihre Warnung, als sie seinen flehenden Gesichtsausdruck erkannte. »Ach was, komm, ich zieh dich hoch.«

Kaum hatte sie Rods Hand ergriffen, setzte ihr Atem aus, und beinahe hätte sie losgelassen. Gegen das Quietschen wollte sie sich die Ohren zuhalten. Beide. Gestürzt wären vielleicht weder sie noch Rod, denn über ihr löste sich die Leiter aus der Wand und klappte scheppernd nach unten. Nun war es Rod, der Gesine nach oben zog, wo eine andere Feuerleiter von der Seite zu ihnen schwenkte. Auf Zickzackwegen kletterten sie Harald nach.

Wenig später hockten die drei auf dem Fenstersims, mit einer Hand umklammerten sie noch die letzte Sprosse. Das Küchenfenster war verschlossen, ihnen stand die Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben.

Haralds Brustkorb bebte, die Nasenhaare zitterten, seinen Lachanfall bekam er kaum in den Griff. »Sesam … Sesam, öffne dich!« Seine Worte begleiteten schwungvolle Linien, die sein Zauberstab in die Luft malte. Das Fenster schwang auf.

Überrascht blickte Rod auf Harald.

»Wie konntest du … Woher wusstest du …?ׂ

»Schau doch mal auf die Scheibe, was dort eingeätzt steht!«

»Meinst du „Sesam-Sicherheitsglas“?«

Harald schloss die Augen und seufzte. Seine Stimme klang müde. »Rod, du bist so …« Den Satz ließ er unvollendet und schwang sich in die Küche. Rod folgte, und beide reichten Gesine die Hand. Doch sie stolperte und fiel der Länge nach hin. Insgeheim lachte sie. »Zum Glück nun gut gepolstert!«

 

Halbdunkel herrschte in der Küche. 

Heftig schlug Gesine Rod den Zauberstab aus der Hand, als er damit wedelte und »Flamma ardeat!« rief.

»Willst du die Hütte abfackeln?« Gezeter in hohen Tönen erscholl aus einer Ecke. »Was treibt ihr hier überhaupt um diese Zeit, ihr Gesindel?«

Harald ging in die Hocke, so war er mit dem Sprecher auf Augenhöhe.

»Poppy«, beruhigte er den Gnom, »ich bin’s, Harald. Wir wollen den verschlossenen Raum erkunden.«

»Den verschlossenen …«. Zu Tode erschrocken presste der Gnom die Hand vor den Mund. »Ihr wollt wirklich in die Abstellkammer des Schreckens? Da müsst ihr am Torwächter, dem dreiköpfigen Pegasus, vorbei! Lieber verschwinde ich. Geht mir aus dem Weg, ihr Verlorenen!«

Verstört sahen sich die drei an, als sie die Küchentür hinter Poppy ins Schloss schlagen hörten.

Rod fand als Erster seine Fassung wieder.

»Die Abstellkammer des Schreckens? Was für ein Blödsinn! Wer hat das bloß dem Zwerg eingeredet?«

»Gnom«, korrigierte ihn Harald, »wer hat das bloß dem Gnom eingeredet?«

»Alter Besserwisser! Hört auf zu streiten!« Gesine zog ihre Freunde am Ärmel. »Die verschlossene Tür ist dort hinten.«

»Von Sesam steht hier nichts.« Rod hatte die Tür untersucht und richtete sich vor Harald auf. »Was nun?«

Gesine war Poppy nachgelaufen und kehrte zurück. Sie beugte sich zur Tür, fummelte etwas ins Schloss, was Harald und Rod nicht erkannten, da sie ihnen den Rücken zukehrte. Gesine drehte sich um.

»Heureka!« Es klang wie ein Siegesruf, und triumphierend hielt sie den beiden einen Schlüssel entgegen. »Der von der Küchentür. Er passt!«

Ein Knarren füllte den Raum, die Angeln waren rostig, und die Vibrationen übertrugen sich aufs Türblatt.

»Er hatte recht«, flüsterte Gesine.

Dennoch hatte es der Pegasus gehört. Eingezwängt zwischen Regalen mit Putzmitteln, Geschirr und Eingemachtem drehte er sich um, und jedes seiner Gesichter fokussierte auf einen der Zauberlehrlinge. Eisig waren seine Blicke, und seine Augen begannen hellblau zu leuchten.

»Er friert uns ein!« Rod klang weinerlich.

Behände zog Harald seinen Zauberstab. Fünf Augenpaare richteten sich auf ihn. Er täuschte einen Ausfallschritt an, im Schwung ließ er sich fallen und rutschte hinter den Pegasus. Sich aufzurichten und ihm die Spitze des Zauberstabs in die Flanken zu drücken, war eine einzige fließende Bewegung.

»Lass uns durch, Untier! Und schweig!«, befahl er und winkte seine Kameraden am Torwächter vorbei auf seine Seite. Die Türe hinter ihm war nur zwei Schritte entfernt.

Rod hob den Zauberstab, doch Gesine fuhr dazwischen.

»Lass mich erst mal probieren!«

Sie drückte die Klinke und schob die Tür auf. Lichtblitze stoben in den Abstellraum und zuckten um sie herum, Donner drückte sie nieder, Rauch quoll in die Kammer und raubte ihnen den Atem. Sogar der Pegasus hustete.

Schlagartig wurde es still. Mehrere Personen drehten sich zu Harald, Gesine und Rod um. Aus einem Klappsessel, auf dessen Lehne „Regie“ stand, erhob sich ein Mann, ging auf die drei zu und rief über seine Schulter: »Schickt die Stümper von Schauspielern nach Hause! Die hier sehen authentischer aus.«

 

V2 – 9860 Zeichen