Von Sonja Gröhler
Jeden Tag kam ich mehrmals an ihr vorbei. Sie lag direkt neben meinem Zimmereingang. Die verschlossene Eisentür im Souterrain unseres Einfamilienhauses.
„Papa, was ist da für ein Raum hinter der Tür?“, hatte ich meinen Vater schon gefragt, als ich gerade erst in den Kindergarten kam.
„Das geht Dich nichts an. Dieses Zimmer ist für Dich verboten.“ Dann schwieg ich, weil mein Vater aus heiterem Himmel recht jähzornig sein konnte, und es dann Schläge hagelte. Das passierte ohne ersichtlichen Grund fast jede Woche, und ich hatte dann immer einige Tage lang blaue Flecke.
Dennoch machte seine Reaktion das verbotene Zimmer immer interessanter für mich. Wenn mein Vater nicht da war, verweilte ich häufig an der Tür und lauschte. Aber kein Geräusch drang nach außen. Auch durch das Sicherheitsschloss konnte man nicht hindurch in den Raum gucken.
Ich musste einfach wissen, was hinter dieser Tür verborgen war. Es wurde zu einer fixen Idee. Mittlerweile ging ich in die erste Klasse. Ich begann, nach meiner Rückkehr aus der Schule heimlich die Schubladen und Schränke im Schlafzimmer zu durchsuchen. Ich fasste in jede Hosentasche und Jackentasche, an die ich herankam.
Dann eines Tages ertastete ich einen harten Gegenstand. Endlich. Diese Jacke trug mein Vater gestern. Das musste der Schlüssel sein. Schnell holte ich ihn heraus und steckte ihn in meine Hosentasche. Ich lauschte auf die Geräusche aus der Küche und schlich wieder in Richtung meines Zimmers.
Leise, jedes Geräusch vermeidend, steckte ich den Schlüssel in das Türschloss des verbotenen Raums. Er passte und ließ sich problemlos im Schloss drehen. Ich öffnete vorsichtig die Tür. Drinnen war es dunkel. Ich tastete nach dem Lichtschalter. Da war er. Eine Lampe mit drei Strahlern spendete fahles gelbes Licht.
Ich sah, dass es keine Fenster gab. Links von mir erspähte ich eine Toilette und eine Duschkabine. Rechts stand ein Schreibtisch, ein Spind und daneben ein breites Bett darauf setzte sich gerade eine junge Frau in blauem Pyjama auf und blinzelte mich an. Offenbar hatte sie geschlafen. Auf ihrer Wange prangte ein großer blauer Fleck.
„Wer bist Du? Was machst Du hier?“, fragte ich sie. Doch statt zu antworten, sprang sie auf und schloss leise die Tür hinter mir. Dann sagte sie: „So, jetzt kann uns keiner hören. Bist Du allein? Oder kommt er auch gleich?“
„Wen meinst Du? Papa? Nein der ist noch außer Haus, arbeiten.“ Sie schien aufzuatmen. „Und seine Mutter?“ Sprach sie von meiner Mutter? Wieso seine Mutter? „Mama? Die kocht Essen.“
„Dann schnell, wir müssen hier raus.“ Hastig schlüpfte sie in eine verwaschene, ausgefranste Jeans und zog einen verfilzten Pullover an.
„Wer bist Du?“, wiederholte ich. „Warum müssen wir hier raus?“
„Erklär ich Dir später. Du kannst Nadja zu mir sagen. Komm schnell.“
Sie zog mich an der Hand hinter sich her. Im Hausflur hörte ich meine Mutters Stimme: „Franz, Essen ist gleich fertig. Du willst doch jetzt nicht weggehen?“
Das Herz pochte mir vor Schreck bis zum Halse. Einen Moment zögerte ich. Sollte ich wirklich mit Nadja mitgehen? Doch dann siegte meine Neugier, und ich antwortete: „Ja, Mutter. Ich geh nur mal kurz nach nebenan zu Paul. Das hab‘ ich ihm vorhin in der Schule versprochen.“
„Mach aber schnell!“. Die Mutter schöpfte zum Glück keinen Verdacht. Der Nachbarsjunge Paul und ich verstanden uns sehr gut und trafen uns, wann immer es möglich war, auch wenn wir nur wenig Zeit hatten.
Schnell griff ich mir meine Jacke und rannte raus. Nadja huschte hinter mir her, und ich schloss leise die Haustür. Noch immer umklammerte sie meine Hand.
Wir liefen ein paar Meter weiter zur belebten Kreuzung. Dort sprach Nadja Passanten an: „Ich bin entführt worden und wurde lange gefangen gehalten. Bitte helfen Sie mir und bringen mich zur Polizei.“ Das angesprochene Pärchen musterte uns von oben bis unten. Sie schienen Nadja nicht zu glauben. Der Mann zog seine Freundin weiter, und ich hört, wie er zu ihr sagte: „Spinnerin.“
Ich fragte mich, was Nadja damit meinte. Hatte mein Vater etwas damit zu tun? Nun steuerte Nadja auf eine Frau zu. Die jedoch blickte stur von uns weg zu Boden und machte einen Bogen um uns. Sie schien uns für Bettler zu halten.
„Wir müssen schnell zur Polizei, ehe er uns hier sieht und wieder zurückbringt. Kennst Du eine nette Nachbarin, die wir ansprechen können?“
Ich deutete auf ein weißes Haus an der nächsten Ecke. „Dort wohnt Frau Schneider. Die ist echt nett. Sie hat mir schon öfter Bonbons geschenkt.“ Gleichzeitig dachte ich, dass Frau Schneider mir bestimmt auch raten könnte, wie ich mich verhalten sollte. Sofort zog mich Nadja dorthin und klingelte an der Haustür. Frau Schneider öffnete. „Hallo Franz. Schön, Dich zu sehen. Wen hast Du denn mitgebracht?“
Nadja sprudelte sofort los: „Bitte Frau Schneider, helfen Sie mir. Ich muss zur Polizei.“ Ihre Stimme zitterte. Frau Schneider sah sie mit prüfendem Blick an. „Kommt erstmal rein.“ Freundlich lächelnd führte sie uns in die Wohnküche und bot uns zu trinken an. „Nun erzählt mal in Ruhe.“
„Ich bin Nadja. Vor acht Jahren, kurz nach meinem elften Geburtstag, wurde ich auf dem Schulweg in ein Auto gezerrt. Seitdem wurde ich eingesperrt und gefangen gehalten. Der Mann, der mich entführt hat, sagte: „Wenn Du alles tust, was ich will, und nett zu mir bist, dann geschieht Dir nichts. Dann bin ich auch nett zu Dir.“
„Natürlich habe ich mich damals gewehrt, geweint und geschrien, aber er wurde immer wütender und schlug mich, riss mir die Kleidung vom Leib und war sehr brutal zu mir.“ Die Tränen liefen über Nadjas Gesicht. Frau Schneider nahm sie tröstend in den Arm. Nach einer Weile löste sie sich und griff zum Telefon. „Ja, Polizeistation Mitte? Bitte kommen Sie dringend vorbei.“ Sie schilderte kurz die Situation.
Ich saß daneben und wusste nicht, was ich sagen sollte. Da merkte ich wie Nadja mich liebevoll anblickte und den Arm um mich legte: „Franz, mit 13 habe ich ein Kind geboren. Man sagte mir, es sei gestorben. Aber ich glaube, Du bist mein Sohn.“
In Anlehnung an die Geschichte von Natascha Kampusch und andere Entführungen