Von Christian Günther
»Wagen EZ-10-14 und E-10-03, für Zentrale?«
»’n Großeinsatz?«, murmelte ich, bevor ich den Ruf bestätigte. »EZ-10-14, Fengler hört?«
Die uniformierte Kollegin Lena folgte umgehend. Judith und ich hatten gleichzeitig mit ihr und ihrem Partner Michael Nachtschicht.
»Vermisstenfall«, teilte Frau Roesner aus der Zentrale mit, »im Sonnenlicht-Altenheim! Melder ist der Nachtdienstmitarbeiter der Station ‚Grün’.«
»Schon widda?« Lena sprach gern aus, was sie spontan dachte. »Warum laufen denen immer de Leute davon? Jetzt sogar nachts.«
»Das ist mir leider unbekannt, Frau Frommholdt. Bei dem mittleren Kontrollgang gegen ein Uhr ist aufgefallen, dass Herr Gramberg abgängig ist. Demenziell verändert, Diabetiker und hat als Medikation Blutverdünner. Sie und das zivile Duo Reiter/Fengler sind für die Suche vor Ort in der Einrichtung eingeteilt. Schauen Sie als Erstes, ob es ein Foto von dem Bewohner gibt, und leiten es weiter für die Kollegen, die draußen suchen, plus weitere Informationen?«
»E-10-03, Frommholdt verstanden! Bild, weitere Infos.«
»EZ-10-14, Fengler verstanden! Fahren ebenfalls zur Einrichtung für Suche vor Ort. Adresse bekannt.«
Abhängig von der Ausprägung der Demenz konnte der Bewohner eine Gefahr für sich und andere darstellen. Zum Beispiel durch zielloses Umherirren und situatives Missverstehen. Wie er bekleidet war, war uns unbekannt, im ungünstigsten Falle nur mit einem Schlafanzug. Ein niedriger oder erhöhter Zucker konnte den Diabeter in ein Koma fallen lassen oder ein Stürzen gefährliche Blutungen, äußerlich wie innerlich, hervorrufen.
*
»Wir gehn nach oben auffe andere Station«, beschloss Judith nach kurzer Absprache vor Ort mit dem Pfleger. Der Bewohner wohnte im ersten Stockwerk, mit dem zweiten zur Station ‚Grün’ gehörend. Etage drei und vier bildeten Station ‚Blau’. In solch einem Falle musste das komplette Haus durchsucht werden. Zimmer für Zimmer, während draußen parallel Ausschau gehalten wurde. Er konnte die Einrichtung verlassen haben, es musste jedoch nicht so sein.
Für die nächste Zeit hatten Judith und ich es mit Schwester Ann-Sophia-Christine zu tun. Eine sehr schlanke und durchgestylte Erscheinung mit dunklen Haaren, genervt wirkend von der zusätzlichen Arbeit. Sie musste uns bei der Tour durch alle Räume begleiten, da sie einen Generalschlüssel besaß. Manche Zimmer waren unverschlossen, manche nicht. Selbst in diese abgeriegelten wurde hineingeschaut. Mochten sie jetzt bei uns vor Ort unzugänglich sein, war es nicht gesichert, dass dieses bereits zum noch unbekannten Zeitpunkt des Weglaufens der Fall war.
»Die Bewohnerin ist im Krankenhaus, da kann er nicht sein«, erklärte die Schwester.
»Öffnen Se bitte de Tür«, bat ich. »Dat is Vorschrift, in jedes Zimmer zu sehen. Wir müssen definitiv ausschließen, dat der nich mehr im Haus is.«
Sie verdrehte die Augen und schloss auf.
Mit ihrem Taschenlämpchen betrat Judith das Zimmer und leuchtete hinein, auf das Bett und in das Bad. »Leer!«
»Ja, wie zu erwarten«, meinte die Schwester.
Unsere Handys vibrierten. Ich suchte meines hervor, sah auf das von Lena verschickte Bild des Bewohners und zeigte es Judith. Gleichzeitig gab die uniformierte Kollegin über Funk eine Adresse durch. Dort hatte Herr Gramberg zuletzt vor seinem Einzug vor einem Monat in die Einrichtung gelebt. Keine fünf Minuten von hier. Als abschließende Information erfolgte der letzte Bewohnerkontakt, der gegen zirka zweiundzwanzig Uhr gewesen sei beim ersten Kontrollgang. Das bedeutete, dass der Bewohner erst vor Kurzem, aber ebenso bereits vor drei Stunden weggegangen sein konnte.
Das nächste Zimmer war unverschlossen. Leise trat ich ein und hörte Atemgeräusche. Mit meinem Lämpchen suchte ich das Bett. Nein, das war eine Frau, die dort lag.
Die nun hochschreckte! »Polizei«, beruhigte ich. »Keine Sorge, nix Schlimmes!«
»Ist wieder jemand weg?«, fragte die ältere Dame.
»Jau! Ich seh nur noch ins Bad. Gute Nacht!«
»Viel Erfolg!«
Judith nahm das Zimmer gegenüber in Augenschein und deutete mit Kopfschütteln das Ergebnis an.
Ich stand erneut vor einer verschlossenen Tür. »Im KH?«
»Sie lernen schnell, Herr Kommissar.«
Nach dem Aufschließen inspizierte ich das Zimmer. Wie erwartet leer, vor dem Bett lag eine helle Matte, die ich von Judiths sturzgefährdeter Omma Irmi kannte. Sie war mit der Schelle verbunden, die beim Aufstehen, also beim Betreten auslöste.
»Nach Sturz im KH?«, vermutete ich.
»Wollen Sie nicht in die Pflege wechseln? Sie besitzen vorzügliche Kenntnisse für diesen Beruf. Wir haben riesigen Personalmangel und können helfende Hände gebrauchen.«
*
»Nun nach ganz oben.« Judith öffnete die Tür zum Treppenhaus, nachdem wir den langen Gang der Dritten abgearbeitet hatten. Während wir die Stufen eilig hinaufstiegen, folgte die Pflegerin mit gemächlichen Schritten.
Aus dem ersten Zimmer der Vierten drangen seltsame Klappergeräusche und ein Stöhnen nach draußen. Ich tauschte einen verwunderten Blick mit Judith. Auf dem Schild neben der Tür stand ‚Notfallzimmer’.
»Wie bei Omma im Heim«, war sich Judith sicher. »’n zusätzlicher Raum, wenn bei ’nem Doppelzimmer jemand ’ne Infektion hat und isoliert werden muss, oder wenn ’n Zimmernachbar verstirbt, dat der zweite nich in ’em selben Zimmer mit ’ner Leiche schlafen müsste. Ham se uns gezeigt, als et mit ’em sofortigen Einzelzimmer vonne Omma noch nich feststand.«
War Herr Gramberg dort drinnen? Auf der Suche nach dem eigenen in das falsche Zimmer auf anderer Station gelangt? Womöglich gestürzt, deshalb stöhnend und mit dem Klappern um Hilfe suchend? Ich wollte die Tür öffnen, doch sie war verschlossen. Wie war er da hineingekommen?
Die Schwester trat auf den Flur.
»Öffnen Se bitte diese Tür«, bat Judith.
»Das kann ich nicht.«
»Warum nich?«
»Das ist kein Bewohnerzimmer. Für das hab ich keinen Schlüssel, nur die Leitung kann dort hinein. Was weiß ich, was die dort deponieren, oder den Raum zur Übernachtung nutzen, wenn der Tag einmal lang wird? Hat Gründe, dass wir dort nicht …«
»Labern Se kei’n Tinnef«, unterbrach Judith sie energisch. »Ich weiß, wat ’n Notfallzimmer is. Dat is nix Besonderes, wie Sie mir dat weismachen wollen.«
»Wollen Sie in die Pflege wechseln?«
»Nee! Sie zu de Polente, vielleicht? Wir hörn, dat da jemand drinne is. Aber nich Ihre Leitung! Ham Se den Bewohner da versteckt, weil wir nix Besseres zu tun ham, als Vermisste nachts zu suchen? Sie und Ihr Kollege? Ham Se Langeweile? Dat is Missbrauch det Notrufs! Da sind Se dran mit ’ner Geldstrafe oder ’ner Freiheitsstrafe.«
Die Schwester biss sich nun auf die Lippen.
Judith klopfte laut vor die Tür. »Hallo, öffnen Se, bitte?«
»Dat Einsperren«, ergänzte ich, »is zudem Freiheitsberaubung. Sind noch ’n paar Jährken mehr als de falsche Notruf.«
Die Pflegerin wurde blass. Niemand öffnete die Tür.
Ich hielt ihr die Hand hin. »Geben Se mir ’en Schlüssel!«
»Dürfen Sie das?«
»Gefahr im Verzug, ja!«
Sie zögerte.
»Wird et bald?«, setzte Judith nach.
Die Pflegerin war den Tränen nah.
»Wagen EZ-10-14 und E-10-03«, hörten wir im Ohr über Funk. »Entwarnung! Herr Gramberg ist gefunden, am Stauwehr in Kettwig. Kollegen bringen ihn zurück in die Einrichtung.«
Während Judith die Meldung bestätigte, nahm ich der Pflegerin den Schlüssel aus der zitternden Hand. Was erwartete uns in dem Zimmer, wenn nicht Herr Gramberg?
*
Fassungslos betrachtete ich drei Bewohnerinnen: Zwei auf flachen Matratzen auf dem Boden, eine in einem Bett. Feste fixiert mit einem Gurt! Sie war diejenige, die für das Klappern sorgte, weil sie sich daraus zu befreien versuchte. Mit weit geöffneten Augen, zu reden schien sie nicht mehr, im Gegensatz zur zweiten. Diese hatte ein Klebeband auf dem Mund und war für das Stöhnen verantwortlich. Trotz großer geschlossener Vorlage glich die Matratze mit nässeabweisendem Bezug unter ihr einem See. Es roch penetrant nach Urin. Bei der dritten konnte ich keine Regung sehen, sie lag da wie betäubt, sodass ich sicherheitshalber einen Rettungswagen anforderte. Aus eigener Kraft aus der tiefen Liegeposition aufstehen konnten die letzten beiden sicher nicht.
»Ist das Ihr Krankenhaus hier?«, fragte ich schluckend.
Die eiligst herbeigeeilte Lena, deren Freundin ebenfalls pflegerisch tätig war, fasste sich mit beiden Händen schockiert vor den Kopf. »Dit glaub ick nüscht!« Sie stieß mit ihrem Fuß vor einen Rollstuhl, das mutmaßliche Beförderungsmittel. »Die Zeiten inne Pflege sind heftig, aber dit hier, et so zu lösen, dit geht gar nüscht! Ham die alten Menschen keine Würde bei Ihnen? Man sollt Sie …« Sie winkte ab und beugte sich zur Bewusstlosen herunter. »Hat sicher ’ne zwei- oder dreifache Menge von ’em Erlaubten von ’nem Beruhigungsmittel gekriegt.«
»Sie sind vorläufig festgenommen.« Judith legte Ann-Sophia-Christine Handschellen um. »Aussagen müssen Se jetzt keine machen und ham dat Recht auf ’nen Anwalt. Et besteht de Verdacht auf Freiheitsberaubung und auf Misshandlung von Schutzbefohlenen. ’ne Überdosierung ’nes Medikaments gilt dazu als ’ne gefährliche Körperverletzung.«
Die Pflegerin brach völlig in Tränen aus. »Ich kann einfach nicht mehr, will nicht mehr! Eine hat ständig ihre Füße auf der Klingelmatte, die andere muss ständig auf Toilette, und die dritte wirft mit Gegenständen nach mir, schlägt dazu und schimpft mich aus. Ich will einfach meine Ruhe, nicht diese nervenden Weibsbilder!«
»Ruhe«, prognostizierte ich, »die werden Sie bald für längere Zeit ham. Dessen bin ich mir sicher! Da können Se über vieles nachdenken. In dem Beruf treffen wir Se definitiv nich mehr an. Dafür is nich jede oder jeder geeignet. In schwierigen Situationen adäquat zu handeln, Stress hin oder her. Viele können dat, leisten geradezu Übermenschliches. Tag für Tag oder Nacht für Nacht, trotz Personalnot. Sie nicht!«
»Nachtdienst«, fügte Lena hinzu, »dit heißt nüscht: Tür auf, gucken, ob ’ne Person noch lebt, und Tür wieder zu, und den Rest vonne Schicht dann Freizeit genießen. Ick kümmer mich hier, Judith und Nick. Schafft Ihr mir die … diese Möchtegernekraft ausse Augen?«
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