Von Maria Monte

Gerne besuchte ich meine Großeltern mütterlicherseits. In meiner frühesten Kindheit kamen mir die beiden Alten schon asbach uralt vor. Nun ja, sie hatten einen Krieg erlebt, Opa erlitt als letzte Kampfreserve einen Beinschuss. Seitdem humpelte er, stützte sich auf einen Stock. Oma hielt zu ihm, gemeinsam bauten sie sich eine neue Existenz auf. Ihr Kolonialwarenladen an der Ecke eines Mietshauses aus den Gründerjahren versorgte lange Zeit die umliegenden Straßen mit dem Notwendigsten. Opa beschaffte alles, Oma stand hinter dem Ladentisch, wog und schnitt und wickelte die Waren in Zeitungspapier ein. Sie zauberte aus diesem sogar Tüten, die sie mit Mehl, Zucker und anderen Lebensmitteln füllte. Abends zählte sie die Bezugsmarken und das Geld. Ab und an durfte ich Oma beim Kleben der Marken helfen. Ich erinnere mich an ein schmales Bürozimmer, das eine halbe Treppe höher hinter dem Laden lag. Daran schloss sich die kleine Einliegerwohnung an, in der sie lebten. Opa schleppte tagein tagaus Säcke, Kannen, Flaschen und schmierte abends sein krankes Bein mit stinkenden Salben ein. Dann ereilte die Beiden eine Reform, die das Selbstständigsein abschaffen wollte. Sie hätten ihren Krämerladen an die HO oder den Konsum abgeben müssen. Das traf die Beiden schwer.

Zufällig wurde eine Paterrewohnung im gegenüberliegenden Mietshaus frei. Da ihnen damals nur zwei Zimmer zustanden, die Wohnung aber über fünf Zimmer verfügte, nahmen sie sich einen Untermieter. Opa bezog eine Invalidenrente und es gab einen Garten, der sie versorgte und beschäftigte.

Als ich sie nach dem Umzug das erste Mal wieder besuchen durfte, gab es viel zu erkunden. Der Flur alleine maß zehn Meter, lockte so zum Rollerfahren und später zum Rollschuhlaufen. Am hinteren Ende lag das Badezimmer, links und rechts fügten sich die zwei Zimmer des sehr interessanten Untermieters an. Wenn ich vor dem Schlafengehen an die rechte schwere Flügeltür klopfen und das Zimmer betreten durfte, befand ich mich in einer anderen Welt. Dieser Dr. Elze arbeitete im Leipziger Zoo als Tierarzt und konnte wunderbare Geschichten aus seiner Tätigkeit erzählen. Dazu legte ich mich auf das kuschelige Löwenfell mit Kopf, kraulte die Löwenmähne und lauschte den Erzählungen.

Links schloss sich ein Zimmer mit einer kleineren Tür an, wir nannten es Kammer. Sicher diente es vor einiger Zeit dem Dienstmädchen als Stube. Diese Kammer war stets abgeschlossen und durfte von keinem betreten werden. Wenn der Opa nach dem Frühstück aufstand, sich auf seinen Stock stützte und kundtat: „Ich gehe dann mal bis zum Mittagessen in die Kammer“, verdrehte die Oma zwar die Augen, aber Opa lud keinen von uns zum Mitkommen ein.

Natürlich beflügelte diese Geheimniskrämerei meine Phantasie. Was verbarg sich hinter der kleinen Tür? Warum durfte selbst die Oma nie dort hinein? Was tat der Opa in den Morgenstunden dort?

Manchmal brachte er der Oma ein kleines Geschenk aus der Kammer mit. Mal war es eine Waschseife, mal eine Packung Streichhölzer mit der merkwürdigen Beschriftung: Friedensware. Zur Mittagszeit durfte ich dem Opa durch Klopfzeichen kundtun, dass das Essen fertig wäre. Wenn er dann die Tür langsam öffnete, nur einen kleinen Spalt breit und sich durchzwängte, roch ich begierig die fremden Düfte. Ein Hauch von Orient, etwas seifig und muffig, dazu kaffeehaltiger Blechgeruch erreichten meine Nase. Mit seinem Stock schob er mich mürrisch beiseite. „Das ist mein Reich, hier hat keiner was zu suchen“, brubbelte er dann noch.

Die ganze Wohnung barg ein nicht gekanntes Geheimnis. Hohe, breite Flügeltüren aus dickem Holz verbanden die großen Zimmer. Die Großeltern hatten schwere Vorhänge angebracht, um die Wärme der Kachelöfen zu halten und auch die Geräusche zu dämmen. Versteckspielen ließ es sich hier besonders gut, die dunklen Ecken überall riefen ein Kribbeln in der Magengegend hervor. In Omas Speisekammer standen Regale voll gefüllt mit Eingewecktem und selbstgemachter Marmelade. Das war ihr Refugium, hier ließ sie den Opa nicht zu. Manchmal roch es nach abgehängtem Schinken und gebackenen Plätzchen, dazu nach Schuhcreme und Muckefuck-Kaffee. Oma war Sparen gewöhnt, sie hütete ihre Vorräte.

Diese geheimnisvolle Wohnung habe ich für mich als Märchenwelt in Erinnerung. Manchmal, wenn Opa das Haus verließ, klinkte ich auch mal an der verbotenen Kammertür. Das Schlüsselloch hatte der alte Herr schon lange mit Zeitungspapier zugestopft. Ich lauschte und schnüffelte und lugte dann eine Weile im Flur um die Kammertür herum und stellte mir einen Frachtraum im Bug eines Segelschiffes vor oder auch eine Zauberkammer mit Wunderlampen und anderem alten Gerät.

Viel später, ich war schon ein junges Mädchen und Opa sah in mir seine bereits verstorbene Tochter, nahm er mich in seine Kammer mit. Das war eine Auszeichnung und Ehre für mich, mir blieb die Luft weg. Mit angehaltenem Atem durchschritt ich die kleine Tür und blieb gleich hinter der Schwelle stehen. Links und rechts stapelten sich auf Regalen und alten Schränken Erinnerungsstücke aus dem Kolonialwarenladen. Dazwischen Blechbüchsen, Pappkartons, Schilder und haltbare Friedensware. Ein Hauch von Kaufmannsladen und Antiquitätengeschäft umfing mich. Vieles durfte ich in die Hand nehmen und bewundern. Einiges gab mir der Opa als Mitbringsel für die Heimfahrt mit. Ich erinnere mich, dass wir noch jahrelang zum Anzünden unserer Kerzen Opas Streichhölzer benutzten. Meist zündete nur noch jedes fünfte davon. Aber wir hielten sie in Ehren.

 

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