Von Annette Müller
Das Bürogebäude im neunten Stock liegt im Dunkeln. Nur das schwache Surren der Klimaanlage und das gelegentliche Klicken einer Tastatur durchbrechen die Stille. Die meisten Mitarbeiter sind nach Hause gegangen und die langen, leeren Gänge sind von einer angenehmen Ruhe erfüllt.
Anna sitzt noch an ihrem Schreibtisch und geht die Unterlagen ihres Mandanten zum zehnten Mal durch. Einen Kaufvertrag für eine Hotelanlage im Süden. Sie streicht Paragrafen, fasst Absätze zusammen, feilt an einzelnen Formulierungen. Warum brummen sie ihr ständig die komplizierten Fälle auf? Um ihre Fähigkeiten zu testen? Herauszufinden, wie belastbar sie ist? Ihr Kopf dröhnt. Würde es nach der Probezeit besser? Ihr Blick geht zur Bahnhofsuhr an der Wand: 22:17 Uhr. Um diese Zeit hat Robert gegessen. Jetzt liegt er auf dem Sofa und guckt Instagram vor dem eingeschalteten Fernseher. Sie gähnt. Also wenn sie die Akte Burkhardt heute noch zu Ende bringen soll, dann braucht sie jetzt einen Kaffee. Die Cafeteria ist geschlossen, aber oben im 14. Stock gibt es einen Kaffeeautomaten. Die braune Brühe schmeckt zwar nach Spülwasser, aber das Koffein wird ihr guttun. Sie speichert den Entwurf ab und steht auf.
Auch im 14. Stock ist es still. Aber die Lichter brennen noch. Der Wachmann schaltet die Nachtbeleuchtung erst nach Mitternacht ab. Und um 5:00 Uhr am Morgen wieder ein. Es gibt genug Verrückte, die um diese Zeit ins Büro kommen. Auf einmal flackert das Licht im Gang. Schon wieder eine Stromunterbrechung? In letzter Zeit ist dies beinah jeden zweiten Abend geschehen. Ein merkwürdiges Gefühl breitet sich in ihr aus. Anna schüttelt den Kopf. Sie muss sich sputen. Der Kaffeeautomat ist am Ende des Ganges. Gegenüber dem verbotenen Raum. Dem „Raum ohne Rückkehr“ wie ihn manche Kollegen nennen. Warum eigentlich? Aus irgendeinem Grund sorgt dieser Raum für Angst und Schrecken unter den Mitarbeitern. Dabei ist es nur ein Abstellraum, ein Archiv, in dem die Unterlagen der Firma aufbewahrt werden. Jedenfalls hat ihr Chef das so erklärt. Sie geht zum Automaten, schaltet ihn ein. Und während sie darauf wartet, dass die Maschine sich warmläuft, betrachtet sie sich im Spiegel über dem Automaten: Das ist sie, eine junge blasse Frau mit erschöpften Augen. Geröteten Augen. Sie streckt sich selbst die Zunge heraus. Verdammt nochmal! Zum vierten Mal in dieser Woche wird sie erst nach Mitternacht zu Hause sein. Wie lange soll das noch so gehen? Ihr Blick geht zur Tür gegenüber. „Betreten verboten“, steht dort. Sie zuckt mit den Schultern. Warum sollte es verboten sein, ein Archiv zu betreten? Was ist denn geheimnisvoll an einem Archiv? Sie greift nach dem Pappbecher. Vielleicht gibt es im Archiv Unterlagen über ihren Klienten Burkhard, die ihr die Arbeit erleichtern würden? Dann könnte sie den Vertrag rasch fertigstellen und endlich nach Hause gehen. Nachdenklich nippt sie an ihrem Kaffee. Oder es gibt in dem verbotenen Raum sensible Informationen über das Unternehmen … neben den harmlosen Unterlagen auch schmutzige Akten? Informationen, die ihr in Zukunft nützlich sein könnten? Ob die Tür wohl abgeschlossen ist?
Erst letzte Woche hat sie mit ihren Kollegen in der Mittagspause über den verbotenen Raum gesprochen. „Hast du von dem Raum Nr. 1417 gehört?“ fragte Michael, ihr Kollege aus der Abteilung für IT.
„Ist das nicht dieses Büro, das immer geschlossen bleibt?“
„Ja. Geh da nicht rein.“
„Warum? Es ist doch nur ein Archiv?“
„Hör zu“, sagte Michael leise, „die Kollegen, die den verbotenen Raum betreten haben, sind nie wieder herausgekommen. Einige Kollegen aus dem 14. Stock sagen, sie würden manchmal Stimmen hören. Und hätten seltsame Dinge gesehen. Dinge, die niemand sehen sollte.“
„Was denn für seltsame Dinge?“
Michael legte einen Zeigefinger auf seinen Mund. „Erfolg hat seinen Preis, Anna.“ Er beugte seinen massiven Oberkörper weit über den Tisch. „Geh da nicht rein – es ist ein gefährlicher Raum.“
Anna warf Michael einen belustigten Blick zu. Eine graue Strähne war ihm in die Stirn gefallen. „Okay, okay.“
Wahrscheinlich waren es nur Geschichten. Gerüchte, die verbreiten wurde, damit niemand die Ordnung des Raumes störte. Michael hatte man ihr von Anfang an die Seite gestellt, damit sie sich an die Regeln hielt. Vermutlich wollte er sie aufziehen. Bei passender Gelegenheit würde sie einmal einen Blick in den Raum 1417 werfen.
Jetzt steht Anna mit einem Kaffeebecher vor der verbotenen Tür. Schlagartig ist sie wach. Sie starrt die Tür an. Nein, schallt es in ihrem Inneren. Du wirst sowieso nichts Interessantes finden und verlierst noch mehr Zeit. Sie macht sich auf den Rückweg, Ihre Schritte hallen auf dem Linoleumboden wider. Vor dem Lift bleibt sie stehen und tippelt von einem Fuß auf den anderen. Und dann wie von unsichtbaren Kräften gezogen, geht sie zurück. Zurück zum verbotenen Raum. Drückt auf die Türklinke. Die Tür öffnet sich mit einem leisen Quietschen. Dunkelheit. Der Raum ist völlig verlassen. Kein Licht, keine Geräusche, nur sehr kalt.
Anna bleibt stehen und lässt ihren Blick durch den Raum schweifen. Ein quadratischer Raum, mit weißen Wänden, teppichlos. In der Mitte des Raumes steht ein alter Computer auf einem verstaubten Schreibtisch.
Sie schließt die Tür hinter sich und geht mit langsamen Schritten auf den Schreibtisch zu. Der Computer springt an, als sie die Maus bewegt. Der Bildschirm flackert, und sie setzt sich auf den Stuhl.
„Anna“ erscheint auf dem Bildschirm.
„Was… was ist das?“
„Für den Fall, dass du diesen Raum betrittst. Die Geheimnisse, die hier verborgen sind, können deinen Verstand zermürben. Wenn du weiterliest, wirst du nicht mehr dieselbe sein.“
Anna fühlt ein kaltes Ziehen in ihrem Inneren, aber sie kann den Blick nicht von den flimmernden Buchstaben abwenden. Sie setzt den Kaffeebecher auf dem verstaubten Tisch ab. Ihr Herz schlägt schneller, als der Text sich verändert.
„Anna“
„Ja… was soll das heißen?“
Sie legt einen Schalter an der Konsole um und der Bildschirm färbt sich rot, beginnt sich zu verändern. Er beginnt zu pulsieren, ihr ist, als ob ihr Blut abgezapft würde und es in den Computer fließe.
Der Bildschirm verändert sich, verzerrt sich. Die Buchstaben beginnen zu verschwimmen, Symbole erscheinen und verschwinden, als würden sie in einem unaufhörlichen Tanz durch den Bildschirm wirbeln. Eine seltsame, unverständliche Sprache füllt den Raum, als ob der Computer selbst lebendig geworden wäre.
Plötzlich ertönt hinter ihr ein Flüstern – leise, kaum hörbar, aber so eindeutig, dass es nicht ignoriert werden kann. Und auf einmal versteht sie die Worte:
„Du stellst zu viele Fragen, Anna. Du hast den verbotenen Raum betreten. Nun gehörst du zu uns. Du wirst alles über die Firma wissen.“
Anna dreht sich ruckartig um. Ihre Augen weiten sich, aber der Raum hinter ihr ist leer. Ihre Atmung geht schneller, Schweißperlen bilden sich auf ihrer Stirn. Schwerfällig steht sie auf, rennt zur Tür und will sie öffnen. Doch der Türgriff lässt sich nicht nach unten drücken. Immer wieder versucht sie den Griff nach unten zu bewegen. Sie beginnt an die Tür zu hämmern. „Ich… ich will raus!“ Die Tür bleibt verschlossen. Mit aller Kraft zieht sie an dem Griff, aber es passiert nichts. „Hallo … hallo, hört mich jemand? Hilfe!“
Ihre Hände zittern, die Wände scheinen sich zu bewegen. Das Flüstern wird lauter, füllt den Raum. „Es gibt kein Entkommen. Du bist hier. Du wirst nie wieder gehen.“
Der Raum beginnt sich zu verändern, die Wände ziehen sich zusammen, die Luft wird dichter. Der Bildschirm des Computers flimmert jetzt in einem grellen, schmerzhaften Licht. Auf dem Bildschirm ziehen die Worte in ruckartigem Tempo vorbei.
„Willkommen. Du wirst nie wieder gehen.“ Die Wände rücken näher, der Sauerstoff wird weniger. Voller Entsetzen liest sie weiter. Dann fällt sie zu Boden, ihre Augen starren den Bildschirm an, als würde er sie in seinen Bann ziehen. Ihr Körper erstarrt. Ihre Gedanken verschwimmen. Ihre Schreie verhallen, bevor sie überhaupt die Luft erreicht hat. Die Luft ist still, aber der Raum lebt. Dunkelheit.
Am nächsten Tag ist alles wieder normal. Eine unauffällige Tür am Ende des Ganges im 14. Stock, vor der niemand stehen bleibt. Der Raum ohne Rückkehr bleibt verschlossen. Michael geht an der Tür vorbei. Er wirft einen kurzen Blick auf das Schild: „Betreten verboten“. Unwillkürlich verengen sich seine Augen. Dann zuckt er mit den Schultern und geht weiter. Heute Morgen war Anna nicht in der Kaffeepause. Ist sie krank? Arme Anna. In den letzten Wochen hat sie viel zu viele Überstunden gemacht.
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