Von Katrin Thelen
Verstohlen strich Irmi mit einer schnellen Bewegung die Falten aus der Tischdecke. Sie hatte sich bemüht, einen ansehnlichen Kaffeetisch zu decken. „Nett muss es aussehen“ hatte ihre Tochter sie ermahnt, und Irmi hatte versucht, sich bestmöglich daran zu erinnern, wie man so etwas machte. Lange war hier niemand zu Gast gewesen. Doch heute Nachmittag würden neben Irmi direkt vier Menschen an ihrem Tisch Platz nehmen.
Irmis rotfleckiges Gesicht und ihre fahrigen Bewegungen verrieten ihre Anspannung, obgleich sie auch dankbar für diesen Termin war. Ihre Tochter Marie vereinbarte das Treffen mit Herrn Schmidt, dem Bankberater, und Frau Schätzlein, der Immobilienmaklerin. Zusammen mit Irmi, Marie und deren Mann saßen sie nun am Wohnzimmertisch, Eiche rustikal, Massivholz, rund. Ecken waren schlecht für das Karma versicherte ihnen der Verkäufer damals glaubhaft. Seither hatte es ihnen gereicht, nur eine einzige ihrer vorherigen Tischdecken von einer eckigen auf eine runde Form umnähen zu lassen, aber die war mit goldenen Engeln bestickt. Deshalb lieh sich Irmi heute eine Mitteldecke mit Punktemuster von ihrer Tochter und platzierte die Decke als Farbkleks auf der Tischmitte.
Nur, wenn sie ihre Wohnung tatsächlich verkaufen könnte, hätte sie ausreichend Kapital, sich in das Seniorenwohnheim einzumieten, das ganz in der Nähe ihrer Tochter und deren Familie errichtet worden war. Vom heutigen Tag hing viel für sie ab. Zu ihrem Unglück ließ sich eine Falte nicht vollständig aus der Decke entfernen, egal, wie oft sie mit den Händen darüberfuhr.
Der Banker deutete ihre Gesten als Nervosität einer alten Dame. „Dann haben wir alle Unterlagen der zu veräußernden Immobilen versammelt, alle Eckdaten sind bekannt. Ich sehe keine Schwierigkeit, sie schnell und zu einem guten Preis auf den Markt bringen zu können.“ Fast gönnerhaft fügte er an die Maklerin gewandt hinzu: „Frau Webers Zukunftsplänen steht realistisch nichts im Weg, da würde ich mich festlegen. Sehen sie das auch so, Frau Schätzlein?“
Die Unterlagen durchblätternd nickte die Angesprochene. „Ja. Zusammenfassend geht es hier um eine teilmodernisierte Erdgeschosswohnung eines Mehrfamilienhauses in guter Wohnlage mit dreieinhalb Raum…“
„Viereinhalb“, unterbrach sie der bis zu diesem Zeitpunkt schweigende Schwiegersohn.
Irmi schnappte hörbar nach Luft. Sie sah ihn an und meinte für einen kurzen Moment in seinen Augen etwas blitzen zu sehen, das sie erinnerte an das Gefühl des Trumpfes der letzten Spielkarte, die alles veränderte.
„Bitte?“ Frau Schätzlein schaute verwirrt zu Sven. „Erläutern Sie das!“, forderte auch der Bankberater den Schwiegersohn auf.
Sven leckte sich die Lippen wie ein hungriger Wolf kurz vor seinem Leckerbissen. Oder ging Irmis Fantasie mit ihr durch?
„Sven! Ich bitte dich! Das gehört jetzt nicht hier her!“, zischte sie ungewöhnlich bestimmt. Marie hatte seit Beginn des Wortwechsels beschämt zu Boden geblickt, doch jetzt hob sie den Kopf: „Doch, Mama, das gehört genau hier her. Du möchtest doch die Wohnung verkaufen, richtig? Um in unserer Nähe zu leben, bei deinen Enkeln. Du weißt, dass das nur mit dem Kapital aus dieser Wohnung möglich ist, und damit meine ich die ganze Wohnung. Du musst keinen Raum mehr verstecken und auch kein Geheimnis mehr hüten. Es ist endlich vorbei. Ich bitte dich, ziehe einen Schlussstrich!“
Irmis Gesicht war weiß wie eine frischgestrichene Wand, ihre Lippen fest zusammengepresst, ein roter fehlerhafter Pinselstrich. Alle Augen lagen auf ihr, manche bittend, andere fragend, Svens lugten siegessicher, glaubte Irmi.
Als hätte jemand die letzte Tapetenschicht von der Wand gekratzt, zerbröselte Irmis in Jahrzehnten erbaute Mauer des Schweigens. Sie begann stockend:
„Wir waren jung und verliebt, als wir hier einzogen, dein Vater und ich, Marie. Wir hatten viele Pläne, auch mit dir dann in unserer Mitte. Ich weiß, du erinnerst dich nicht, aber dein Vater war damals ein anderer Mensch als der, den du kanntest. Lebenslustig und optimistisch, sorgenfrei und freundlich zu jedermann. Besuch ging bei uns ein und aus, ja, da staunst du. Onkel Theo, Papas älterer Bruder, kam oft und übernachtete im Gästezimmer. Auch an jenem Abend hatte ich ihm sein Bett schon bezogen. Wie das bei den Brüdern so ist, haben sie sich einen über den Durst getrunken und gerieten später über eine Belanglosigkeit in Streit. Sie brüllten herum und sagten sich schlimme Sachen. Theo konnte, betrunken wie er war, so spät am Abend nirgendwo mehr hin und verzog sich laut Türe knallend ins Gästezimmer.“
Irmis Blick glitt wie ferngesteuert durch das Wohnzimmer und blieb an der Tür mitten auf der Wohnzimmerwand stehen, die fast nicht zu sehen war. Sie hatte keine Klinke und war sorgsam in die sonstige Wanddeko integriert. Sie war verziert mit Fotos aus Maries Kindheit, einem Trockenblumenstrauß aus besseren Tagen und mehreren Kinderzeichnungen mit buntem Tesafilm an allen Ecken. Mittig über dem in Wandfarbe gestrichenem Türrahmen wachte ein Kruzifix, das mit viel zu großen Haken an der Wand befestigt war.
„Durch den Ruck des Türknalls fiel damals dieses Kreuz zu Boden. Wieso haben wir dieses Zeichen damals nicht verstanden?“ Ratlos blickte Irmi in eine Runde mit von gebannten Gesichtern. Ein weiteres Mal erhielt sie auf eine der wichtigsten Fragen ihres Lebens keine Antwort. Seufzend fuhr sie fort:
„In der Nacht rollte grollend ein fürchterliches Unwetter heran. Donner folgte auf Blitz und umgekehrt, der Wind rüttelte an den Rollläden und pfiff lautstark durch jede Ritze. Er pfiff! Versteht ihr nicht, was das heißt? Es war ein Zeichen! Georg, dein Vater, fand seinen Bruder am nächsten Morgen tot im Gästezimmer. Der Wandspiegel im Zimmer war in Fragmente zersplittert und Theo lag mit verdrehten Augen und schwarzen Händen am Boden. Der Blitz hatte ihn getroffen, wohl, als er den Lichtschalter betätigt hatte. In diesen Nachkriegsjahren war ja nichts isoliert worden und Reparaturen wurden selten von Fachleuten durchgeführt. Dein Vater war untröstlich und gab sich an allem die Schuld: am Streit, der fehlenden Stromabsicherung, dem Unfall, vermutlich selbst an dem Gewitter. Fast wäre er daran zerbrochen und wir, seine kleine Familie, gleich mit ihm. Doch eines Nachmittages kam er heim und etwas war anders an ihm. Er war bei Rose gewesen, Theos Frau. Ich kannte sie kaum, nur vor deiner Geburt legte sie mir einmal die Karten, das konnte sie. Papa begann ohne weitere Erklärungen das Zimmer, so wie es war, für immer zu verschließen. Er war sicher, dass auf dem Raum ein Fluch lag, und ich vertraute ihm. Nie wieder durften wir den Raum betreten, sonst würde der Fluch uns ebenfalls treffen. Es war kein Zufall, dass das Kreuz von der Wand gefallen und der Spiegel zerbrochen war. Plötzlich konnten wir sie sehen, die schwarze Magie, die uns überall umgab. Die tote Spinne, deren Bedeutung uns vorher entgangen war, ebenso die stehengebliebene Uhr an der Wand, die vor dem Kriegsneubau noch ein Fenster gehabt hatte. Der Raum war endlich gründlich verschlossen und Vater ging es von Tag zu Tag besser. Besuch hatte wir fast keinen mehr, niemals mehr über Nacht. Das dunkle Geheimnis hinter unserer Tür konnte niemanden mehr gefährden, nie wieder. Die Maßnahmen, die dein Vater ergriffen hatte, waren die einzig richtigen. Ich unterstützte ihn nach Kräften und hielt die Augen offen nach Zeichen, die nur richtig gedeutet werden mussten. Schlich die schwarze Katze des Nachbarn durch den Hausflur, durftest du nicht draußen spielen, das ist ja klar. Saß eine Krähe unten im Kirschbaum, blieb an diesem Tag die Küche kalt, die Gefahr eines Brandes war viel zu groß. Als du das Salzfässchen umgestoßen hattest, beauftragten wir zur Sicherheit eine Reinigungsfirma. Seither ist kein Krümel Salz mehr in dieser Wohnung gewesen. Mit Erfolg, wie du siehst, denn kein widernatürliches Unheil ist uns seit diesem rabenschwarzen Unglückstag widerfahren. Dein Vater konnte am Ende seines Lebens in Frieden einschlafen. Jetzt lag alles auf meinen Schultern.“
„Kein Unheil“, knurrte Sven verächtlich, „naja, die ungesalzenen Speisen waren nur ein kleines Übel. Nichts jedenfalls gegen die unkontrollierten Wutausbrüche, ging ein Teller zu Bruch oder lag die Zeitung links statt rechts neben dem Frühstücksomelett.“
Er konnte sich sehr gut an die cholerischen Wutanfälle seines Schwiegervaters erinnern und auch daran, wie sehr Marie zeitlebens darunter gelitten hatte. Sie hatte es ihm in stillen Stunden flüsternd gestanden.
„Dieser Aberglaube hat sein Leben bestimmt und deines gleich mit, aber einmal muss damit Schluss sein. An jedem Dreizehnten eines Monats nimmt Marie sich frei, aus Angst, das Haus zu verlassen. Wo soll das hinführen?“
Entschlossen stand er auf. „Ich werde das jetzt beenden.“ Er ging zum Schränkchen neben der Tür, öffnete mit lautem Quietschen die unterste Schublade und holte daraus eine Türklinke hervor. Er nahm das Bild von Maries Einschulung von der Wand unterhalb des Kruzifixes und machte sich am Türbeschlag zu schaffen.
Polternd fiel ein Stuhl um. Irmi stand zitternd in der Mitte des Raumes.
„Das wagst du nicht!“ schrie sie hysterisch. Ihr Körper gehorchte ihr nicht. Wie gelähmt beobachtete sie, wie Sven die Klinke an ihren alten Platz steckte. Er drückte sie herunter, doch die Tür öffnet sich nicht. In diese Stille hinein, die sich wie Nebel auf alles und jeden in diesem Raum gelegt hatte, sagte Marie fast tonlos: „Der Schlüssel liegt in dem gelben Porzellanhasen neben dir.“
Als Svens linke Hand nach dem Hasen griff, fiel Irmis Starre von ihr ab. Ihr schlimmster Albtraum wurde Wirklichkeit. Der Teufel war ihr dicht auf den Fersen, sie spürte schon seinen Atem.
Ihr „Nein!“ hallte noch von den Wänden und in den Ohren aller, als sie bereits aus der Wohnung gerannt war, behände, wie es ihr niemand zugetraut hätte, sie selbst am wenigsten. Die Gesellschaft im Zimmer schwieg unschlüssig, auch Sven verharrte, mit dem Schlüssel in der Hand.
Draußen auf der Straße quietschten Bremsen gefolgt von dem Geräusch eines dumpfen Aufpralls.
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