Von Ina Rieder
An jenem späten Nachmittag im Dezember erhob sich der Nebel sanft über dem Inn, als ob er aus dem Wasser selbst geboren worden wäre. Mit der Zeit wurden die Schwaden dichter, stiegen höher, umhüllten die Ufer und die umliegenden Bäume in Dunst. Meine Schritte hallten rhythmisch auf dem Asphalt. Jeder erzeugte ein leises Echo. Die klare Luft und die sanften Geräusche beim Gehen schufen beinahe eine meditative Atmosphäre, die mich tief durchatmen ließ. Weit und breit schien keine Menschenseele zu sein.
Doch dann sah ich eine Frau mit einem etwa acht Jahre alten Mädchen. Die Kleine trug eine Jeans, darüber einen Mantel. Ihre braunen Locken, die unter ihrer Mütze hervorlugten, wippten im Takt ihrer Bewegungen. Sie hielt die Hand ihrer Mutter und ihr helles Lachen berührte mein Herz. Sie erinnerte mich sofort an mich selbst in diesem Alter. Eine Ewigkeit schien zwischen damals und heute zu liegen. Mindestens 50 Jahre.
Meine Mundwinkel zogen sich sanft nach oben und gleichzeitig stieg eine quälende Unruhe in mir auf. Eine alte, längst vergessene Erinnerung drängte sich langsam in mein Bewusstsein. Eine, die ich tief in meiner Seele vergraben hatte. Das kleine Mädchen hatte einen verbotenen Raum in mir aufgestoßen, ein längst vergessenes Zimmer, das niemand außer mir selbst bisher je betreten hatte. Die Gefühle und Bilder, die so abrupt hervorbrachen, waren überwältigend.
Eine unsichtbare Hand schien mein Inneres zusammenzupressen. Die Atmung wurde flach und unregelmäßig und ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Die Erinnerung, die ich so lange verdrängt hatte, brach mit voller Wucht hervor und ließ mich erzittern. Panik breitete sich in mir aus, meine Gedanken wirr und fahrig. Ich blieb stehen, ging in die Hocke, umarmte mich selbst und wippte dabei vor und zurück, wie eines dieser Stehaufmännchen.
***
Zurück in die Vergangenheit katapultiert, sah ich mich selbst als Neunjährige durch den Wald streifen. Ich war die Letzte in einer kleinen Gruppe von Kindern, angeführt von Lina, einem Mädchen mit einem selbstbewussten Auftreten und einer Vorliebe dafür, alles besser zu wissen. Sie ging voran, ihre Schritte fest und entschlossen, während wir anderen ihr folgten. Die Bäume wirkten damals groß und geheimnisvoll, ihre Äste bildeten ein dichtes Dach über unseren Köpfen. Ich hörte das Rascheln der Blätter unter meinen Füßen und roch den Duft von feuchtem Moos und Erde. Unsere hellen Stimmen hallten zwischen den Bäumen wider.
In meiner Erinnerung war ich voller Neugier und Abenteuerlust, doch auch ängstlich. Jeder Schatten und jedes Geräusch ließen mein Herz ein wenig schneller schlagen. Nach einer Weile blieb Lina stehen und die Gruppe kam ins Stocken. Sie drehte sich zu uns um und stemmte ihre Hände in die Hüften. Wir schauten sie erwartungsvoll an.
„Ich habe eine Idee!“, sagte sie, machte eine Pause und fuhr dann fort: „Lasst uns zur verlassenen Burg gehen. Das wird ein Abenteuer!”
Es blieb merkwürdig still. Niemand traute sich, etwas zu erwidern. Es kribbelte in meinem Bauch und meine Hände schwitzten. Ich nahm all meinen Mut zusammen.
„Lina, wir dürfen da nicht hin!“, sprudelte es aus mir heraus.
„Ach, was! Dort ist es bestimmt nicht so gefährlich, wie unsere Eltern es immer behaupten. Du bist doch nur feige!”
„Nein, bin ich nicht! Aber ich habe es meiner Mutter fest versprochen. Was, wenn etwas passiert?”
„Du machst dir immer zu viele Sorgen. Nichts wird geschehen. Außerdem, wer wird es schon erfahren, wenn wir nichts sagen und vorsichtig sind?”
„Es gibt aber doch genug Orte, wo wir spielen können.“
„Dann geh doch nach Hause, du Spielverderberin. Wir anderen gehen zur Burg.”
Lina drehte sich um und die Gruppe folgte ihr hörig. Ich blieb allein zurück. Wut stieg in sanften Wellen in mir hoch. Plötzlich kamen all die kleinen Gemeinheiten, die ich von Lina schon erfahren hatte, wieder in mein Gedächtnis. Ich erinnerte mich an die Male, als sie mich vor den anderen Kindern bloßstellte, an ihre spöttischen Bemerkungen und an die Situationen, in denen sie mich absichtlich ausgeschlossen hatte.
Diese Erinnerungen verstärkten meine Wut. Es war nicht nur der aktuelle Streit, sondern eine Ansammlung von vielen kleinen Verletzungen, die sich über die Zeit angesammelt hatten. Mein Herz schlug schneller, und ich ballte die Fäuste, während ich versuchte, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten.
***
Langsam fand ich den Weg zurück. Die intensiven Erinnerungen und der aufsteigende Zorn verblassten allmählich, und ich wurde mir meiner Umgebung wieder bewusst. Ich saß immer noch in der Hocke und umarmte mich selbst, als ob ich mich vor der Vergangenheit und ihren Auswirkungen schützen musste. Die kühle Abendluft und das leise Rauschen des Flusses halfen mir, mich zu beruhigen.
Ich atmete tief ein und aus, spürte, wie mein Herzschlag sich langsam wieder normalisierte. Die Panik wich einer Erschöpfung, und ich ließ die Arme sinken. Der Nebel um mich herum wirkte jetzt weniger bedrohlich und mehr wie ein sanfter Schleier, der mich umhüllte und tröstete. Ich richtete mich auf, setze einen Fuß vor den anderen und ging weiter. Die Beine schwer wie Blei, aber ich zwang mich, vorwärtszugehen. Ohne bewusst darüber nachzudenken, steuerte ich auf das Haus meiner Mutter zu, das sich am Waldrand befand. Der vertraute Weg gab mir ein Gefühl von Sicherheit und Trost.
Mittlerweile verschluckte die Nacht die Bäume am Wegesrand. Als ich vor dem Zuhause meiner Kindheit stand, fiel ein Stein von meinem Herzen. Ich betätigte die alte Glocke und kurz darauf öffnete Mutter die Tür. Ihre Augen weiteten sich. Ohne zu zögern, nahm sie mich liebevoll in den Arm, und ich ließ meinen Tränen freien Lauf. Es gab niemanden, der mich besser kannte. Sie bat mich nach drinnen und ich setzte mich in die warme Stube. Geduldig nahm sie neben mir Platz, faltete ihre Hände, legte sie in ihren Schoss und wartete. Allein ihre Gegenwart beruhigte mich.
„Es … es ist einfach alles zu viel. Die Erinnerungen, die Gefühle … ich konnte es nicht mehr zurückhalten“, begann ich stockend.
„Beruhige dich erst einmal. Atme tief durch. Was ist passiert?”
„Ich hatte heute ein Flashback. Die Sache mit Lina damals …”
„Das ist schon so lange her. Niemand hätte das verhindern können!”
Ihre beruhigende Stimme und ihre liebevolle Umarmung bewirkten, dass ich endlich loslassen und mich öffnen konnte. Die Tränen flossen in Strömen, ich schluckte und schniefte und es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich wieder etwas sagen konnte.
„Mama, ich stehe wieder in diesem verbotenen Raum, der ganz tief in meinem Bewusstsein vergraben war, und der nun wieder offensteht und betreten werden kann!“
„Liebling, was meinst du?“
***
Damals an jenem schicksalsträchtigen Tag folgte ich der Gruppe heimlich zur Burg. Vorsichtig und leise schlich ich hinter ihnen her.
Am verbotenen Ort angekommen, sah ich, im Schatten der alten Mauern, ihrem Treiben eine Weile zu. Lina kommandierte wie immer die anderen herum. Schließlich zerstreute sich die Gruppe, nur sie blieb zurück, stand irgendwann allein am Rand des alten Brunnen und starrte in die Tiefe. Sie wirkte ein wenig verloren, ganz anders als die selbstbewusste Anführerin, die ich kannte. Einen kurzen Moment dachte ich, dass es ein Leichtes wäre, ihr einen kleinen Schubs zu geben, doch dann zuckte ich innerlich vor Scham zusammen.
Ein Waldkauz, der in der Baumkrone eines nahegelegenen Eichenbaums saß, stieß plötzlich auf mich herab. Ich erschrak und schrie. Lina zuckte zusammen. Ihr Fuß rutschte auf dem feuchten Rand des Brunnens aus, sie verlor das Gleichgewicht und stürzte hinein. Ich rannte sofort zu ihr und blickte nach unten.
“Bist du in Ordnung?“, schrie ich panisch.
Das Echo meiner Stimme hallte von den feuchten Wänden des Brunnens. Unten sah ich Lina, wie sie verdreht am Boden lag.
Mein Herz raste und die Gedanken überschlugen sich. Was sollte ich tun? Die Sekunden verstrichen, und ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Getrieben von einer Mischung aus Verzweiflung und Angst, drehte ich mich um und rannte los.
Als ich zu Hause ankam, schlich ich mich ins Haus. Ich verzog mich in mein Zimmer, zog die Tür hinter mir zu und lehnte mich dagegen. Mein Herz hämmerte wild in meiner Brust. ‚Hoffentlich hat mich niemand gesehen!‘
„Ich war da! Verstehst du, Mama, und ich habe nichts gemacht. Vielleicht wäre sie noch am Leben, wenn ich etwas gesagt hätte!“
Meine Mutter strich mir sanft über den Kopf.
„Es war ein schrecklicher Unfall damals. Du warst ein Kind, überfordert mit der Situation. Der Fall wurde damals genau untersucht und es hieß, Lina war sofort tot. Niemand hätte mehr etwas für sie tun können!”
Eine Last fiel von mir. Die Worte meiner Mutter gaben mir Trost. Die Schuld war zwar nicht verschwunden, aber sie war leichter geworden, erträglicher. Ich fühlte mich plötzlich frei, als ob ich aus einem dunklen Raum ins Licht getreten wäre. Die Welt schien heller und freundlicher.
V3 8.886