Von Thomas Gärtner
Es war nicht verboten, dort zu übernachten. Nicht wirklich. Sondern höchstens ein bisschen, wenn überhaupt.
Gut, für die Verbotsartigkeit von Zimmer 13 sprach, dass es abgeschlossen war und auf der Tür mit schwarzen, zittrigen Lettern stand: „Nicht eintreten! Auf gar keinen Fall eintreten!!!“
Drei Rufzeichen. Das brachte schon eine gewisse Dringlichkeit zum Ausdruck.
Auf der anderen Seite gab es aber auch Tage, an denen die Tür sogar einen Spalt offen stand. Tage, an denen sich das Zimmer betont harmlos gab und mit Sprüchen wie „Warum nicht?“ und „Alles gut!“ aufwartete.
Wer immer da auch auf- und zuschloss und die Texte an der Tür auswechselte – das Hotelpersonal war es bestimmt nicht. Das zumindest versicherte man mir glaubhaft. Und ich habe gutes Trinkgeld eingesetzt, um dies in Erfahrung zu bringen.
Wenn ich vorher gewusst hätte, dass es in diesem Hotel ein Zimmer 13 gab, so hätte ich es spaßeshalber gemietet. Schon allein, weil ich im Internet eine satirische Website über Aberglauben betreibe und dann einen tollen Aufhänger für eine schlagkräftige Story gehabt hätte:
„Ich buchte Zimmer 13 für volle 13 Tage und überlebte.“
Oder so ähnlich. Im Hotelgewerbe ist nämlich ein „Zimmer 13“ und erst recht eine „Etage 13“ verpönt. Mit diesem Tabu reagiert das Hotelmanagement auf den Volksaberglauben, dem die Dreizehn als Unglückszahl gilt. Viele Hotels lassen die Zahl einfach aus und springen direkt von der Zwölf auf die Vierzehn.
Hier aber nicht. Hier gab es die Dreizehn. Allerdings nicht schon von Anfang an. Es gab sie erst neuerdings, wie mir der Rezeptionist in einem Tonfall mitteilte, als vertraue er mir ein Geheimnis an.
„Die Leute sagen, dass das Zimmer keine Berechtigung habe, hier zu sein. Dass es irgendwann einfach aufgetaucht war, aus dem Nichts, quasi über Nacht, ohne Ankündigung, und ohne voraus geworfene Schatten. So erzählt man sich zumindest.“
Ja, man erzählt sich viel. Wenn dann noch ein bestimmter Wochentag hinzu kommt, – sagen wir: „Freitag“ – ist alles zu spät. Die Statistik belegt zwar, dass an einem Freitag, den 13. nicht mehr Unfälle und Katastrophen geschehen als an jedem anderen Freitag, doch der Aberglaube, der sich mit diesem Datum verknüpft, bleibt offenbar unausrottbar, selbst bei ansonsten vernünftigen Menschen.
Der Rezeptionist erwies sich als ergiebige Informationsquelle. Immer, wenn ich früh am Abend ins Hotel zurückkehrte, war er schon zur Stelle und legte ohne Einleitung und Anrede los.
„Ich bin inzwischen der Meinung, dass das Zimmer 13 selbst das Böse ist. Es greift nach den Menschen und bindet sie an sich. Das Böse wohnt nicht in Zimmer 13, das Zimmer 13 ist das Böse.“
„Wie? Ein Zimmer, das mal da ist, dann wieder nicht? Das mal verschlossen, mal offen steht wie ein Scheunentor? Aus dem grässliche Schreie und Seufzer dringen, dann wieder süßliche, wildromantische Pianomusik, als wohne Chopin höchstpersönlich darin?“
„Zimmer 13 hat halt viele Gesichter. Vor allem aber ist es eines: Bösartig, heimtückisch und lebensgefährlich. Es ruft. Und wer seinem Ruf folgt, ist verloren.“
Allmählich beschlich mich das Gefühl, dass die Hotelleitung den Rezeptionisten dafür bezahlte, Schauergeschichten in die Welt zu setzen, um das Hotel zu einem echten Publikumsmagneten zu machen. Schließlich war es einer der ältesten Marketingtricks, die morbide Neugier der Menschen für Reklamezwecke zu missbrauchen. Wer wollte nicht einmal in einem *verfluchten Zimmer* übernachten, nur um hinterher damit angeben zu können?
Steckte dieses Motiv hinter den Gruselgeschichten, dann war es um so notwendiger, die Machenschaften des Hotels schonungslos aufzudecken. Mein Entschluss stand fest.
„Werden Sie Zimmer 13 auf dem Kongress erwähnen?“ fragte der Rezeptionist in meine Überlegungen hinein.
Daher wehte also der Wind. Ganz so, wie ich vermutete.
„Ich bin dort nicht als Referent eingeladen, sondern als Berichterstatter.“
„Schade“, sagte der Rezeptionist und verschwand wieder im Hintergrund.
* * *
Auf Anordnung des Hotelmanagements hatte das Personal Zimmer 13 ebenso zu reinigen wie all die anderen Zimmer auch, sobald es in Erscheinung trat und zugänglich wurde. Nur hielt sich kaum jemand daran. Die Zimmermädchen trauten sich nur in Dreiergruppen in das Zimmer und unterzogen es einer Super-Kurz-Reinigung, die nur wenige Minuten dauerte. Und alles mit weit geöffneten Augen, Schnappatmung und Puls dicht am Herzinfarkt – jederzeit bereit, in einen grässlichen Entsetzensschrei auszubrechen.
Was sie denn bemerkt hätten, wollte ich wissen.
Als Pressemensch hatte ich es mir angewöhnt, stets ein Büschel grüner Scheine mitzuführen. Das lockerte auf hilfreiche Weise die Zunge und sorgte für einen ungebrochenen Redefluss. Ich bekam höchst unterschiedliche Geschichten über Zimmer 13 zu hören. Dass es dort aber umgehe, war consensus omnium.
Im Wesentlichen waren es zwei Dinge, die in den Erzählungen konstant blieben. Erstens das höchst unangenehme Gefühl, vom Zimmer während des kompletten Reinigungsvorganges beobachtet zu werden und zweitens eiskalte Stellen im Raum.
Letzteres war nichts Ungewöhnliches, sondern vielmehr Standard. Jeder Spukort, der etwas auf sich hielt, konnte mit sogenannten „cold spots“ aufwarten. In der parapsychologischen Fachliteratur gelten cold spots als untrügliche Zeichen für die Präsenz von Geistern. Der Grund, warum Geister, die sich manifestieren, einen Temperaturabfall verursachen, besteht darin, dass sie Energie brauchen, um sich physisch zu manifestieren „Wenn ein Geist versucht, sich zu manifestieren, also physisch sichtbar zu werden, entzieht er dafür der Umgebung, in der er sich gerade aufhält, Energie“, so Keyes.
Ob denn schon einmal jemand dort übernachtet hätte.
Versucht vielleicht, sagte man mir. „Es ist ein Eingang ohne Ausgang, wenn Sie verstehen. Es gibt keine zweite Nacht.“
Die Beobachtungen, die das Reinigungspersonal zu bieten hatte, waren samt und sonders trivial, spekulativ oder altbekannt. Informationen aus zweiter Hand halfen hier definitiv nicht weiter, so viel stand fest.
Das Zimmer schrie förmlich danach, ergründet und entlarvt zu werden. Und es provozierte unaufhörlich weiter mit anzüglichen Sprüchen wie: „Nichts für Angsthasen und Warmduscher!“ Oder: „Die Neugier ist der Katze Tod.“
Den Vogel der Provokationen schoss es aber heute morgen ab, als ich auf dem Weg zum Frühstücksbüffet an der Tür zu lesen bekam:
Lasciate ogne speranza, voi ch’intrate
Lächerlich. Mit dieser Verlautbarung hatte Zimmer 13 den Bogen endgültig überspannt. Jetzt reichte es!
Die Neugier ließ mich nicht länger an diesem Zimmer tatenlos vorüber ziehen. Heute, gleich nach dem Frühstück, sollte es geschehen. Heute wollte ich dem Spuk ein Ende setzen. Auch, wenn mir dadurch ein kompletter Kongressvormittag flöten ging. Den Vortrag, wie man mit bloßer Gedankenkraft einen Salzstreuer vom Frühstückstisch zum Absturz brachte, hätte ich schon gern gehört. Solche Dinge sind durchaus interessant. Man weiß nie, ob man es später nicht noch einmal brauchen kann.
Aber man muss Opfer bringen.
Bei meiner Rückkehr aus dem Frühstücksraum bemerkte ich, dass sich der Text an der Tür deutlich verändert hatte.
„Na los doch!!!“ stand da jetzt.
Wieder die drei Rufzeichen. Und darunter:
„Der Abschied gehört mit zum Leben.“
Die Tür war nur angelehnt. Na gut, dann wollen wir mal, dachte ich, krempelte im Geiste die Ärmel hoch und trat ein. Zimmer 13 wollte Krieg, also bekam es ihn.
* * *
Es war eine herbe Enttäuschung, und das ist noch hoffnungslos
untertrieben.
An der linken Wandseite: ein einfaches Metallbett mit dünner Matratze, daneben ein Wandschrank. In der Mitte des Raumes: ein Holztischchen, auf dem es nichts anderes zu bestaunen gab als eine unfassbar altertümliche Schreibmaschine, die geradewegs einem Bogart-Film entsprungen sein konnte. Die Maschine schien zwar voll funktionstüchtig, hingegen fehlte jegliches Papier, das man in die Walze hätte einspannen können. Bedauerlicherweise. Denn ich hätte gern den trostlosen Zustand dieses Zimmers, das die Phantasie des Hotelpersonals so sehr beschäftigte, für alle Ewigkeit festgehalten.
Ansonsten gab es hier nichts. Keine Bilder, keine Uhr, keine Tapete, keinen Hinweis darauf, ob draußen Tag oder Nacht war. Das einzige Fenster gegenüber war mit einem blauen Vorhang verhangen. Licht gab es nur von einer einzigen, nackten Glühbirne, die von der Decke herab hing. Der Raum wirkte wie eine Zelle – die Wände waren grau, schlecht verputzt, und ein modriger Geruch lag in der Luft.
Vollkommene Stille – keine Geräusche von außen, keine Schritte oder Stimmen. Nichts. Nur das leise Knistern der Glühbirne, die in unregelmäßigen Abständen flackerte.
Ich drehte mich um und wollte diese Vollkatastrophe, die den Namen „Zimmer“ nicht einmal ansatzweise verdiente, wieder sich selbst überlassen, da wurde mir klar, dass die Tür aufgehört hatte zu existieren.
Nur glatte, kalte Wände. Wie war das möglich? Nun bekam ich doch aufsteigende Hitze.
Zum Fenster wollte ich, es aufreißen und um Hilfe brüllen, aber hinter dem blauen Vorhang befand sich, wer ahnt es?
Richtig. Nichts. Oder präziser gesagt: Wand. Nackte Wand.
Jetzt sitze ich hier fest. Hier, in einer Kurzgeschichte eines Literaturportals. Später werde ich dann wohl abgeschoben ins Archiv, ohne reale Chance, jemals wieder das Tageslicht zu erblicken. Es sei denn, jemand würde sich erbarmen und mich aus Zimmer 13 herausschreiben. Gewiss, eine verschwindend geringe Hoffnung in einer Zeit, in der jeder nur an sich selbst und an die eigene Geschichte denkt.
Ich hätte auf die Tür hören, ihre Botschaften ernst nehmen sollen.
Zu spät.
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