Von Irmi Feldman

Berlin, 14. April 1941

Die zweite Nacht war schlimmer als die erste. Aber erst nach der dritten Nacht beschloss Samuel aufzugeben. Er hatte genug vom Verstecken. Genug vom Angsthaben. Genug vom Dasein ohne Freiheit. Das war kein Leben. Seit vier Tagen harrte er schon in dem ausgebombten Wohnhaus aus, das in den letzten achtzehn Monaten seine Heimat gewesen war. Die Brezinskys, die ihn unter ihrer Küche in einem ausgebauten Verschlag vor den Nazis versteckt hielten, waren tot. Drei Tage hatte er nach ihnen gegraben. Zuerst mit bloßen Händen, dann mit einer leeren Konservendose. Mit tränenüberströmtem Gesicht. Mal mit grimmiger Hoffnung. Mal mit hoffnungsloser Verzweiflung. Gefunden hatte er sie nicht. Jedoch hörte er schon seit drei Tagen Geräusche: keine schabenden oder kratzenden Geräusche, kein Schlagen, als versuche jemand auf sich aufmerksam zu machen. Es war auch kein Suchtrupp, der laut nach Verschütteten rief. Die Geräusche stammten von einem Suchenden, der sich flüsternd, vorsichtig und heimlich zwischen den eingebrochenen Mauern und Schuttbergen vorwärts tastete.

***

Alles war schiefgelaufen. Dabei hatten sie alles bis ins kleinste Detail geplant. Im Oktober 1939. Als sein Vater und er aus Berlin flüchten wollten. Dr. Hertig, ein ehemaliger Studienkollege und langjähriger Freund seines Vaters, sollte sie nach Lindau am Bodensee bringen. In dem umgebauten Kleinbus; geplant als Hertigs Urlaubsreise. Sie hatten gefälschte Papiere. Hertigs Bruder in Lindau würde sie in die Schweiz bringen. An jenem verhängnisvollen 14. Oktober wollte sein Vater noch ein letztes Mal in sein jüdisches Krankenhaus, in dem er so viele Leben gerettet hatte. So viele Jahre lang. Er, Samuel, sollte im nahegelegenen Park warten und würde dann von Dr. Hertig und seinem Vater dort abgeholt werden. Der Plan war gut gewesen: von Lindau in die Schweiz, von dort nach Frankreich, über die Pyrenäen nach Spanien, dann Portugal und zuletzt in die USA, wo Samuels Onkel Paul lebte. Doch sein Vater war nie am vereinbarten Ort erschienen. Auch Dr. Hertig nicht. Stattdessen wurde Samuel im Park verhaftet. Seltsamerweise wurde er nicht ins KZ gebracht, wie er das befürchtet hatte, sondern zu den Brezinskys, die ihn seither versteckt hielten. Samuel verstand die Welt nicht mehr. Die Brezinskys hatten ihm nie die Einzelheiten erzählt. Er habe Beschützer, doch sei es besser, wenn er so wenig, wie möglich wisse.

Nun war alles vorbei. Samuel stand mit seinen achtzehn Jahren allein auf der Welt. Seine Mutter war schon 1933 bei der Geburt seiner Schwester gestorben. Das Schwesterchen drei Tage später. Sein Vater war sein einziger Familienangehöriger. Lebte er überhaupt noch? 

Samuels Beschützer, die Brezinskys, und er waren die letzten Bewohner dieses Wohnblocks gewesen. In den vergangenen achtzehn Monaten waren sie so etwas wie seine Ersatzeltern geworden. Jetzt hatte er niemanden mehr. Nicht einmal ein Dach über dem Kopf. Es war Zeit, sich zu ergeben.

Als Samuel am Spätnachmittag wieder Geräusche hörte, ging er ihnen nach und stand nun dem Eindringling gegenüber. Es war ein Wehrmachts-Offizier. Erschrocken wie Samuel, stand er in der einbrechenden Dunkelheit. Nicht einmal ein Gewehr hatte er dabei. Er trug jedoch einen dicken Wehrmachtsmantel, der jetzt im Frühling eigentlich schon zu warm war. Lange standen sie sich gegenüber. Samuel wunderte sich, warum der Offizier keinen Befehl ausstieß, ihm nicht anordnete, die Hände zu heben. Doch dann sah Samuel etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte. Der Blick des Offiziers war nicht feindselig oder siegessicher. Sein Blick drückte Erleichterung aus. Ja, fast Freude.

Der Offizier setzte sich auf eine eingestürzte Mauer. Samuel wusste nicht, was er machen sollte. Also setzte er sich auch.

„Du bist schon lange hier“, sagte der Offizier. Es war eine Feststellung. Keine Frage.

Samuel nickte.

„Wo ist Ihr Gewehr? Warum erschießen Sie mich nicht?“, wollte Samuel wissen.

Der Offizier schüttelte müde den Kopf. Er griff in seine Manteltasche und holte ein in braunes Papier gewickeltes Päckchen heraus. Dazu eine Wasserflasche. Erst da bemerkte Samuel das größere Packet, das der Offizier unter dem Mantel versteckt hielt. Und noch etwas sah Samuel. Der Offizier trug einen fadenscheinigen Anzug unter dem Mantel. Keine Uniform?

„Iss!“, sagte der Offizier. „Käsestulle.“

Gierig griff Samuel danach. Seit drei Tagen hatte er nichts gegessen. Seine einzige Nahrung war durchgesickertes Regenwasser gewesen, das er mit einer Blechdose aufgefangen hatte.

Der Offizier begann seine Geschichte.

„Ich heiße Herbert Brenner. Ich habe eine Tochter, Sylvia“, begann er. „Acht Jahre alt. Meine Frau und Sylvia sind jetzt nicht in Berlin. Ich habe sie in die Schweiz gebracht. Zu Freunden. Aber im Oktober 1939 war Sylvia sehr krank. Ich brachte sie in verschiedene Krankenhäuser. Doch keiner konnte ihr helfen. Sie brauchte eine Operation. Dringend. Keiner wollte sie aufnehmen. Keiner wollte sich an diesen schwierigen Fall heranwagen. Jeder schüttelte nur den Kopf. Uns wurde gesagt, dass der Einzige, der diese Operation erfolgreich durchführen könne, sei Dr. Daniel Goldblatt, im jüdischen Hospital.“

Samuel schnappte nach Luft. „Mein Vater!“, flüsterte er.

Brenner nickte.

„Dein Vater, Samuel, war bereit, meine Tochter zu operieren. Am 10. Oktober 1939.“

„Deshalb also…“, begann Samuel.

„Ja, Samuel, deshalb war dein Vater nicht zur vereinbarten Stelle gekommen. Ich weiß. Du und dein Vater. Ihr wolltet flüchten. Vor diesem Irrsinn. Aber dein Vater wollte zuerst noch meine Tochter retten. Danach war es zu spät zum Fliehen. Während der Operation erhielten wir eine Nachricht, dass die Gestapo auf dem Weg zum Krankenhaus sei, um deinen Vater zu verhaften. Wie schon so viele vor ihm. Er war zu diesem Zeitpunkt der letzte Chirurg im Krankenhaus. Es sollte aufgelöst werden. Die Pfleger und Schwestern flehten ihn an. Er solle fliehen. Da wäre noch Zeit gewesen. Doch Dr. Goldblatt weigerte sich. Er müsse diese Operation zu Ende führen, sonst stürbe meine Sylvia. Auch als die Gestapo im Krankenhaus ankam, bat er sie darum, die Operation weiterführen zu dürfen. Die Gestapo erlaubte es, weil es die Tochter eines deutschen Offiziers war. Als die Operation zu Ende war, haben sie deinen Vater abgeführt.“

Samuel starrte Brenner mit entsetzten Augen an.

„Du musst mir glauben, Samuel, dass ich nichts mit seiner Verhaftung zu tun hatte. Ich bin nicht bei der SS. Ich bin in der Proviantbeschaffung. Ich habe alles in Bewegung gesetzt, um deinen Vater vor Ausschwitz zu bewahren. Doch zu sehr konnte ich mich nicht für ihn einsetzen, weil man sonst Verdacht geschöpft hätte. Zu diesem Zeitpunkt wäre mir das auch schon egal gewesen. Doch ich hatte mir geschworen, wenn ich schon nicht Dr. Goldblatt retten kann, dann wenigstens seinen Sohn. Ein Pfleger im Krankenhaus hat mir von eurem Fluchtplan erzählt. Deshalb ließ ich dich in dem Park verhaften und heimlich zu den Brezinskys bringen. Sie sind meine Freunde. Alles ging gut für eineinhalb Jahre. Bis zum Bombenangriff vor drei Tagen.“

Samuel konnte nur starren.

„Ich bin fast verrückt geworden vor Angst, als ich erfuhr, dass das Haus der Brezinskys zerstört worden war. Seit drei Tagen suche ich schon nach dir und den Brezinskys.“

„Sie sind tot“, sagte Samuel mit tonloser Stimme. „Ich habe nach ihnen gesucht. Nach ihnen gegraben. Immer wieder. Immer wieder.“

Er schluchzte. Hob seine schmutzigen Hände. Schüttelte den Kopf. Er konnte nicht weitersprechen.

Brenner nickte. Dann zog er seinen Mantel aus und schob Mantel und das dicke Bündel, das er darunter versteckt hatte, zu Samuel hinüber.

„Du musst von hier weg. Hier bist du nicht sicher. Zieh diese Sachen an. Es ist eine Uniform. Und den Mantel.“

Samuel stand auf. „Aber…”

„Mach schnell, zieh dich um. Hier ist die Adresse von Freunden. Es ist nicht weit. Meine Freunde, die Derpens, erwarten dich. Alles ist geplant. Sie werden dich aus dem Land schmuggeln und dir helfen nach Amerika auszuwandern. Zu deinem Onkel Paul in Boston. Alles ist bereit. Ich hab das lange geplant. Hab nur auf einen günstigen Zeitpunkt gewartet. Dann ist mir der Bombenanschlag zuvorgekommen. Beeil dich. Verbrenne die Uniform, sobald du bei den Derpens bist.“

Von draußen wurden Stimmen laut.

„Schnell, versteck dich“, flüsterte Brenner. „Samuel! Und noch etwas!“

Samuel hielt inne.

„Du musst überleben, Samuel. Für deinen Vater.“

Samuel konnte nur nicken. Er wollte was sagen, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Es ging alles so schnell. Er brauchte Zeit zum Denken. Er hatte so viele Fragen. Sein Kopf tat ihm weh. Zu viel Information und keine Zeit zum Nachdenken. Zum Fragen.

„Mein Vater?“, flüsterte Samuel. „Ist er…?“

Brenner nickte. „Ausschwitz. Im Januar!“

„Und Dr. Hertig?“

„Verhaftet! Im Oktober 39. Ich konnte nichts für ihn tun.“

Samuel nickte. 

Brenner beugte sich nach vorne und umarmte Samuel. Er hatte Tränen in den Augen.

„Alles Gute, Samuel. Es gibt keine Worte für das, was wir euch antun.“

Abrupt drehte er sich um und hastete Richtung Ausgang davon. Brenner hörte noch, wie Samuel sich eilig in die andere Richtung davonschlich.

Als Brenner den Ausgang erreichte, sah er Soldaten mit erhobenen Gewehren.

„Hände hoch, du Judenratte!“

Brenner tat, wie ihm geheißen. Doch bevor die Soldaten nähertreten konnten, um ihn zu verhaften, steckte Brenner blitzschnell seine rechte Hand in die abgewetzte Jackentasche.

Schüsse durchschnitten die Stille. Noch im Fallen zog Brenner seine Hand aus der Jackentasche. Verwirrt starrten die Soldaten auf das Feuerzeug in seiner Hand.

Epilog:

Mit Hilfe der Versorgungskette, die Herbert Brenner bis ins kleinste Detail geplant hatte, flüchtete mein Großvater Samuel Goldblatt aus Deutschland und immigrierte Anfang August 1941 in die USA. 

Irmi Feldman, 2025; v1; 9763z