Von Claudia Schäckel

Lisa saß auf einem der noch verbliebenen Stühle, in einer fast leergeräumten Wohnung. Die Leinwand hatte sie wieder an den Nagel gehängt. Auf ihr war eine Blumenwiese zu sehen, auf der leuchtend blaue Blumen versuchten durch Nebelfelder zu scheinen.

Neben ihr auf dem Tisch lag der zerbrochene Rahmen und einige offensichtlich alte Papiere.

Nicht in der Lage den Blick von dem Bild zu nehmen schweiften ihre Gedanken zu verschiedenen Familientreffen. Bas Bild hing, nach der Erzählung ihrer Mutter, schon immer im Wohnzimmer von Oma und Opa. Es war das Symbol für das was sie sich aufgebaut hatten und immer wieder der Aufhänger für die Geschichte der Flucht von Oma Anni und ihrem Bruder. Die Geschwister waren ganz auf sich gestellt und hatten es geschafft.

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„Mein Bruder und ich waren noch Jugendliche und haben uns ganz alleine, von Danzig aus durchgeschlagen. Wir hatten uns im Wald versteckt und unsere Flucht vorbereitet. Immer wieder heimlich wichtige Dinge vom Gutshof in eine kleine versteckte Waldhütte gebracht. Jetzt schlichen wir zum letzten Mal aus unserem Zuhause in den Wald. Mit einem alten Karren und zwei Pferden sind wir aufgebrochen. Das war eine fürchterliche Nacht, alle anderen waren in den letzten Tagen geflohen und jetzt machten wir uns in der Dunkelheit und Kälte auf den Weg Richtung Westen. Gut versteckt auf dem Karren, einige wertvolle Schmuckstücke und das einzige Bild das wir mitnehmen konnten. Ich habe es immer in Ehren gehalten, auch durch schwierige Zeiten. Es hing immer im Wohnzimmer und hat an den glücklichen Ausgang einer furchtbaren Flucht erinnert und alles begleitet was die Familie seither aufgebaut hat.“

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Nachdem die Großeltern gestorben waren, hatte ihre Mutter einen angemessenen Platz für das Bild in ihrem Haus gesucht. Es hing gegenüber dem großen Esstisch seit sie denken konnte. Jetzt zogen ihre Eltern in eine kleine Wohnung im betreuten Wohnen und das Bild sollte in ihrem Haushalt einen schönen Platz bekommen. 

Der Umzugswagen war weg. Geblieben waren einige Möbel, die sie weitergegeben hatten und die noch abgeholt werden würden. Lisa war geblieben um die letzten Gegenstände zu verpacken die sie mit nach Hause nehmen würde. 

Darunter auch das Bild, das ihr beim Abhängen aus der Hand gerutscht war. 

Der Rahmen brach in mehrere Teile, das alte Pergament auf der Rückseite zerriss und raus fielen einige vergilbte Papiere. Sie war so erschrocken darüber, dass sie das Bild hatte fallen lassen, dass sie die Schriftstücke erst mal gar nicht wahr nahm. 

Zuerst untersuchte sie das Gemälde und stellte erleichtert fest, dass es keinen Schaden genommen hatte. Automatisch hängte sie die Leinwand ohne den Rahmen zurück an ihren alten Platz. 

Beruhigt hob sie den zerbrochenen Rahmen und die Papiere auf und legte alles auf den Tisch. Sie fügte die Rahmenteile aneinander und war sich sicher, dass man ihn reparieren lassen konnte. 

Alles nicht so schlimm. 

Nichts wirklich kaputt gegangen.

Dann griff sie neugierig nach den Papieren und begann zu lesen.

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Mein Name ist Magarete

wir werden uns mit einigen wenigen Sachen auf den Weg nach Westen machen. Gestern sind die gefälschten Papiere angekommen. Wir haben in den letzten Tagen heimlich Sachen in einer kleinen Waldhütte versteckt, zusammen mit einem alten Leiterwagen und zwei Pferden.  Sobald es dunkel wird schleichen wir in den Wald. Unser Förster kommt mit meiner Mutter und mir mit. Ohne seine Hilfe würden wir es nicht schaffen, es wahrscheinlich nicht einmal versuchen. Dieses Bild ist alles was meine Mutter noch von ihrer Mutter hat und es soll unbedingt in Sicherheit gebracht werden. Falls wir es nicht schaffen und jemand dieses Bild findet möchte er es doch bitte an unsere Familienmitglieder weiterleiten. Ich habe Kontaktmöglichkeiten beigelegt.

Herzlichen Dank Margarete Foit

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Lisa saß auf einem der noch verbliebenen Stühle und starrte auf die Leinwand mit den Blauen Blumen auf der mit Nebel überzogenen Wiese.

Der Nachnahme und die Adressen auf den Alten Papieren waren ihr völlig unbekannt. Keine Namen die irgendetwas mit ihrer Familie zu tun hatten.

Das Papier auf der Rückwand, sah nicht so aus als ob es jemals abgenommen worden war.

Wenn nie jemand hinter das Bild geschaut hatte, wusste auch niemand von den Papieren.

Dann war dieses Bild die Erinnerung an eine andere Mutter.

Die Geschichten waren sich so ähnlich.

Warum?

Warum klangen die Geschichten so ähnlich?

Warum wusste ihre Oma von der Hütte im Wald?  

Von dem Karren mit den beiden Pferden?

Und was sollte sie jetzt mit all dem anfangen?

 

Nach weiteren langen Minuten, starren auf blaue Blumen im Nebel, griff sie ihr Handy.

„Daniel, kannst du bitte zurück in die Wohnung kommen.“

„Nein, nicht in zwei Stunden, sondern jetzt. Ich erklär dir alles, wenn du da bist.“

„Nein nicht am Telefon! Komm einfach zurück! Jetzt! Alleine!“

 

Sie legte auf und das Telefon etwas energisch auf den Tisch. Es rutschte ein Stück über die Tischplatte und blieb kurz vor der Kannte liegen.

In ihrem Kopf rannten alle möglichen Szenarien durcheinander. 

Vergangene und Zukünftige.  

Eine Vorstellung schlimmer als die anderer und dazwischen immer wieder. 

Gelogen?

Alles Gelogen?

 

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