Von Christian Günther
Das Zimmer in der Senioreneinrichtung war angenehm warm und liebevoll eingerichtet. Bis auf das Pflegebett und den Nachttisch eigene individuelle Möbel. Omma Irmi saß in ihrem geliebten Sessel und sah durch das große Fenster in die trübe Umgebung im Dezember.
Wie gewohnt standen ihre Schuhe weit weg von ihr vor dem Bett. Sie war auf Socken gelaufen. Zum Glück mit sogenannten Stoppersocken, mit denen sie nicht ausrutschen konnte. Das feste Schuhwerk vergaß sie wegen ihrer Demenz.
Sie hatte unser Öffnen der Tür gehört. Als sie uns erspähte, setzte sie ein strahlendes Lächeln über den Besuch auf. Ich trug die heiße Ware, die wir ihr mitbrachten. Bei nur fünf Minuten Fahrt war es nicht merklich abgekühlt. Mit zehn Uhr zwar noch früh, aber diese Mahlzeit ging immer.
Die einzige Enkelin, der absolute Liebling! Dennoch wurde Omma Irmis Blick nun traurig. Den Namen ‚Judith‘ würde sie am längsten behalten, womöglich nie vergessen, meiner entfiel ihr ständig. Sie kannte Judith seit fünfunddreißig Jahren, mich erst seit vier.
»Nick hat Dir wat gebrutzelt, Omma.« Meine Partnerin versuchte, meinen Namen so oft wie möglich zu nennen. Sie löste ihr Band und damit den Pferdeschwanz ihrer langen blonden Haare auf. »Und Nick hat dat sehr gut gemacht. Willsse et gleich probieren?«
Ich stellte den Teller mit dem Essen auf den Tisch und hob die ihn bedeckende Alufolie an.
»Currywurst, Pommes Schranke«, rief die Seniorin voller Freude. »Wie dat riecht, mhh! Die gab et bei uns immer samstags. Is heute Samstag?«
»So is et, Omma Irmi«, bestätigte ich.
»Currywurst, Pommes Schranke, die gab et bei uns immer samstags. Zum Fußball, zur Sportschau im Ersten. Aber der Fernseher is aus, grad?«
»Nick und ich ham gleich Dienst, leider, daher sind wir vor ‘em Sport da«, erwiderte Judith und reichte ihr die Hand. »Komm, setz Dich auf et Stühlken.«
»Mein Kurt drückte dem BVB die Daumen«, plauderte Oma beim Umsetzen. »Boah, wat hat der sich bei Toren gefreut! Wat is der aufgesprungen. Wie ’n junger Hüpper. Und wat hat der geschimpft, wenn die andern trafen. Wie ’n Rohrspatz. Ich hab einfach jedes Spiel genossen. Egal wer traf.«
Mit der mitgebrachten Gabel pikste sie ein Stück Wurst auf und schob es in den Mund. »Mhh, is dat lecker!«
Das Lob musste ich an Dornseifer weitergeben, das war wirklich die beste Wurst auf dem Markt. Wenn Omma dat ebenso empfand, toll. Sauce und Bratwurst getrennt erhitzen, die Stücke schwammen nicht von vorne herein in der roten Flüssigkeit wie bei Konkurrenzprodukten.
Judith nahm vor Kopf Platz, ich der Essenden gegenüber. Nun kamen die ersten Pommes an die Reihe. Sie knackten hörbar, als Oma darauf kaute. »… und die Pommes ersma.«
Das zweite Lob, dieses Mal an Agrarfrost.
»Bei der Mayo kennt Ihr meine Rezeptur?«
Ich nicht, aber Thomy.
Judith lächelte. »Klar kennt Nick die. Du hast se ihm gegeben, und Nick hat sich genau dran gehalten. Ich hab dat überwacht, ganz penibel.«
»Dat schmeck ich. Habt Ihr heut frei?«
»Nein, wir müssen gleich malochen, Omma.«
»Die Polizei, Dein Freund und Helfer«, murmelte Oma undeutlich, weitere Pommes essend. Ketchup und Mayonnaise vermischten sich inzwischen. »Als wir ‘nen Platten hatten, ham se den gewechselt au‘m Bredeneyer Berg. Mein Kurt hatte et nisso mit de Technik. Da standen wir auffe Linken. Da kam de Polente vorbei. Du hättest dat ooch gekonnt«, meinte sie zu Judith.
Dass ihre Enkelin ursprünglich Automechanikerin werden wollte, hatte die Oma nicht vergessen. Aber dass der Nachwuchs stattdessen Kommissarin geworden war, erfüllte die Seniorin noch mehr mit Stolz. Inzwischen sogar Kriminaloberkommissarin, nachdem sie, wie in NRW Usus, zunächst bei der Schutzpolizei ihre Laufbahn begonnen hatte.
Oma nahm die Pommes zunächst von vorn vom Teller.
»Dat sieht jetzt aus wie der Felsen von Gibraltar«, meinte ich.
Sie aß derweil ein Stück Currywurst. »Gibraltar, die Affen da, rotzfrech! Ich hab die Tüte nur kurz abgestellt, und da klaut der die. Mit mei’m Schinkenbütterken. Leider warsse nich mit«, sie sah zu Judith, »Du wärst ihm hinterher, ne?«
»Na, klaro«, stimmte die Kommissarin zu. »Dem hätt ich et gegeben. Meine Omma beklauen, dat geht gar nich.«
Ich stand auf und hob die Gießkanne auf der Fensterbank hoch. Noch Wasser drin, gut! Denn das Usambaraveilchen war am verdursten.
»Dat wollt ich grad tun, bevor Ihr kamt«, entschuldigte sich Oma.
Judith lächelte. »Nick denkt halt mit, ne?«
»Jau, dat tut er. Da hasse Dir wat Tolles geangelt.«
»Wie Du den Oppa Kurt, nich?«
»Mein lieber Kurt, jau.« Sie nickte eifrig, während ich mich nach meiner Rettungsaktion wieder setzte.
»Ihr seid damals nach Spanien?«
»Jau, der Flug nach Spanien, boah, wat hatten wir ’n Schiss, ham ‘ne ganze Schachtel Zigaretten gepafft. Aus ‘em Fenster kieken konnt ich nicht.«
»‘ne Menge Kippen für die knappen drei Stunden«, fand Judith. Wir kannten nur rauchfreie Flugzeuge. Wobei ich lange gar nicht fliegen wollt. Aber Judith konnt halt sehr nett mit ihren braunen Augen schauen.
Vor dem heimischen Fenster tanzten plötzlich Schneeflocken. Ein Schauer, die weiße Pracht würde jedoch nicht liegen bleiben. Oma bemerkte den Niederschlag.
»Sie wird doch jetzt nicht etwa …?«, begann sie.
»Wer wird wat tun?«, wollte Judith wissen.
»Mein Töchterken rutscht gern auf ‘em Ranzen dat Gefälle runter«, erzählte Oma, »und der is neu. Die denkt, ich würde dat nich sehn. Irrtum! Wenn die nahause kommt, gibbet Kirmes au‘m Föttken. Mit dem Teppichklopper. Wo is’n der überhaupt? Die kann dann zwei Wochen lang nich richtig sitzen. So Dinge sind teuer. So geht man nich damit um, nein. Aber …?« Sie sah zu Judith und schüttelte den Kopf. »Du bist meine Enkelin, dann … dann tut wat nicht passen. Bin ich schon soo alt?«
»Junggeblieben«, erwiderte ich spontan.
»Oh, ein Charmeur, wie schön.« Sie streichelte mit der Hand über ihr Haar.
Der Teller leerte sich rasant bei weiteren Anekdoten und Erinnerungen wie dem Kennenlernen ihres Mannes, der leider schon zehn Jahre zuvor verstorben war. Wie sie gestolpert und ausgerechnet ihm in die Arme gefallen war, am helllichten Tag mitten in Rüttenscheid. Nicht nur dort hatte Kurt sie aufgefangen, ebenso in gesundheitlich schwierigen Zeiten wie bei einem diagnostizierten Tumor vor fünfundzwanzig Jahren.
Beim letzten Stück Wurst hielt Oma inne. »Dat gab et bei uns immer samstags. Zum Fußball, zur Sportschau im Ersten. Mein Kurt drückte dem BVB die Daumen. Wat hat der sich bei Toren gefreut! Wat is der aufgesprungen. Wie ’n junger Hüpper. Und wat hat der geschimpft, wenn die andern trafen. Wie ’n Rohrspatz. Ich hab einfach jedes Spiel genossen. Egal von wem.« Nun zelebrierte sie das Kauen des letzten Stückes. »Dat hat geschmecket, töfte!«
»Hat Nick gut gebrutzelt?«, fragte Judith.
»Der brutzelt besser als Du«, bestätigte Oma schlagfertig.
»Danke, Omma! Sehr nett von Dir.«
»Da hasse Dir wat Tolles geangelt.«
»Ja, und Nick is halt Pappa, nich?«
»Richtig, Nick. Wat machen Deine Blagen?«
»Die Jüngere geht zur Schule, die Ältere macht ihre Ausbildung im Krankenhaus«, antwortete ich.
»Wichtig, so Leute brauchen wir immer.«
»Kurz vor halb elf«, läutete Judith die Verabschiedung ein und nahm die Bedienung vom Fernseher. »Nick und ich müssen zum Dienst. Im ZDF läuft gleich ‚Notruf Hafenkante‘. Dat kommt unsrer Maloche näher als stündlich zig Morde. Ich stell Dir dat Gerät ein, für ‘ne Dreiviertelstunde. Is wie dat ‚Großstadtrevier‘, dat Du immer gerne schaust.«
Oma nickte. »Ja, der Sheriff von Cranz. Dat alte Land, die Appelbäume. Die Frau mit ‘em Moped. Da schmeißt die dem«, sie meinte Jan Fedder als Dirk Matthies, »die Scheibe von ’em Revier ein. Wie der sich erschreckt hat.« Sie lachte amüsiert.
Warum sie gerade diese Folge so mochte, die zudem nicht im Stammrevier, dem Vierzehnten, spielte, hatten wir bisher nicht herausgefunden. Sie bezog sich immer auf diese, etwa zwanzig Jahre alte.
»Wollt Ihr schon gehen?«, wollte Oma wissen, während im TV die Titelmelodie startete. »Oh, de Polente! Is dat in Hamburg? Der Kahn, die Elbe.«
»Jau«, bestätigte ich.
»Mit ‘nem Schiff auffe Elbe, aber mein Kurt war nich wasserfest. Der hing nur über dem Geländer. Hat gar nix vonne schönen Umgebung gesehen. Wohin wollt Ihr, müsst Ihr malochen?« Der Geruch des Essens lag weiter in der Luft. »Samstag ham wa, richtig? Im Fernsehen is de Polente, aber wie hat’n Kurts BVB gespielt? Gewonnen oder verloren?«
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