Von Volkmar Klundt
Das Licht ausgeschaltet liege ich im Bett und warte, die Arme bequem untergeschlagen, dass der Tag seinen Griff lockert. Eben fallen mir die Augen zu, da poltert mir eine Geschichte ins Gedächtnis, fällt herab wie Steinschlag auf einer kurvigen Bergstraße. Streut kullernd letzte Kiesel bis kurz vor meine Füße. Plötzlich bin ich wieder wach.
Leider habe ich das Buch nicht mehr.
Jeder Versuch, es anhand meiner dürftigen Erinnerungen aufzufinden, wäre zum Scheitern verurteilt, denn es handelt sich um ein Kinderbuch. Eine Anthologie, erschienen in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Nicht wahr? Das klingt aussichtslos.
Ich war sieben. Als wir nach der Operation das Krankenhaus verließen, steuerte Mutter eine Buchhandlung an.
„Du darfst dir eins aussuchen.“
Das Bild hatte den Ausschlag gegeben. Dieses Buch, kein anderes, musste es sein, unbedingt, denn auf dem Einband leuchtete in sattem Tomatenrot ein Auto. Ein Vorkriegsmodell mit geschwungenen Kotflügeln, glubschigen Scheinwerfern, steil aufgerichteten Fenstern und dünnen Speichenrädern. Der Fahrgastraum, der sich hinter dem schmalen Motor erhob, hatte etwas von einer Kutsche. Ein Auto, wie man es etwa um 1930 herum hergestellt hatte.
Die frühen Sechziger rochen für mich nach frischem Asphalt, der in großen schwarzen Kesseln kochte. Über die dunkel glänzenden Schichten rollte dann das riesige Ungetüm mit seiner nass dampfenden Walze hin und her.
Durch neue Straßen fuhren moderne Autos, über deren Vorzüge und Nachteile wir ständig hitzig debattierten. Neben frisch geteerten Fahrbahnen wuchsen Häuser empor. Dazwischen lagen geheimnisvolle, mit Unkraut überwucherte Grundstücke, auf denen wir spielten, solange über sie nicht entschieden war. Obgleich der Krieg damals fast zwanzig Jahre zurücklag, waren, wenn man nur genau genug hinsah, seine Spuren noch überall präsent, als habe man das Grab, in das man die Erinnerungen zur Ruhe gebettet hatte, zu flach ausgehoben. In den Städten sah man noch die Bunker. Manchmal waren ihre Seiten aufgebrochen, gaben den Blick frei auf das Gerippe aus rostigem, verbogenen Stahl und der narbige Beton zeigte Spuren von Kugeln oder Schrapnell.
Die Geschichte, die meinen Schlaf stört und um die es hier geht, von der ich nicht weiß, wer sie geschrieben hat, war die Letzte in dem Buch. Alle anderen kannte ich bereits auswendig.
Ich habe sie damals nicht besonders geschätzt und den Finger zuletzt nur der Not gehorchend über ihre großen Buchstaben geschoben.
Schlug man sie auf, fiel einem zunächst die Illustration ins Auge: Eine Federzeichnung, schwarz-weiß, mit feinen Strichen, die den Betrachter aus erhöhter Perspektive auf einen lichten Wald mit hohen Bäumen blicken ließ. Inmitten buschiger Farne standen zwei Figuren mit Rucksäcken.
Es war der Geburtstag der Tochter. Die Mutter hatte sich Zeit genommen und in der Früh alles vorbereitet. Sie packte Thermoskannen und Butterstullen in die Rucksäcke.
Als sie das Mädchen weckte, erhellte womöglich nur ein schmaler Streifen den Horizont und verkündete den neuen Tag. Die beiden brachen zu einem besonderen Abenteuer auf. Sie fuhren mit dem Zug hinaus in den Wald.
Sie wanderten umher, verzehrten die eingepackte Mahlzeit und tranken Kakao. Schließlich kehrten sie gegen Abend wieder nach Hause zurück und die Tochter ging glücklich und beschenkt zu Bett.
Was ist das nur? Warum zerrt mich nach mehr als einem halben Jahrhundert ausgerechnet diese Geschichte unvermittelt aus dem Schlaf?
Ob die Tochter wohl den Wohnungsschlüssel an einer Kette um den Hals trug? Die Mutter musste vielleicht arbeiten. Nur mit Mühe hatte sie frei bekommen. Dieser Tag war Teil des Geschenks, unendlich kostbar, etwas Besonderes. Eine ganz seltene Art von Zeit, die man damals erbitten musste und die nach langen Erklärungen vielleicht gewährt wurde.
Ich war unzufrieden. Die Titelseite des Buches versprach Autogeschichten. Enttäuscht fragte ich mich, warum Mutter und Tochter mit dem Zug reisten. Mit dem Auto wäre doch alles viel einfacher gewesen. Mühelos hätten sie den Waldrand erreicht.
Ich blicke ins Dunkel des Zimmers und male mir aus, wie der Ausflug helles Licht auf die kommenden Tage der beiden würfe und Wochen später gelegentlich warm und freundlich aus der Erinnerung winkte. Er konnte zum Anker ihrer Liebe werden und ihnen in den Stürmen des Alltags Halt geben.
Damals mochte ich die Geschichte nicht, sie kam aus einer früheren Zeit und es war eine Mädchengeschichte. Auch fand ich sie nicht spannend. Überhaupt gehörte sie nicht in dieses Buch. Es ging ja gar nicht um ein Auto.
Da war auch weit und breit kein Held, keiner der sich hervor tat, den man zum Freund haben wollte.
Wenn der Tag zu Ende ging, in den unbestimmten Momenten zwischen Nachmittag und Abend, spielte ich damals oft mit einem Panzer. Der war toll, begehrt von meinen Freunden, olivgrün und mit einem weißen Stern an der Seite. Mit einem Blechschlüssel konnte man ihn aufziehen. Unter seiner großen Kanone saß ein Maschinengewehr mit einem Feuerstein. Immer wieder ließ ich den Panzer unaufhaltsam über das Schlachtfeld fahren. Er fegte die Legosteine, die ich ihm in den Weg schob, zur Seite, während unter dem Panzerturm die Funken stoben.
Ich machte das Licht aus, legte den Kopf auf den Teppich und schaute auf den Funkenregen, der die Vorderfront des Panzers flackernd beleuchtete. Wenn der Metallspirale im Inneren des Spielzeugs die Spannung ausging, zog ich ihn rasch auf. Immer wieder, so lange, bis Mutter zum Abendessen rief.
Immer noch drehe ich mich schlaflos von einer Seite auf die andere. Abseits der Erzählung kommt mir plötzlich eine Frage in den Sinn:
Warum gab es in jener Geschichte keinen Vater?
Abwesenheit hat viele Gesichter.
Die Männer, die damals die Straßen und die Häuser bauten, die den Asphalt kochten und die Walze steuerten, die entschieden, ob wir auf den Grundstücken spielen durften, die abends von der Arbeit kamen, am Wochenende ihre Autos polierten, bis sie den Himmel spiegelten, sprachen über Fußball. Sie spielten Skat. Sie gingen zum Frühschoppen. Sie waren Bäcker, Polizisten, Hausmeister, Geschäftsleute und Väter.
Sie hießen Müller, Meier, Osterhus. Sie legten mir, wenn ich genug Geld beisammen hatte, ein Eis für zwanzig Pfennige auf den Tresen. Die Männer, die den Rasen mähten, ihre Familie versorgten, die ihren Frauen einen Kuss gaben, die dicke Brillen trugen und seltsame Hüte, die sie zu lupfen pflegten, wenn sie einander begegneten, sprachen nicht über Hunger. Niemals erwähnten sie Gefangenschaft, Tod oder den alles verzehrenden Krieg.
An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Ich taste mich mit wackeligen Knien vorsichtig die Treppe hinab, setze den Kessel auf den Herd und denke mir aus, dass es zwei Wochen nach dem Ausflug an der Wohnungstür der beiden klingelte. Die Tochter öffnet, und dann steht dort ein solcher Mann auf der Schwelle. Aber das wäre eine andere Geschichte.
