Von Ines Kruse-Kahn

In meiner Grundschulzeit hatte ich häufig Schwierigkeiten, meinen Mitschülerinnen und Mitschülern klarzumachen, dass niemand aus meiner Familie polnischer Abstammung ist, obwohl mein Vater doch in Polen geboren wurde. Na ja, eigentlich war er in Deutschland geboren, aber sein Geburtsort gehörte inzwischen zum polnischen Staatsgebiet. Er kam nämlich aus Schlesien und, wer sich ein bisschen mit der Geschichte dieses Landstrichs befasst hat, weiß, dass dort die Staatszugehörigkeit in der Vergangenheit mehrfach gewechselt hat. Zu kompliziert für Grundschulkinder!

Bis zum Zweiten Weltkrieg lebten jedenfalls meine Vorfahren väterlicherseits in einem schlesischen Dorf, friedlich, Tür an Tür mit den polnischen Einwohnern. Man arbeitete und feierte gemeinsam, die Kinder spielten zusammen und die Jugendlichen vergnügten sich an den Wochenenden beim Tanz im großen Ausflugslokal, welches meine Urgroßeltern dort betrieben.

Niemand hätte für möglich gehalten, dass der Krieg alles grundlegend verändern würde: Angehörige der Deutschen Minderheit galten plötzlich als Eindringlinge und „Besatzer“, Freunde und Nachbarn wurden zu Feinden.

Von den unzähligen Geschichten, die mir meine Großmutter Else aus dieser bewegten Zeit erzählt hat, ist mir eine bis heute in lebhafter Erinnerung geblieben:

Der Krieg war vorbei! – Eigentlich ein Grund, um aufzuatmen, aber Else war todunglücklich. Von Alfons, ihrem Mann, fehlte seit Monaten jedes Lebenszeichen – sie wusste nur, dass er verletzt worden war, einen Granatsplitter im Kopf  und ein Auge verloren hatte. Er war dann von französischer in belgische und von belgischer in russische Gefangenschaft weitergereicht bzw. ausgetauscht worden. Else lebte indessen gemeinsam mit ihren Kindern, der 16jährigen Inge, dem 13jährigen Joachim (mein Vater) und ihrem alten, kränkelnden Vater in einem winzigen Zimmer unter dem Dach ihres einst so hübschen Einfamilienhauses. Der Rest des Hauses war von russischen Soldaten beschlagnahmt und schon nach kurzer Zeit völlig verwüstet worden.

Tagsüber wurden Else und die „Kinder“ zur Arbeit auf den Feldern eingeteilt, abends fielen die drei erschöpft auf ihre Matratzen und weinten sich, meistens hungrig, in den Schlaf. Immer lauter wurden die Gerüchte, dass alle Deutschen demnächst gezwungen werden sollten, ihre Heimat zu verlassen und (zurück) nach Deutschland zu gehen. Else ließ sich davon nicht erschüttern. Was hatte sie schon noch zu verlieren? Sie und ihre Kinder mussten täglich bis zur völligen Erschöpfung arbeiten, ihrem Vater ging es schlechter und  schlechter, weil er die dringend benötigten Medikamente nicht bekam. Vor einigen Tagen hatten einige polnische Jungen aus der Nachbarschaft ihren Joachim auf offener Straße beschimpft und mit Steinen beworfen. Er war ihnen nur mit Mühe entkommen. Nein, in dieser Heimat sah Else keine Zukunft mehr. So empfand sie geradezu Erleichterung, als eines Tages die Anordnung der neuen polnischen Verwaltung bekanntgegeben wurde, nach welcher sich alle Deutschen Bewohner der kleinen Ortschaft, ebenso wie die der umliegenden Dörfer, an einem bestimmten Tag in sehr naher Zukunft mit gepackten Koffern am Bahnhof der Kreisstadt einzufinden hätten. Pro Person war lediglich ein Koffer mit persönlichem Besitz gestattet. 

Schnell hatte Else vier Koffer mit dem Nötigsten gepackt, aber ebenso schnell wieder ausgepackt und mit etwas anderem Inhalt erneut eingepackt, weil es in einer solchen Situation eben nicht leicht ist, zu entscheiden, was das „Nötigste“ sein könnte. Elses Angst, mit den Koffern kilometerweit zum Bahnhof laufen zu müssen, erwies sich hingegen als völlig unbegründet: Am Abreisetag standen überall Pferdekutschen, Ochsenkarren, Trecker und vereinzelt sogar Autos für den Transport bereit –  es schien, als ob die ehemaligen polnischen Freunde es gar nicht abwarten könnten, sich endlich der lästigen Besatzer zu entledigen.

Am Bahnhof angekommen, wartete leider eine unangenehme Überraschung auf die Familie: Hatte es bisher geheißen, alle deutschen Staatsangehörigen sollten Polen verlassen, so wurde jetzt bekanntgegeben, dass alle jüngeren und arbeitsfähigen Deutschen im neu abgesteckten Polen verbleiben sollten, um hier beim Wiederaufbau, bei  der Feldarbeit, aber auch bei allen übrigen schweren, körperlichen Arbeiten zu helfen. Es fehlten schließlich unzählige Männer, die im Krieg ihr Leben gelassen hatten. Da kamen ein paar kräftige, junge Frauen und einige, dem Kindesalter bereits entwachsene, junge Leute gerade recht, zumal diese Arbeitskräfte, abgesehen von Unterkunft und Verpflegung, kostenlos zur Verfügung standen.

Elses schlimmste Befürchtungen erfüllten sich, als sie selbst und ihre beiden Kinder der Gruppe der Zwangsarbeiter*Innen zugeordnet wurden, während ihr geschwächter Vater sich, ohne weitere Nachfrage, in der Gruppe der Ausreisenden wiederfand. Else wollte protestieren: „Halt, mein Vater kann doch nicht allein…“, aber sie fand kein Gehör. In ihrer Verzweiflung ließ sie sich auf einen der Koffer fallen und schluchzte hemmungslos. Diese Szene musste ein polnischer Offizier mitangesehen haben, den Else aus besseren Zeiten kannte. In einem unbeobachteten Moment beugte er sich zu ihr hinunter und raunte ihr zu: „Ich kenne Dich doch! Bist Du nicht die Schwiegertochter vom Gastwirt!?  –  Schnell, stellt Euch in die andere Gruppe!“ und damit war er auch schon wieder verschwunden.

Gerade noch rechtzeitig konnten sich Mutter und Kinder in die Ausreise-Gruppe einordnen, bevor sich der ganze Pulk Richtung Bahnsteig in Bewegung setzte, wo bereits ein überfüllter Güterzug auf die Zwangsausreisenden wartete. Von russischen und polnischen Soldaten wurden sie zur Eile angetrieben. Else hatte große Mühe, ihren gebrechlichen Vater vorwärts zu bewegen. Nach jeweils nur ein paar Metern blieb er stehen, schnaufte zum Erbarmen und stieß keuchend hervor, er könne auf keinen Fall weitergehen. Else fiel deshalb ein Stein vom Herzen, als Inge und Joachim sich freiwillig der vier Koffer bemächtigten, um diese an die Bahnsteigkante zu schleppen und von dort in den bereits völlig überladenen Güterzug zu wuchten.

Joachim hatte gerade mit größter Anstrengung und mit Inges Hilfe den letzten Koffer auf den schmierigen Boden des Güterwaggons gehievt, als plötzlich ein schriller Pfiff ertönte. Fast im gleichen Augenblick setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Joachim überlegte nur sehr kurz. Nein, er konnte die Koffer, in denen sich das letzte Hab und Gut der Familie befand, nicht allein davonfahren lassen. Mehrere Hände streckten sich dem Jungen aus der offenen Waggontür entgegen. Entschlossen ergriff Joachim zwei davon und ließ sich willig in den  Güterwagen ziehen. Hinter sich hörte er noch den angsterfüllten Schrei seiner Schwester Inge, dann nahm der Zug Fahrt auf und entfernte sich rasch vom Bahnhof…

Da hockte Joachim nun mutterseelenallein mit vier Koffern auf dem schmutzigen Boden des Güterwaggons – wie Schlachtvieh zusammengepfercht mit fremden Menschen. Ob er seine Familie jemals wiedersehen würde?  Wahrscheinlich wäre er bis dahin aber sowieso verhungert und verdurstet, denn er hatte weder Essen noch Getränke, weder Papiere noch Geld dabei. Er wusste ja nicht einmal, welches Ziel dieser Zug ansteuerte.

Joachim hatte in seinem bisherigen Leben stets verinnerlicht, dass Jungen nicht weinen dürfen, aber in diesem Moment gab es nichts, was ihm gleichgültiger gewesen wäre: Sein Kopf sank auf seine Knie und er ließ seinen Tränen freien Lauf. Für Joachim völlig unerwartet, schwappte daraufhin eine Welle des Mitgefühls durch den Waggon: jeder wollte dem Jungen plötzlich helfen und man beratschlagte gemeinsam, was zu tun sei. Schließlich einigte man sich darauf, dass Joachim am nächsten Bahnhof aussteigen und abwarten solle, ob seine Familie mit einem anderen Zug ebenfalls dort ankäme. Das klang in den Ohren des Jungen zwar nicht besonders vielversprechend, aber immerhin nach einem Plan…

Die Fahrt bis zum nächsten Halt erschien Joachim endlos. Schließlich erreichte der Zug aber doch einen völlig menschenleeren Bahnhof. Joachim sprang auf den Bahnsteig und ein junger Mann mit nur noch einem Bein half ihm, die Koffer auszuladen. Bevor es ihm allerdings gelang, den letzten Koffer hinauszureichen, rollte der Zug auch schon wieder an. Starr vor Entsetzen, verfolgte Joachims Blick den in der Ferne kleiner werdenden Zug. Da waren es nur noch drei… – ein Viertel seines augenblicklichen Lebens schien für den Jungen hoffnungslos verloren!

Nach vielen Stunden – es begann schon, dunkel zu werden und Joachim fror in seiner viel zu dünnen Bekleidung – verirrte sich endlich wieder ein Zug in den verlassenen Bahnhof. Tatsächlich hatten Joachims Mutter und Schwester die gleichen Überlegungen angestellt wie seine Helfer im Zug. Deshalb waren sie, den kranken Großvater im Schlepptau, auf gut Glück in den nachfolgenden Zug gestiegen, mit der Hoffnung, Joachim am nächsten Bahnhof wiederzutreffen.

Der Plan war aufgegangen. Joachim konnte sein Glück kaum fassen, als er seine Familie aus dem Zug klettern sah. Else und Inge rannten auf ihn zu, aber während seine Schwester ihm weinend um den Hals fiel, blieb Else einige Meter vor ihrem Sohn wie angewurzelt stehen, starrte auf den Kofferberg, wurde kreidebleich und rief: „… da fehlt doch einer!“

Zwei Tage später kam die Familie schließlich, nach vielen Irrungen und Wirrungen, in Niedersachsen an, wo sie zunächst bei Alfons’ Schwester Unterschlupf fand. Mein Urgroßvater, den ich nie kennengelernt habe und dessen Name mir beim besten Willen nicht einfällt, hat die Umsiedlung nicht mehr verkraftet. Er verstarb nur wenige Wochen nach der Ankunft in Deutschland.

Wenig später wurde auch mein Großvater aus der Gefangenschaft entlassen und kehrte, mit nur noch einem Auge, aber immerhin lebendig, zu seiner Familie zurück. 

Der fehlende Koffer aber blieb verschollen und das Geheimnis seines Inhalts hat meine Großmutter mit ins Grab genommen…

 

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