Von Armin Kahn
Es war am 18. August 1913 als mein Großvater während eines Italienurlaubes das Casino Monte-Carlo im Fürstentum Monaco besuchte. Er kannte die Regeln des französischen Roulettespiels, aber, da er kein Draufgänger war, der das Risiko schätzte, zog er es vor, nur mit geringen Einsätzen und ebensolchem Risiko zu spielen.
Er tauschte also 10.000 Francs, was damals etwa 1.200 Reichsmark entsprach, in 500 Francs-Jetons ein und lief, sich interessiert umschauend, durch das größte Casino der Welt, welches er an diesem Tag erstmalig betreten hatte. Viele Menschen der wohlhabenden und feinen Gesellschaft hielten sich an diesem Abend dort auf, obwohl es Montag war, was aber in dieser Gesellschaftsschicht wohl kaum eine Rolle spielte. An einem großen Roulettetisch waren noch einige Plätze frei und so setzte sich Julius, mein Großvater, an diesen Tisch und schaute erst einmal einige Minuten dem Spiel zu, den beachtlichen Jetonstapel vor sich aufgetürmt.
Ein Studienfreund von ihm, der häufig in Baden-Baden Roulette spielte, hatte ihm eine Art System empfohlen. Man setzt auf eine Farbe, also rot oder schwarz, und verdoppelt seinen Einsatz nach jedem Setzen. Verliert man, beginnt man wieder mit einem Jeton. So hatte er es ihm empfohlen. Dazu hatte er gesagt, solle man nie die Farbe wechseln – es sei denn, eine Farbe käme fünf mal direkt nacheinander, dann, so empfahl er weiter, solle man unbedingt die Farbe wechseln, denn nun stiege ja die Wahrscheinlichkeit ganz erheblich, dass als nächstes die andere Farbe käme.
Julius war noch unentschlossen welche Farbe er nehmen sollte, aber in der Zeit in der er bereits beobachtend am Tisch saß, war schon mehrmals rot gekommen, die Wahrscheinlichkeit, dass nun schwarz kommen würde, war also sehr hoch. In der nächsten Runde, die Julius’ Erste werden sollte, setzte er also einen Jeton auf schwarz und hoffte auf einen Gewinn. Es kam die „26, schwarz“ und Julius sah zufrieden, wie der Croupier einen zweiten 500er-Jeton aus seinen legte.
Nach dem „System“ seines Freundes ließ er beide Jetons dort liegen. Als nächstes kam die „15, schwarz“ und seine Jetons verdoppelten sich erneut. Julius wartete auf das nächste Ergebnis, dies lautete „4, schwarz“ und er musste unwillkürlich grinsen, weil das „System“ seines Freundes so gut funktionierte, obwohl er doch genau wusste, dass es kein System beim Roulette gab – sonst könnten die Casinos dieser Welt nicht existieren. Es gewinnt immer die Bank, so lautet die Maxime dieses Spiels, obwohl man eben, mit Glück auch mal gewinnen kann – aber eben nicht mit einem System. Dennoch blieb Julius dabei.
Als nächstes kam „2, schwarz“ und schon hatte er nun acht 500er-Jetons auf dem Noir-Feld zu liegen. Sollte er es wagen, den Stapel dort liegen zu lassen – oder besser nicht? Sein Freund hatte ihm geraten, es fünfmal hintereinander zu wagen und erst dann zu wechseln. Also blieb der kleine Stapel dort, wo er lag. Auf das Äußerste gespannt wartete Julius auf das nächste Ergebnis, er hielt sogar den Atem an deswegen. „17, schwarz“ war gefallen und er strich zufrieden seine sechzehn 500er-Jetons ein und besaß durch das „System“ seines Freundes nun bereits 17.500 Francs und hatte gerade mal etwas über fünfzehn Minuten gespielt. Er war so überwältigt, dass er erst einmal ein Spiel aussetzte.
Dem „System“ zufolge sollte Julius nun die Farbe wechseln und wieder mit einem Jeton beginnen. Genau so machte er es auch. Er setzte 500 auf rot und wartete, in den letzten Spielen war nun sechs mal hintereinander schwarz gekommen, nun musste doch auch mal wieder rot kommen. Es kam aber „8, schwarz“ und der 500er wurde vom Croupier weggezogen. Das war Pech, dachte sich Julius und setzte nun zwei 500er auf rot, es musste doch nun wirklich rot kommen. Es kam aber „6, schwarz“ und beide Jetons waren futsch. Das gibt es doch nicht, so dachte er und setzte nun vier Jetons auf rot. Es kam „13, schwarz“ und auch diese vier Jetons waren weg. Langsam bekam Julius einen roten Kopf, solche Zufälle waren doch schon sehr selten – zwangsläufig musste doch nur wirklich mal rot an der Reihe sein. Er setzte als nach dem „System“ nun acht Jetons auf rot – aber es kam „11, schwarz“ und auch diese wurden mit dem Rechen weggezogen.
Julius war innerlich erschüttert, er saß jetzt mehr als eine halbe Stunde am Roulettetisch und hatte zunächst fünfzehn Jetons hinzugewonnen, inzwischen aber bereits elf von denen wieder verloren. Es war also schon zehnmal hintereinander schwarz gekommen. Man muss kein Mathematiker sein, damit einem klar wird, dass nun auf gar keinen Fall mehr schwarz kommen konnte. Also setzte er nach dem bisher gespielten „System“ sechzehn 500er auf rot, das waren 8.000 Francs! Er hielt erneut den Atem an, denn vor ihm lagen nur noch acht Jetons mit einer „500“ darauf.
Es kam „24, schwarz“ und Julius atmete hörbar aus, weil er dieses Ergebnis einfach nicht fassen konnte. Elf mal schwarz hintereinander, das konnte doch nicht sein, oder etwa doch? Kurz entschlossen und jegliche Vernunft fahren lassend, schob er alle seine verbliebenen acht Jetons auf das rote Feld und schielte mit Schweiß bedeckter Stirn zum Croupier, der gerade „Rien ne va plus!“
rief. Alle Augen waren auf den Kessel mit der kreisenden Kugel gerichtet, die sich dann ihr Fach suchte, in der sie liegen blieb. „33, schwarz“ war das Ergebnis und Julius hatte keinen Centimes mehr von seinem Einsatz übrig.
Er war völlig fassungslos, dachte schon, dass da etwas nicht stimmen könnte und irgendjemand da mit einem Magneten oder ähnlichem etwas manipulierte. Aber die anderen Spieler am Tisch waren alle ebenso betroffen und wunderten sich. Alles redete durcheinander und es bildete sich bereits eine größere Gruppe von Zuschauern rund um diesen Tisch, die alle aufgeregt tuschelten.
Julius konnte nun nicht mehr mitspielen, war aber vernünftig genug nicht zur Kasse zu gehen, um noch weitere Jetons zu holen. Er hatte sich fest vorgenommen, nicht mehr als diese 10.000 Francs zu riskieren und dabei blieb er auch. Während er noch über diese lange Schwarz-Phase nachdachte kam schon das nächste Ergebnis „28, schwarz“. Er hätte jetzt schon wer weiß wie viel verloren, hätte er noch weiter spielen können. Also stand er auf und trat einen Schritt zurück, um das Spiel als Zuschauer weiter zu verfolgen. Eine Dame mit einem langen Kleid und einer Zigarettenspitze in der behandschuhten Hand setzte sich auf seinen frei gewordenen Stuhl. Sie setzte einen Stapel Jetons auf rot. So hätte er es auch gemacht, dachte er noch.
Zur allgemeinen Überraschung kam „22, schwarz“ und die Dame verlor den ganzen Stapel. Das Geraune und Getuschel wurde langsam lauter und auch Julius kratzte sich am Kopf und fragte sich, wie das nur sein konnte. Auch danach kam wieder schwarz und danach noch einmal. Julius verließ daraufhin entnervt das Casino und verstand nicht mehr, weshalb er sich zuvor darauf gefreut hatte.
Viele Jahre später erzählte mir mein Vater, dass sein Vater eine Abneigung gegen Glücksspiele aller Art hatte und sie Zeit seines Lebens gemieden hätte.
***
Es kamen danach noch etliche Zahlen – alle in schwarz – insgesamt sechsundzwanzig mal hintereinander; einmalig in der Geschichte des Roulettespiels – bis heute. Viele Spieler verloren an diesem Abend riesige Summen und die Mathematiker, die sich mit Wahrscheinlichkeiten und Statistiken beschäftigen nennen diesen Vorgang „gamblers fallacy“ zu deutsch Spielerfehlschluss. Das ist ein logischer Fehlschluss, dem die falsche Vorstellung zugrunde liegt, ein zufälliges Ereignis werde wahrscheinlicher, wenn es längere Zeit nicht eingetreten ist, oder unwahrscheinlicher, wenn es kürzlich/gehäuft eingetreten ist.
V1 7651 Zeichen
