Von Björn D. Neumann

Thomas radelte durch die zerbombte Stadt. Nur wenige der Häuser waren nicht beschädigt. Das Stadtbild erinnerte an ein von Karies zerfressenes Gebiss. Deutschland hatte einen Krieg verloren, in dem bis zum bitteren Ende selbst Alte, Frauen und Jugendliche im Endkampf verheizt wurden. Es änderte nichts an der Niederlage. Thomas hatte das Glück, damals nicht einberufen worden zu sein. Er kam an einer Mauer vorbei, auf der in großen, roten Lettern Nie wieder! gepinselt war. Für ihn wirkte es, als sei es ein Mahnmal, geschrieben mit dem Blut der unzähligen Opfer und stille Klage seiner Freunde und Kameraden. Jeden Tag kam er hier vorbei, wenn er zu seinem Großvater fuhr. Bepackt mit den kargen Vorräten, die seine Eltern erübrigen konnten. Sie sprachen schon lange nicht mehr mit Wolfram. Er sei ein Verbrecher und trage eine Mitschuld an der verzweifelten Lage.  Thomas hatte seinen Opa immer bewundert. Er erinnerte den schneidigen Mann, der mit ihm angeln und zelten war. Ihm immer wieder sagte, wie mutig und stark er sei. Als er sechs Jahre alt wurde, meldete er ihn in der Jugendorganisation der Partei an. Gegen den ausdrücklichen Wunsch der Eltern. Hart müsse er werden. Unbeugsam wie eine deutsche Eiche im Sturm. Thomas selbst hatte Gefallen daran gefunden. Es war für ihn ein großes Abenteuer. Kampieren in den Wäldern. Und Kameradschaft – Kameraden, wie er jetzt wusste, die viel zu jung sterben mussten.

Mit diesen Gedanken erreichte er sein Ziel. Er stellte das Fahrrad an die Straßenlaterne, nahm den Beutel vom Gepäckträger und klopfte an die Tür. Ein alter, gebeugter Mann öffnete. Wolfram war in den letzten 5 Jahren scheinbar um Jahrzehnte gealtert. Jede Niederlage des Terrorregimes hatte dem ehemaligen Parteifunktionär eine weitere Furche ins Gesicht gezeichnet. Aus dem dominanten Vorbild war ein gebrochener Mann geworden, dessen Augen nichts mehr von der unbändigen Entschlossenheit eines Herrenmenschen hatten.

»Komm rein, Junge«, bat er Thomas. »Es ist scheußlich kalt heute. Hast du Brennholz dabei?«

»Mama und Papa haben nichts gekriegt«, bat Thomas um Entschuldigung.

»Oder wollten für mich nichts bekommen, he?« Wolfram lachte freudlos auf.

»Ich habe Brot für dich dabei.«

»Und Wurst?«

Thomas zog wieder entschuldigend die Schultern hoch.

»Schon gut. Du kannst ja nichts dafür. Gegen meine Beziehungen in besseren Tagen, hatten deine Eltern aber nichts einzuwenden.«

»Sie sagen, du hättest es besser wissen müssen.«

»Was hätte ich wissen müssen?«

»Dass diese Partei verbrecherisch war.«

»So, hätte ich das wissen müssen? Sie hatten gute Argumente. Deutschland befand sich in einer schlimmen Wirtschaftskrise. Hohe Arbeitslosenzahlen, kaum bezahlbarer Wohnraum. Dafür immer mehr Nichtdeutsche, die uns ausbeuteten. Die Partei versprach uns Besserung. Selbst die Konservativen sind ’33 doch mitgelaufen. Und als wir an der Macht waren, wurde es tatsächlich besser.«

»Auf Kosten unschuldiger Menschen.«

Wolfram wich verlegen Thomas’ Blick aus. »Was jetzt alles zu Tage kommt, haben wir kleinen Leute doch gar nicht mitgekriegt. Woher denn?«

»Und dass deine Nachbarn plötzlich verschwunden sind, auch nicht? Mama sagt …«

Zornig schlug Wolfram auf den Tisch. »Was weiß Jutta denn? Sie war doch noch ein halbes Kind. Gar nichts weiß sie. Schleppt als Schwiegersohn auch noch einen Linken an und bringt uns alle in Gefahr. Ich habe alles getan, um die Familie durchzubringen. Und wo gehobelt wird …«

Jetzt war es Thomas, der wütend wurde. »Ich dachte, wenigstens zu mir wärst du ehrlich. Meine Freunde sind gestorben! Für einen Krieg, der sowas von sinnlos war. Ich hatte doch nur Glück.«

Wolfram lachte auf. »Glück. Hör’ sich das einer an. Glück, sagt er. Dein Glück war, dass ich meine Hand über dich gehalten habe. Oder warum glaubst du, dass du nicht eingezogen wurdest? Deine Freunde waren gleich alt wie du. Das verdrängt man gerne, nicht wahr? Mir hast du das zu verdanken. Mir!« Wolfram schlug sich mit der Faust mehrfach gegen die Brust. »Und der Krieg war sinnlos? Wirklich? Der Russe ist immer weiter nach Westen vorgerückt. Wir mussten unseren Lebensraum schützen!«

»Glaubst du, das macht es besser? Du und deinesgleichen habt unsere Jugend gestohlen! Lebensraum? Dass ich nicht lache! Ihr habt mit denen doch lange genug zusammengearbeitet, um Deutschland zu destabilisieren und die Demokratie abzuschaffen.«

»Nur aus Opfern entsteht etwas Großes.«

»Erspar mir doch diese Phrasen. Darauf bin ich als kleiner Junge reingefallen.«

»Genau, glaube lieber den Siegern. Glaube denen, die unser Volk schon immer am Boden sehen wollten.«

»Du wusstest, wohin das führt!«

»NOCHMAL! WOHER SOLLTE ICH DAS WISSEN?«

Thomas senkte die Stimme. »Hattest du eine Ahnung, dass Mutter noch alte Sachen von dir aufgehoben hat?« Wolframs Augen weiteten sich. »Auch Sachen, die unter der Partei verboten waren?« Thomas zog ein Buch aus seinem Hosenbund und warf es auf den Tisch. Der Nationalsozialismus – 1933 bis 1945 – Schulbuch für die 9. Klasse war der Titel. »Das ist wohl deins, wenn ich mich nicht irre? Jedenfalls steht dein Name drin. Sag’ also nicht, du hättest es nicht kommen sehen. Hier ist haarklein beschrieben, was sich genau hundert Jahre später wiederholt hat.« Dann zog er etwas aus seiner Hosentasche. Es war eine Anstecknadel. Mit den Worten: »Sag’ niemals wieder, ihr hättet es nicht gewusst! Das brauche ich ja wohl nicht mehr«, sagte Thomas und warf sie auf den Tisch. Dann drehte er sich um und verließ, ohne sich umzudrehen, die Wohnung.

Wolfram nahm die Nadel auf und betrachtete sie. Mit dem Finger strich er über den geschwungenen roten Pfeil auf blauem Hintergrund.

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