Von Agnes Decker
„Verdammt, sie wird doch nicht schon wieder…. Ich habe ihr schon tausendmal gesagt, dass sie nicht.“ Die Stimme von Annikas Mutter schraubte sich in unerträgliche Höhen. Ihr Gesicht war rot und ein Schweißtropfen lief ihr aus den Haaren ins linke Auge. „Komm sofort da raus“, brüllte sie durchs geöffnete Fenster. Dann ließ sie sich auf einen Stuhl fallen und fächelte sich mit der Hand Luft zu.
„Entspann dich, Mama“, sagte Annika. „Ich kümmere mich darum.“ Der letzte Teil ging in einem gewaltigen Knattern, Spotzen und Husten unter, das aus der Scheune drang und plötzlich mit einem „rooomm, rooomm, rooooomm“ verstummte. Über dem Hof breitete sich eine schwarze Rauchwolke aus. Dann flog die Küchentür auf.
„Gibt’s in dem ganzen gottverdammten Haus keinen Schraubenschlüssel Größe 13?“ Oma Inge stand wie ein Racheengel im Türrahmen. Ihre schwarze Lederjacke hatte glänzende Flecken und stank nach Benzin. Die runde verspiegelte Sonnenbrille saß schief und ihre hennaroten Haare standen nach allen Richtungen ab.
„Mama sagt, du sollst nicht mehr fahren“, murmelte Annika.
„Mama sagt viel, wenn der Tag lang ist“, erwiderte Oma Inge mit einem Seitenblick auf ihre Tochter, die sich immer noch Luft zufächelte. „Komm mit, Annika, ich zeig dir was.“
„Wehe“, begann Annikas Mutter. Aber da waren die beiden schon aus der Tür.
„Das Biest gibt gerade jetzt den Geist auf“, sagte Oma Inge und zeigte auf die etwas schief stehende BMW. Dann ging sie in die Hocke und fummelte in der Jackentasche. „Hier, damit könnte es auch gehen.“ Sie holte ein Werkzeug heraus und legte sich auf den Boden. Eine Zeitlang war Stille. Konzentriert schien sie an irgendetwas herumzuschrauben. „Yes“, rief sie plötzlich so laut, dass Annika erschreckt zusammenzuckte, und: „Das hält erstmal.“ Mit einem triumphierenden Blick tauchte sie so flink unter dem Motorrad auf, dass man meinen könnte, sie wäre ein junges Mädchen. „Los steig auf“, sagte sie zu Annika und hielt ihr einen Helm hin, den sie aus der Packtasche geholt hatte.
„Das geht nicht. Mama hat doch gesagt, du sollst nicht…“
„Fuck!“, brüllte Oma Inge. „Deine Mama hat auch mal gesagt, ich soll mir die Haare nicht mehr färben und mich altersgemäß verhalten. Altersgemäß. Ha. Ich soll mir wohl einen Rollator besorgen. Los, steig schon auf. Ich habe doch gesagt, ich will dir was zeigen.“
„Mann, Oma, du weißt doch, dass ich nicht mit dir fahren darf.“
„Man darf vieles nicht, mein Kind.“ Oma Inge setzte ihren Helm auf und zurrte den Gurt fest. „Die Frage ist nur, ob du es trotzdem willst.“ Dabei zwinkerte sie Annika zu. „Außerdem bist du mehr als volljährig. Zieh dir was Warmes an. Hier, nimm.“ Sie zerrte eine abgewetzte Lederjacke aus der Packtasche und warf sie Annika zu.
Annika zögerte. Dann zog sie Jacke und Helm an und setzte sich hinter Oma Inge, die den Motor startete. Knattern und Rauch füllten die Scheune. Annika konnte sich gerade noch festklammern, als das Motorrad plötzlich nach vorne schoss. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie ihre Mutter ihnen ein Stück hinterherrannte. Dann hatten sie den Vorplatz überquert und bogen auf die Landstraße ein.
Annika hatte nicht gefragt, wohin sie fuhren. Sie lehnte sich an Oma Inges schmalen Rücken und sah zu, wie Felder und Wald an ihr vorbeirauschten. Oma fühlte sich gut an, sehnig und muskulös. Wie jung sie noch wirkte. Vor zwei Monaten war sie 75 geworden, aber das glaubte ihr niemand, nicht mit den Lederklamotten und den kurzen roten Locken, von denen sich eine unter dem Helm hervorgestohlen hatte und im Fahrtwind flatterte. Wie oft hatte sie Annika von den 70er Jahren erzählt, als sie noch jung und mit ihrem klapprigen VW-Bus durch Europa gereist war. Und das als alleinerziehende Mutter. Von Festival zu Festival. Von Nächten unter freiem Himmel hatte sie geschwärmt, von Diskussionen über Liebe und Freiheit, von bunten Kleidern und noch bunteren Träumen. Und von den Demos gegen alles, was sich gegen Menschen und Freiheit richtete.
Als das Motorrad plötzlich bremste, tauchte Annika aus ihren Gedanken auf. Sie hatten die ersten Straßen der Kreisstadt erreicht. Die Ampel vor ihnen zeigte „Rot“.
„Wir sind gleich da“, rief Oma Inge ihr zu und lenkte die Maschine durch eine enge Gasse. Links und rechts ragten Jugendstilhäuser empor, mit schmiedeeisernen Gittern und bunten Stuckverzierungen. Das Motorrad holperte über das Kopfsteinpflaster. Annika musste sich darauf konzentrieren, ihr Gleichgewicht zu halten. Aber Oma fuhr gut, umsichtig und routiniert. Am Kirchplatz stellte sie das Motorrad ab und riss den Helm herunter. Ihre roten Haare leuchteten wie ein Heiligenschein. Sie verstaute beide Helme in einer der Packtaschen. Aus der anderen holte sie Pappschilder, die an Stöcken befestigt waren. „Hier, eins ist für dich, welches möchtest du? Ich habe zur Auswahl: „Gegen den Hass“ und „Omas gegen rechts.“ Beim letzten kicherte sie und reichte es mit einem Augenzwinkern an Annika weiter.
Von allen Seiten strömten jetzt immer mehr Menschen zusammen. Die meisten von ihnen Frauen, älter schon, mit grauen Kurzhaarschnitten. Annika hielt sich dicht hinter Oma, die ihnen den Weg durch die Menge bahnte. Auf einer Mauer standen ein paar Frauen und hielten ein Transparent in die Höhe. „Bollwerk gegen rechts“ und „Nie wieder Faschismus“, stand darauf. Eine winkte ihnen zu und schrie währenddessen in ein Megafon: „Wehrt euch, leistet Widerstand, gegen den Faschismus hier im Land.“ Oma Inge kletterte hinauf und reichte Annika die Hand. Etwas zögernd folgte diese und reihte sich zwischen den gestikulierenden und brüllenden Frauen ein. Eine fiel ihr besonders auf. Sie war größer als die anderen, stark geschminkt und trug über einer schmalen Lederhose, die ihre langen Beine fast unendlich wirken ließ, einen Kunstfellmantel mit Leopardenmuster. Eine schöne Frau, dachte Annika und lächelte zurück, als diese ihr zunickte.
Oma Inge hatte sich zwischenzeitlich eine Zigarette angezündet, die sie zwischen Zeigefinger und Mittelfinger hielt, mit der anderen streckte sie ihr Schild gut sichtbar in die Höhe. Wie die Freiheitsstatue erschien sie Annika und ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus.
„He, schön, dass du mitgekommen bist. Du musst Annika sein. Inge hat schon viel von dir erzählt. Ich bin übrigens Marlen.“ Es war die große Frau in dem Leopardenmantel.
„Hallo, ja ich bin Annika, die Enkelin“, sagte Annika und bemerkte, dass sie stotterte.
Vor ihnen packte ein Mann mit weißem Haar und einer blauen Schirmkappe gerade Gitarre, Mikrofon und eine Box aus, verkabelte alles und prüfte dann die Lautstärke: „Eins, zwei, eins, zwei“, klang es über dem Platz. Dann begann er zu spielen. Schon nach den ersten Tönen, stimmte die Menge ein. Oma Inge hatte sich das Megafon genommen und übertönte die Menge und fast auch den Gitarrenspieler mit ihrer rauen Stimme:
Annika kannte das Lied, hatte oft den Refrain mitgegrölt. Aber den Text kannte sie nicht auswendig. Jetzt hörte sie zu und schaute zu ihrer Oma – die dort mit den anderen Frauen um Freiheit und Gerechtigkeit kämpfte. Als der Refrain angestimmt wurde, stimmte auch Annika mit ein:
„Wie wöhr et, wemmer selver jet däät,
wemmer die Zäng ens ussenander kräät?
Wenn mir dä Arsch nit huhkrieje,
Ess et eines Daachs zo spät.“*
Oma Inge schaute zu ihr herüber und lachte. Dann schrie sie ins Megafon: „Arsch huh, Zäng ussenander“ und sprang dabei auf und ab wie ein Kind beim Seilhüpfen.
Annika ließ ihren Blick über die singenden Menschen gleiten. Auf der gegenüberliegenden Seite drifteten die Menge plötzlich auseinander. Polizei marschierte auf – Schulter an Schulter und schwer bewaffnet. Ein paar junge Leute hatten sich vermummt und begannen mit Steinen zu werfen. Schreie übertönten jetzt den Gesang.
„Wir sollten weg, hier gibt’s gleich Randale. Komm“, rief Marlen ihr zu , nahm ihren Arm und zog sie mit sich.
Annika drehte sich um. Oma Inge stand immer noch da, das Megafon in der Hand und brüllte hinein: „Arsch huh, Zäng ussenander.“
„Oma, wir müssen sie mitnehmen“, rief Annika und wollte sich aus Marlens Griff befreien. Aber die drängte sie weiter. „Inge weiß, was sie tut. Los, weiter.“
Die Uniformierten bildeten jetzt eine Mauer, kamen näher und näher, trieben die Menschen wie eine Herde Vieh vor sich hin.
Annika lief, gezogen von Marlen. Hinter ihnen das Geräusch von Schlägen und menschliche Schreien.
„Oma“, rief Annika immer wieder. „Oma!“
Marlen und sie hatten jetzt die Kirche erreicht. Das Tor war weit geöffnet. Ein Mann stand davor und winkte mit der Hand. „Schnell, schnell“, rief er. Die Menge drängte sich hinein. Dann fiel das Tor zu. Der Mann drehte den Schlüssel herum und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.
Marlen grinste. „Hier sind wir erstmal sicher – Kirchenasyl sozusagen. Es gibt auch ein paar gute zwischen all den Drecksäcken“, sagte sie und kniff ein Auge zu. „Und Bernhard ist so einer. Hätte auch nie gedacht, dass ich mal auf Pastoren stehen würde.“ Sie lachte. „Hoffentlich sind die anderen gut weggekommen.“
„Seit wann macht Oma das? Ich meine, Demos und so?“
„Wusstest du nichts davon? Ach ja, ich erinnere mich. Inge hat erzählt, dass du nur noch selten nach Hause kommst.“ Marlen schaute Annika durchdringend an. „Seit vielen Jahren. Ihr Vater – also dein Urgroßvater war bei der SS-Totenkopfdivision“, weißt du. „Daran trägt sie schwer.“
„Ich habe mal sowas gehört. Aber dafür kann doch Oma nichts. Sie hat doch keine Schuld.“
„Nein, sie nicht, aber sie will Verantwortung tragen für das, was geschehen ist. Durch ihn. Und all die anderen Täter. Sie alle waren irgendjemandes Großväter, Väter, Ehemänner und Brüder. Man kann es nicht wiedergutmachen, aber dafür kämpfen, dass es niemals mehr so wird wie damals. Entschuldige kurz.“ Marlen zog ihr Handy aus der Manteltasche. „Inge hat geschrieben – sie sind in Sicherheit, wir treffen uns später im Flamingo. Kommst du mit, Annika?“
*“Arsch huh, Zäng ussenander“ Song der Kölner Band BAP
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Für Interessierte – hier der Text mit Übersetzung: https://bap.de/songtext/arsch-huh-zaeng-ussenander/
