Von Angelika Brox
Es geschah im Herbst 1950. Ich war neun Jahre alt. Eigentlich begann die Geschichte schon früher. Vielleicht, als mein erster Vater meine Mutter heiratete. Oder als er in den Krieg ziehen musste. Mutter und ich haben danach alles gemeinsam durchgestanden. Wir wohnten in einer Ruine, zerschossen in endlosen Stellungskämpfen. Vor den leeren Fensterhöhlen hingen Teppiche, die Tür bestand aus Brettern. Auch die Häuser der Nachbarn waren fensterlose Ruinen inmitten von Trümmerfeldern. Zu essen gab es wenig, oft mussten wir hungern.
Als endlich der Frieden kam, zogen wir die brauchbaren Steine aus den Trümmern, klopften sie glatt und stapelten sie auf. Sobald es wieder Zement zu kaufen gäbe, wollten wir unser Häuschen neu aufbauen.
Eines Nachmittags klopfte es an unserer Brettertür. Draußen stand ein zerlumpter Mann in einer fadenscheinigen Uniform, die ihm viel zu weit am Körper hing. Mit seiner grauen Haut und den eingefallenen Wangen sah er aus wie ein Gespenst.
„Wir brauchen keine Soldaten“, sagte ich schnell und wollte die Tür wieder zudrücken.
„Heißt du Martin?“, fragte der unheimliche Besucher.
Ich wollte nicht wissen, woher er das wusste, sondern antwortete: „Meine Mutter ist nicht da. Sie arbeitet beim Bäcker.“
„Ist gut, ich warte vor dem Haus auf sie.“
Durch einen Spalt in der Tür beobachtete ich, wie er sich auf die Steinmauer setzte.
Als Mutter herankam, erhob er sich. Sie blieb stehen. Wie erstarrt. Dann ließ sie die Einkaufstasche fallen und rannte auf ihn zu.
„Richard!“
Sie schlang die Arme um seinen Hals und er legte vorsichtig seine Hände um ihre Schultern.
Da wusste ich Bescheid.
Beim Abendessen legte Mutter ein frisches Brot auf den Tisch. Wie jeden Abend nahm ich ein großes Messer aus der Schublade und setzte es an, um die erste Scheibe abzuschneiden.
Der Mann namens Richard streckte die Hand aus.
„Soll ich das nicht lieber machen?“
Eisern umklammerte ich den Griff.
„Lass den Jungen das Brot schneiden“, sagte Mutter. „Er kann das gut.“
Wir sprachen wenig, beim Abendessen und an den Tagen darauf. Mutter fragte ihn nie, was er erlebt hatte. Wenn er nachts stöhnte, sich im Bett wälzte und „Deckung!“ schrie oder „Walter!“, weckte sie ihn und sagte leise: „Schsch, alles ist gut, es ist vorbei.“
Sie wollte gern, dass ich ihn Vater nannte, doch das brachte ich nicht über die Lippen. Ich beobachtete ihn heimlich und konnte es nicht fassen, dass dieser Mann der stattliche Soldat sein sollte, dessen Fotografie Mutter all die Jahre gehütet hatte wie eine Kostbarkeit.
„Lass ihn nur“, sagte er, „die Dinge brauchen ihre Zeit.“
Tagsüber ging er auf Arbeitssuche, danach saß er in der Küche und starrte vor sich hin.
Einmal schlich er sich mit Beginn der Dämmerung hinaus. In sicherem Abstand folgte ich ihm, Dunkelheit und Nieselregen schützten mich.
Unser Weg endete vor der großen Holzbaracke, die früher dem Reichsarbeitsdienst gehört hatte. Sie war das einzige Gebäude im Eifeldorf Schmidt, das die Angriffe heil überstanden hatte. Sonntags wurde sie als Notkirche benutzt.
Dort trat Richard ein.
So lautlos wie möglich tastete ich mich zur Längsseite, drückte mich an die Bretterwand und lugte durch das angelehnte Fenster. Nur schemenhaft sah ich einige Gestalten um einen Kanonenofen sitzen. Jemand entzündete eine Karbidlampe – Goldzahn-Hubi, ein Mann, der immer auf die Füße fiel wie eine Katze. Nun zog er eine Flasche aus der Jackentasche, reichte sie herum und sagte: „Knolli-Brandy, eigene Herstellung.“
Während jeder einen Schluck trank, beugte Hubi sich vor und erklärte mit gedämpfter Stimme: „Morgen geht’s los. Das schlechte Wetter müssen wir ausnutzen. Die Douaner sind wasserscheu und verkriechen sich lieber ins Trockene. Ihr nehmt am Nachmittag den Postbus bis Simmerath, steigt um in Richtung Fringshaus, der Fahrer ist eingeweiht und lässt euch vorher raus, dann ab in die Büsche und über die Grenze.“
„Und was ist drin?“, fragte Richard.
„Ungefähr zwanzig Mark Gewinn pro Kilo, minus meinen Anteil für die Organisation und die Kontakte.“
„Kannst du mir was leihen? Wir haben nichts, alles Tauschbare ist schon für Lebensmittel draufgegangen.“
„Du kannst als Läufer für mich arbeiten.“
„Was muss ich da machen?“
„Du kaufst den Kaffee in meinem Auftrag und kriegst fünfzig Mark für einen 15-Kilo-Sack.“
Richard zögerte.
„Überleg’s dir.“ Goldzahn-Hubi zuckte die Achseln.
Schnell rechnete ich nach. Im Kopfrechnen war ich gut. Dann fiel mir mein Schatz ein und unwillkürlich stieß ich einen Pfiff aus.
Polternde Schritte auf dem Holzboden. Hubi riss das Fenster auf.
„Wer ist da? – Ach, du.“
Ins Innere des Raumes rief er: „Richard, dein Sohn!“
Mit klopfendem Herzen stolperte ich durch das Gras davon und rannte nach Hause.
Mutter schlief schon. Ich setzte mich an den Küchentisch und wartete.
Kurz darauf kam Richard herein. Sein bleiches Gesicht zeigte keine Regung.
„Warum spionierst du mir nach?“
„Ich … ich will mitgehen.“
„Morgen, als Läufer? Das ist viel zu gefährlich. Für Schmuggler gibt es nicht nur braune Bohnen, sondern oft genug auch blaue. Und du bist noch ein Kind.“
„Mutter sagt, ich arbeite wie ein Mann.“
„Sicher, aber jetzt bin ich ja wieder da.“
Ich stand auf und zündete eine Petroleumlampe an.
„Wir brauchen den Hubi nicht. Ich zeig dir mal was.“
Leise tappten wir durch den Kellergang. Am Ende räumte ich einen Stapel Bretter von der Wand und deutete stolz auf drei prall gefüllte Kartoffelsäcke. Richard öffnete einen Sack nach dem anderen und seine Augen wurden immer größer.
„Kupferkabel?“
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
Er schaute mich ungläubig an.
„Woher hast du die?“
„Aus einem Sherman-Panzer. Den haben die Amis hinter Brandenberg stehen gelassen.“
„Das sind über acht Kilometer von hier! Du musst mindestens zehn Mal gelaufen sein. Deine Mutter hat mir nichts erzählt.“
„Sie hätte es mir verboten, wegen der Tretminen überall im Wald.“
Er überlegte.
„Also morgen. Ich rede mit deiner Mutter.“
Es war nicht leicht, Mutter zu überzeugen. Schließlich stimmte sie schweren Herzens zu und das Abenteuer konnte beginnen.
Wir zogen mit dem ersten Sack Kupfer auf Einkaufstour und bekamen dafür in Belgien dreißig Kilo Kaffee. Echten Röstkaffee. Braunes Gold. In der Bundesrepublik ein kleines Vermögen wert. Davon konnten wir unser Haus wieder aufbauen und genug zu essen kaufen.
Der Rückweg war mühsam. Bald schmerzten meine Schultern vom Gewicht des Rucksacks. Zur Aufmunterung stellte ich mir die ganze Zeit vor, wie Mutter sich freuen würde.
Kalter Westwind peitschte uns den Regen ins Gesicht. Es war stockdunkel. Wir gingen am Rand der Landstraße entlang, um etwas Orientierung zu haben – jederzeit bereit, in Deckung zu springen.
„Geht’s noch?“, fragte Richard.
Ich nickte mit zusammengepressten Lippen.
„Jetzt kommt der schwierigste Teil“, sagte er. „Fünf Minuten etwa bis zur Grenze. Bleib ganz dicht hinter mir!“
Wir tauchten in den Wald ein und tasteten uns durch Gestrüpp und Unterholz, bis wir vor dem Stacheldrahtzaun standen. Mit zwei Ästen bogen wir die Drähte auseinander, warfen unsere Rucksäcke durch die Lücke, kletterten hinterher und waren zurück auf der deutschen Seite.
Ich wollte gerade aufatmen, als es rechts von uns raschelte. Blitzschnell duckten wir uns ins Farnkraut. Ich lauschte so angestrengt, dass ich mein eigenes Herz klopfen hören konnte.
Die Geräusche entfernten sich.
„Nur ein Reh“, murmelte Richard.
Nahezu blind huschten wir durch den Wald. Plötzlich traf mich ein Ast im Gesicht und zerkratzte mir die Wange.
„Aua“, entfuhr es mir. Erschrocken presste ich eine Hand vor den Mund.
Wieder verharrten wir einige Minuten bewegungslos.
Da – Füße in schweren Stiefeln stapften durch das Laub!
Zollfahnder auf Patrouille!
Sie kamen näher!
Richard warf sich lang auf den Boden und presste das Gesicht ins Moos. Ich machte es ihm nach und traute mich kaum zu atmen. Der Geruch von Moder und Pilzen drang in meine Nase.
Die Schritte entfernten sich und ich wollte aufstehen.
Richard hielt mich fest.
„Warte, vielleicht ist es eine Falle“, flüsterte er.
Feuchte Kälte kroch in meinen Körper. Ich begann zu zittern.
Endlich stupste Richard mich an, wir standen auf und hasteten weiter. Alle paar Meter stoppten wir und horchten.
Nach einer Weile wurde der Wald lichter. Nun konnte es nicht mehr weit sein.
„Halt! Stehen bleiben!“, schrie eine Stimme.
Wir rannten los. Richard schlug Haken zwischen den Bäumen, ich hetzte hinterher. Der Rucksack trommelte schwer auf meinen Rücken.
Rumms – stolperte ich über eine Wurzel und knallte auf die Erde.
Sofort kehrte Richard um und riss mich hoch.
„Stehen bleiben oder ich schieße!“
Hand in Hand jagten wir durch den Wald wie die Hasen.
Ein Schuss krachte.
Noch einer.
Richard stürzte zu Boden und rührte sich nicht mehr.
Ich kniete mich neben ihn und rüttelte an seiner Schulter.
„Nicht sterben! Bitte!“
„Aufstehen!“
Ich wandte den Kopf und erkannte zwei dunkle Gestalten in Uniform. Eine Taschenlampe wurde eingeschaltet und blendete mich.
Langsam richtete ich mich auf.
Richard öffnete blinzelnd die Augen, griff sich an den linken Arm, dort, wo sich im Jackenstoff ein feuchter Fleck ausbreitete, rollte sich zur Seite und kam mühsam auf die Knie. Einer der Zöllner beugte sich hinunter, packte ihn am rechten Ellbogen und wollte ihn hochziehen. Im gleichen Moment riss Richard ihm die Pistole aus der Hand und richtete sie auf seine Brust. Dem zweiten Zöllner rief er zu: „Waffe fallen lassen!“
Nach kurzem Zögern warf der Mann seine Pistole auf den Boden.
„Nimm sie, Martin!“
Meine Beine wollten unter mir nachgeben.
„Du schaffst das, Junge!“
Ich biss die Zähne zusammen und hob die Waffe auf.
Richard stand auf. „Und jetzt haut ab!“, befahl er.
Wortlos wandten die Zöllner sich um und verschwanden zwischen den Bäumen.
Wir rannten, bis wir die Landstraße erreichten. Die Bushaltestelle lag in Sichtweite.
Keuchend blieben wir stehen.
„Wir haben es geschafft …“ Ich lächelte ihn an. „… Vater.“
V2
9955 Z.
