Von Florence Siwak

An die ersten Jahre meiner Kindheit  kann ich mich nur verschwommen erinnern – wie die meisten Menschen wohl. Klarer werden die Erinnerungen ab  meinem 5., 6. Jahr. Wenn ich diese Zeit überschreiben sollte, würde in großen Buchstaben das Wort ANGST stehen.

Angst vor allen, auch Angst vor der Angst. Furcht, in den Keller zu gehen, zum Beispiel. Es war durchaus üblich in meiner Kindheit, dass auch die kleineren Kinder kräftig mit anpacken mussten. Einkaufen, Holz aus dem Keller holen, kleinere Arbeiten eben. Aber der Keller!!! Dafür gab es sogar einen Grund. Mein älterer Bruder fand es an einem grauen Wintertag, als wieder mal Holz für den Kachelofen benötigt wurde, spaßig, mich einzuschließen. Erst nach dem obligatorischen Kaffeetrinken um vier Uhr, als meine Oma und meine Mutter mich suchen gehen wollten, fiel ihm ein, dass ich ja vielleicht noch unten sein könnte. Natürlich gab es den Hintern voll und Stubenarrest, aber die Freude, mir eins ausgewischt zu haben, wog das auf.

Das war Angst Nummer Eins. Ich nummerierte meine Ängste, weil ich dachte, vielleicht reduzierte sich die Zahl ja irgendwie mal.  Zählen konnte ich nämlich schon – bis Hundert etwa. Etwas lesen auch. Dumm war ich also nicht. Vielleicht war das ja mein Problem. Wenn ich Mutter und Großmutter zögernd etwas von meinen Gedanken erzählte, hieß es immer nur. „Denk nicht so viel nach. Du grübelst zu viel. Das ist nicht gut…“ Einen Vater gab es nicht. Gegeben hatte es ihn natürlich schon, aber er war nicht sicht- und greifbar. Opa. Ja, Opa war da, aber bei dem musste alles laufen, klappen eben. Unebenheiten, Zweifel kamen in seiner Welt nicht vor. Vielleicht kam ich ja in seiner Welt auch nicht vor.

Angst Nummer Zwei war die Furcht, nachts allein in meinem Bett zu liegen, zu versuchen, die Dunkelheit mit meinen brennenden Augen zu zerschneiden. Alles bewegte sich in der Wohnung, knarrte. Das ist völlig normal, meinten Oma und Mama. Das ist das Möbelholz, das arbeitet nachts. Sollte es doch arbeiten, aber bitte, ohne mir Angst zu machen. So saß ich also manche Nacht in der hintersten Ecke meines Bettes, mein Kopfkissen auf den Schoß gepresst und beobachtete die Schranktür, die nicht mehr richtig schloss. Irgendwann, als ob ich sie hypnotisiert hätte, schwang sie leicht auf und quietschte dabei. Es klang wie ein Kichern, als ob Werner, mein Bruder, sich im Schrank versteckt hatte. Hatte er aber nicht; ich konnte ihn durch die Wand im Nebenzimmern atmen und wimmern hören. Vielleicht hatte er ja auch Alpträume – hoffentlich!

Wenn es schon hell wurde, fiel ich dann in einen leichten Schlaf. Ich hätte als Fallbeispiel dafür herhalten können, dass mangelnder Schlaf bei Kindern das Wachstum behinderte. Ich war klein und blieb es auch. Nicht zwergenhaft, aber immer die Kleinste in der Familie. Deshalb waren Oma und Mama auch nicht wirklich böse, wenn ich mein Bett wieder mal durchnässt hatte, weil ich mich nicht an der Schranktür vorbei getraut hatte im Dunkeln. Zwar versuchte ich, vor dem Schlafengehen, meine Blase bis auf den letzten Tropfen zu entleeren, aber auch ohne den nötigen Schluck Wasser zur Nacht war meine Blase ein wahres Füllhorn an Flüssigkeit.

Dann Angst vor nächtlichen Besuchern, Trollen, Feen – bösen natürlich. Hier fand ich heraus, dass ich ruhiger wurde, wenn ich mich in den Bettbezug einknöpfte und mich auf das Zudeck vor mein Bett legte. So schlief ich manchmal recht gut.

Und ich träumte. Am besten erinnere ich mich an zwei Träume. Ich lief durch den Park und sah auf einer Bank weit hinten meine Oma und meine Mutter sitzen. Ich winkte und rief, aber sie unterhielten sich weiter. Ich versuchte, schneller zu werden, ich schwebte über den Sandboden, flog fast, wenn auch nicht hoch. Aber immer wenn ich näher gekommen war, standen sie auf. Ohne mich zu beachten – vielleicht sahen sie mich ja nicht – gingen sie weiter. Ich konnte noch so schnell fliegen, ich erreichte sie nicht, also flog ich allein weiter, über sie hinweg und sie wurden ganz klein – wie Ameisen.

Wenn ich aus diesem Traum erwachte, spürte ich meinen Körper nicht mehr. Es war wunderbar, so leicht zu sein.

Der zweite Traum handelte von meiner dritten Angst. Wir wohnten im vierten Stock eines Altbaus mit einem dunklen, für mich geheimnisvollen Treppenhaus. Die Wohnungstüren – zwei auf jeder Etage – waren aus schwerem, dunklen Holz. Fast alle Mieter hatten Messing farbene Namensschilder an diesen Türen. Ich war gern auf der Straße und spielte mit anderen Kindern. Komischerweise war ich beliebt. Die meisten mochten mich. Vielleicht weil ich so klein war und mich nicht vordrängte. Aber vorher musste ich an diesen Türen vorbei. Einige Namen waren in verschnörkelten Buchstaben geschrieben, die ich mit meinen Lesefähigkeiten noch nicht entziffern konnte. Ich wusste, dass im dritten Stock Familie Heidrich wohnte und darunter Frau Schlosser, aber die Namen an der Tür sagten mir was anderes. In einer Wohnung wohnte der Teufel, in der anderen wahrscheinlich irgendein Troll, der nur auf mich wartete, um mich zu packen. Also schwang ich mich am Geländer von der obersten Stufe nach unten. Zwölf Stufen waren es und ich schaffte es in drei Schwüngen. In echt. In meinem Traum setzte ich vertrauensvoll auf der obersten Stufe an, sprang ab und glitt in einem Schwung, in einem Flug vorbei an den gefährlichen Türen.

Wenn ich wieder zurück in die Wohnung musste – wir durften damals bis zum Abendessen draußen bleiben, wartete ich, bis es im Haus dämmerig, aber noch nicht ganz dunkel war und kroch an den Türen vorbei, unter den Briefschlitzen.

 

Man sieht also, ich war ganz gewitzt, was das Überleben anging. Überleben, groß werden, erwachsen werden, mussten ja alle und wer weiß, mit welchen Ängsten die anderen zu kämpfen hatten. Und ob die zum Ausgleich im Traum fliegen konnten.

Auch ich wurde älter, aber nicht viel größer. Das war mir egal, meine Freunde und  Männer überragten mich alle um Haupteslänge. Große Männer mochten kleine Frauen, meinte meine Mutter immer. Das stimmte wohl.

 

Meine Ängste habe ich zwar immer noch, aber ich lebe ruhiger damit. Ich gehe eben einfach nicht in einen dunklen Keller. Nachts mag ich es nicht ganz dunkel und der Schalter der Nachttischlampe muss immer griffbereit sein. Oft halte ich ihn beim Einschlafen in der Hand. Und – meine Blase ist immer noch recht klein; ein- zweimal musste ich des Nachts ins Bad – immer mit Licht natürlich.

 

Und immer noch habe ich diese Träume, in denen ich fliegen kann. Nur fliege ich heute höher und spucke auf die Menschen hinunter, die nicht auf mein Rufen reagiert haben.

Dann wache ich mit einem Lächeln auf.