Von Katrin Thelen

Ich würde ja gern behaupten, ich hätte eine wirklich besondere Gabe. Ein außergewöhnliches Talent, mit dem sich im besten Fall auch noch viel Geld verdienen lässt. Hab ich aber nicht. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.

So kam ich auch an jenem Donnerstagnachmittag aus der Uni nach Hause, ohne einen Geniestreich im Kopf oder auch nur im Ansatz Millionen auf der Bank zu haben. Als Studentin der Betriebswirtschaftslehre im 6. Semester sollte man dennoch mal einen Blick in die Zukunft riskieren und das Jonglierenkönnen mit Zahlen auch für das Errechnen der eigenen Karrierechancen einsetzen. Doch dies war, so oft ich es wagte, für mich unterm Strich eher ernüchternd und daher wenig empfehlenswert.

Fest im Griff des Alltags schloss ich die Tür des Mietshauses auf, in dem ich mir dank meines Nebenjobs an der Uni eine kleine Bude leisten konnte und stolperte just hinter der Türschwelle fast über Frau Gruber. Meine fast 80jährige Nachbarin schien dort auf mich gewartet zu haben und kam ohne Umschweife zur Sache: „Frollein Maler, schön, dass ich sie treffe. Können sie mir noch einmal meinen Einkaufszettel schreiben, bitte, meine Gicht, sie wissen doch…“ Schon drückte sie mir einen Bleistiftstummel und die freie Rückseite des Zettels von letzter Woche in die Hand und diktierte: „ Milch, 6 braune Eier, 3 Scheiben Holländer…“ Ich hatte das Gefühl, auch gleich einen Gichtschub zu verspüren mit dem Stiftstummel in der Hand in unbequemer Haltung auf den zugigen Treppenstufen, schrieb aber ohne Protest und betont lesbar alles brav mit. Am Ende reichte ich ihr die recht kurze Liste und sie bedankte sich strahlend: „Sie sind eine so nette junge Frau.“ Ich ließ mir widerspruchslos einen Euro und eine Orange in die Hand drücken, bevor ich weiter zu meiner Wohnung in der zweiten Etage ging. „Das wäre schon schön“, dachte ich unerwartet sentimental beim Betreten meines kleinen Heims, „Geld zu verdienen, indem man anderen eine Freude macht.“

Als ob ich es laut gesagt hätte, klopfte einige Tage später der Nachbar von gegenüber. Er hätte von Frau Gruber gehört, ich sei so hilfsbereit und ob ich ihm wohl einen Gefallen tun könne. Er wolle gern ein Schild im Flur aufhängen, das die Nachbarn zum leisen Türeschließen auffordere, aber freundlich solle es schon sein. Er wolle ja niemanden verärgern, sondern im Gegenteil nur seine Ruhe. Ich versprach es ihm und druckte am selben Abend noch ein A4-Blatt mit freundlicher Schriftart und bunten Emojis. Das Blatt fand ich am nächsten morgen zerknüllt in der Biotonne, wohl die deutliche Antwort der Adressaten, nonverbal und unmissverständlich.

In der nächsten Woche traf ich im Hof bei den Mülltonnen eine Frau aus dem Nachbarhaus. Überschwänglich hielt sie mir den Deckel der Biotonne auf. Sie wäre so verzweifelt, erklärte sie mir, doch der Herr Munderstedt – mein Türnachbar – hätte erwähnt, ich sei so klug. Sie käme aus Griechenland und könne die deutsche Sprache nicht gut schreiben, ob ich für ihren Sohn eine Schulentschuldigung formulieren könne. Leicht gebauchpinselt von Herrn Munderstedts Einschätzung meines IQs trotz der Niederlage in der Flurtür-Krise schrieb ich noch am gleichen Tag eine Art wiederverwendbaren Lückentext und erklärte ihr das Vorgehen. Sie bedankte sich übermäßig und ließ mich erst gehen, als ich ihre übergroße Tüte gefüllt mit gerollten Weinblättern, Zaziki, Schafskäse und einer Flasche Wein als Dankeschön annahm.

Als ich mir all die Köstlichkeiten am Abend schmecken ließ, landete ein dicker Klecks Zaziki auf meinen Vorlesungsunterlagen aus der Wirtschaftsinformatik. Mit einem Stück Fladenbrot nahm ich ihn auf und feilte in Gedanken an meinen Zukunftsplänen, die immer weniger aufbauten auf den Daten und Zahlen, aus denen das Blut eines Studierenden der Betriebswirtschaftslehre in der Mehrheit bestehen sollte.

Ich bekam die Gelegenheit mein Schicksal herauszufordern. Es hatte die Gestalt von Frau Grubers Tochter. Der Blumenstrauß, den sie mir entgegenstreckte, verhieß eine größere Bitte: Ich sei doch so geschickt und auch noch mit den modernen Medien gut vertraut, sie würde bald runden und zu ihrem Fuffzigsten die Bagage mit einer unerwarteten Einladung überraschen wollen. Ich wagte den entscheidenden Schritt nach vorn und rechnete ihr genauso freundlich wie geschäftsmäßig Arbeitszeit, Druckkosten und Materialaufwand vor, nur um ihr im gleichen Atemzug ein aus meiner Sicht unverschämten Betrag vorzuschlagen. Ohne auch nur im Geringsten zu zögern, gab sie mir begeistert die Zusage und das Geld. Ganz ehrlich: Ich war baff. So einfach war das? Geld zu verdienen mit Dingen, die man nicht mal unbedingt gut, sondern immer nur besser können muss als der Auftraggeber?

Am nächsten Tag ließ ich alle Vorlesungen ausfallen und kreierte Frau Grubers Tochter eine Geburtstagseinladung, die sich wirklich sehen lassen konnte. Fast überflüssig zu erwähnen, dass ich zur Party eingeladen, wie ein Ehrengast behandelt und von vielen Gästen wohlwollend in ihr imaginäres So-jemanden-sollte-man-sich-merken-Notizbuch aufgenommen wurde.

Ich hatte mir nie Gedanken darum gemacht, bei welch kuriosen Dingen Menschen Hilfe brauchen, wenn es ums Schreiben geht. Ich lieh ihnen allen meine Worte, schenkte ihnen meine Formulierungen und erfand für sie Argumentationen für oder gegen Sachen aller Art. Ich wurde Expertin für die Begründung eines Kirchenaustritts, obwohl ich selbst mit meiner Religion durchaus in Frieden lebte. Mein Leserbrief an die örtliche Tagespresse zum Thema Hausärztemangel für Menschen mit eingeschränkter Mobilität wurde zum meistkommentiertesten der Woche. Mit Stolz erfüllte mich die erfolgreiche Beschwerde an eine Autoversicherung, die Frau B. ihren Schaden zunächst nicht zahlen wollte, dank meiner Beharrlichkeit und Wortwahl den geforderten Betrag aber dann doch kommentarlos überwies.

Apropos kommentarlos: Wahrhaft erstaunt stellte ich fest, wie machtvoll selbst Worte sein konnten, die nicht gesagt wurden. Eine meiner Kundinnen überließ mir den Flirt mit ihrem Blind Date, jedenfalls den mit Stift und Papier. Ich entschloss mich dazu, viele Fragen zu ihrem Aussehen und ihren Interessen bewusst nicht zu  beantworten und mit rätselhaften Andeutungen seine Neugier noch weiter zu steigern, ohne dabei Versprechungen zu machen. Der Plan ging auf, das erste Date lief blendend.

Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass das für das zweite Treffen nicht mehr zutraf, hatte ich doch ein paar seiner Anzüglichkeiten für mich persönlich als unter der Gürtellinie bewertet und mit spitzer Zunge kritisiert. Das kam, außer bei meinem persönlichen Gewissen, nicht gut an.

Der schmale Grat zwischen Macht und Manipulation pushte mein Adrenalin, wann immer ich eine neue Herausforderung annahm. Ende gut, alles gut? Leider nein.

Durch meine vielen Aufträge, Dienstleistungen und Gefallen, die mich manchmal mit einer finanzielle Spritze, manchmal eher mit Genugtuung von Gerechtigkeit entlohnten, litt mein Studium zusehends, und ich übersah die Frist zur Anmeldung meiner Abschlussarbeit. Ein weiteres Semester stand mir bevor, halb so schlimm, hätte ich nicht meinen Job in der Unibibliothek fristgerecht zum Studienabschluss etwas zu rechtzeitig gekündigt. Dort gab man mir den heißen Tipp, sich einen Job im zukünftigen Arbeitsgebiet zu suchen, um den Nachteil des nun verlängerten Studiums auszugleichen. Eine logische Idee, wie ich fand. Ich schob meine Zweifel, ob ich überhaupt das richtige Studienfach gewählt hatte, zunächst beiseite. Schließlich lag der Abschluss und der beruhigende monatliche Gehaltscheck zum Greifen nahe. Schnell fand sich eine fast schon ansprechende Arbeitsstelle und es war von Bedeutung, sich jetzt außergewöhnlich viel Mühe mit Inhalt und Formulierung der Bewerbung zu geben. Ein Kinderspiel, dachte ich. Ich musste ja nur tun, was ich für meine vielen Nachbarn, Freunde und für fast Unbekannte getan hatte: Hochstapeln, protzen, tief in die Rhetorikkiste greifen, übertreiben, fordern, säuseln, Visionen erzeugen und Neugier provozieren.

Vielleicht liest man es schon zwischen den Zeilen, es gelang mir nicht. Warum? Ich schaffte es einfach nicht, mich selbst zu täuschen, und somit gelang es mir ebenfalls nicht, treffend und überzeugend in meiner Bewerbung zu brillieren. Ich bekam den Job nicht.

Mein Studium passte nicht recht zu mir, vielleicht hat es das nie wirklich. Sollte ich einfach weiter mit Schreiben mein Geld verdienen? Ghostwriting auf dem next Level? Doch wie lang würde es noch dauern, bis die Grubers, Munderscheidts und all die anderen ChatGPT als verlässliche und kostengünstige Alternative entdecken würden? Oder mein fehlendes Talent oder nicht vorhandene Ausbildung auf diesem Gebiet durchschauen würden? Meine vagen Zukunftspläne lösten sich auf zur Unkenntlichkeit, finanzielle Sicherheit Fehlanzeige.

Gründlich betrachtet hat nun also Frau Grubers Einkaufszettel eine Art Lebenskrise bei mir ausgelöst. Jede Krise bietet aber zum Glück auch immer eine Chance, und so öffnete mir diese Geschichte, wie sie hier zu lesen ist, als Kolumne die Tür zur Redaktion des Stadtanzeigers, der auch die Lesermeinung veröffentlicht hatte. So konnte ich mein unliebsam gewordenes Studium noch ein weiteres Semester finanzieren. Denn während die Welt der Worte und Geschichten unberechenbar war und undurchdringliche Wege bot, war die der Zahlen logisch und berechenbar, welch eine Erleichterung trotz allem. Wohin mich das führen wird, außer höchstwahrscheinlich zu einem Bachelor, weiß ich nicht.

Als erstes muss ich aber noch die neue Nachbarin von oben auf ein Stück Nusstorte treffen, sagt sie. Ihr Ex schreibe ihr so bedrängende Nachrichten, und Frau Gruber hätte mich so gelobt…

 

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