Von Ursula Kollasch
»Gott, kann die das Röcheln mal abstellen?«, knurrte Butcher.
»Klingt immer, als ob sie gleich abnippelt«, erwiderte Hurt und lachte.
Lucy presste die Lippen zusammen, starrte auf ihren Monitor und blendete die Männer aus. Auch das Büro mit dem fleckigen Teppichboden und der Tapete aus der Zeit, als John Lennon noch lebte. Im Ausblenden war sie Meisterin, nur auf diese Weise konnte sie den Idioten ausweichen.
In ihrem bedächtigen Tempo bearbeitete sie weiter die Formulare, während Butcher und Hurt noch weniger Engagement zeigten als sonst, Marshmallows futterten und sich über die Schreibtische hinweg über ihre Pläne für das bevorstehende Wochenende unterhielten.
Als die beiden Punkt zwölf in die Mittagspause verschwanden, lehnte sich Lucy auf dem Stuhl zurück und schaute hinaus ins graue, wolkenverhangene Liverpool.
Sie mochte den Job bei »HELP!« nicht. Trotzdem arbeitete sie schon fünf Jahre für die drittklassige Versicherung, seit ein paar Monaten mit diesen unangenehmen Typen.
Die ihr inzwischen regelmäßig Akten auf den Schreibtisch legten und voraussetzten, dass sie diese für sie abarbeitete. Sonst gab es Druck.
Die Kollegen wechselten in den Jahren öfter. Entweder hatten sie gekündigt oder waren im Gegensatz zu ihr befördert worden und in die etwas angenehmere Abteilung eine Etage höher aufgestiegen.
Lucy wusste, dass es an ihr selbst lag. Sie war langsam und ohne Ehrgeiz. Geriet leicht ins Stottern und Stammeln. Erledigte ohne Widerworte, was man ihr auftrug, und ließ mit stoischem Gesicht über sich ergehen, was zu ihr gesagt oder auch über sie gelästert wurde.
Butcher und Hurt waren ja nicht die einzigen, die sie nicht für voll nahmen. Auch andere in der Agentur nannten sie Loserin oder Freak. Sich zu wehren, hatte keinen Zweck, weil sie sowieso den Kürzeren zog. Das wusste sie aus bitterer Erfahrung,
Lucy schob die Brille hoch und strich sich über die Hasenscharte, die ihr Gesicht entstellte. Die sie nicht nur zur Zielscheibe für Spöttereien machte, sondern auch in der Atmung behinderte, sodass sie stets ein wenig schnaufte.
Gott, kann die das Röcheln …?
Sie schüttelte den Kopf und stand auf, um die Toilette aufzusuchen, kam an Büros vorbei, deren Türen offenstanden. Die meisten waren zur Mittagszeit unbesetzt. Nachdem sie ihre Blase geleert hatte, wusch sie sich die Hände. Wie immer vermied sie den Blick in den Spiegel, denn sie wollte nicht das blasse Gesicht mit der Entstellung sehen, das mausbraune, dünne Haar. Ihren Körper, der aussah, als hätte er in der Pubertät aufgehört, sich weiterzuentwickeln. Oder nie genug zu Essen und Zuwendung bekommen, um zu wachsen.
In gewisser Weise stimmte das. 1991 war sie im Rotlichtviertel von einer Drogensüchtigen geboren worden, die das Neugeborene hinter Müllcontainern ablegte. Ein älterer Freier fand das Baby und rief einen Krankenwagen.
Das, sowie Mutter und Vater unbekannt, waren die einzigen Informationen über ihre Herkunft, die man ihr auf Nachfrage mitteilte. Damit platzte ihr großer Traum: Die leiblichen Eltern, ihre Familie zu finden. Lucy musste diese Hoffnung, die sie wie ein kleines Licht durch die Dunkelheit und Einsamkeit ihrer Kindheit begleitet hatte, begraben.
Und der schlechte Start ins Leben setzte sich wie ein roter Faden fort …
Sie begab sich zurück an ihren Schreibtisch und nahm die nächste Mappe vom Stapel.
Eine Stunde später kehrten Butcher und Hurt zurück. Sie brachten den Geruch nach Bier und kaltem Rauch mit in den Raum. Plauderten, während sie sich halbherzig an die Arbeit machten. Draußen hatte ein Nieselregen eingesetzt, der sich rasch in einen Wolkenbruch verwandelte. Regentropfen klatschten an die Fensterscheibe, rannen wie Tränen über das Glas.
Plötzlich fuhr Hurt auf.
»Shit, hab‘ mein Handy liegenlassen. Hoffentlich hat’s keiner eingesteckt.« Er stöhnte entnervt. »Bei dem Sauwetter jetzt noch mal raus.«
Sein Kopf ruckte zu Lucy herum wie ein Artillerie-Geschütz. »He, du holst es. Hinterste Sitznische. Bei Rigby’s, die Penny Lane runter, weißt‘ Bescheid?«
Ja, sie wusste, welches Pub gemeint war. Doch wollte sie genauso wenig wie er hinaus in das Unwetter, das sie in Sekundenschnelle durchweichen würde.
Sie schwieg und zog den Kopf ein, obwohl kaum Hoffnung bestand, dass er sie in Ruhe lassen würde. Richtig, die verflüchtigte sich im nächsten Moment wie warmer Atem an einem Wintertag.
»Los! Wenn du nicht schnell genug bist, findet es irgendein Penner und nimmt’s mit.«
Lucy versteifte sich. Nein, flüsterte ein Rest Stolz in ihr.
Noch nicht genug auf die Fresse gekriegt?, antwortete ihr Verstand.
Sie ignorierte ihn und tippte etwas auf der Tastatur, obwohl sie Hurts Reaktion einer heranfliegenden Granate gleich auf sich zukommen spürte.
Seine Stimme wurde härter.
»Bist du taub? Sieh zu, dass du’s wieder ‚ranschaffst, sonst kaufst du mir ein Neues.«
Ja, dazu würde das Ekelpaket sie nötigen.
Lucy verkrampfte den Kiefer, dann sprang sie auf, griff nach ihrer Jacke und streifte diese über, während sie über den Flur eilte.
Eiskalt prasselten die Tropfen auf sie nieder, als sie das Gebäude verließ und losrannte. Sie hielt den Kragen am Hals zu und den Blick zu Boden gerichtet. Die Rinne am Bordstein lief bereits über, Wasser spritzte bei jedem Schritt vom Gehweg auf. Wie erwartet, war sie nach wenigen Metern außer Atem und nass bis auf die Haut. Schnell weiter! Sie erreichte die Kreuzung, gegenüber lag das Pub. Der Regen nahm ihr die Sicht, als sie über die Straße sprintete. Quietschende Bremsen. Ein Schlag von immenser Wucht. Sie flog durch die Luft, schlug auf dem Asphalt auf. Schmerz. Sie rang nach Atem, als hätte man ihr eine schwere Eisenstange auf die Brust geknallt. Ihr Herz fühlte sich an, als steckte es in einer Schraubzwinge. Kälte. Höllische Schmerzen. Die abrupt aufhörten.
Sie sah sich selbst mit verrenkten Gliedmaßen auf der Straße liegen. Über ihrem Körper schwebend nahm sie die umstehenden Menschen wahr. Den Lieferwagen, der sie angefahren hatte, daneben den fassungslosen Fahrer. »Sie ist einfach auf die Straße gerannt!«
Ein Stau bildete sich. Höher und höher stieg sie auf, die Geräusche verebbten. Die Autos und Gaffer schrumpften auf die Größe von Ameisen. In ihrem Verstand drehten sich Erinnerungen wie bunte Bilder in einem Kaleidoskop. Sie verblassten und alles wurde schwarz.
Wie ein Papierschiffchen auf einem reißenden Fluss rauschte sie blind dahin, verlor jegliches Zeitgefühl, und staunte, als sie aus der Finsternis auftauchte. In einer Welt aus reinem, hellem, weiß-goldenem Licht, die eigenartigste und schönste Welt, die sie je gesehen hatte. Ein endloser Horizont. Ein gleißendes, schillerndes Meer, über das sich der Himmel spannte, in dem Lichter funkelten. Regenbogensprühende Diamanten. Euphorische Momente, als sie eins wurde mit dem Kosmos. Und alles verstand. Alles.
Mit einem Mal schien sich die Szenerie trotz ihrer enormen Weite zusammen zu ziehen. Magisch angezogen glitt sie auf den am hellsten strahlenden Diamanten zu und er verschluckte sie.
Warme Dunkelheit. Eine dumpfe Stimme. Stetes Wummern, Gluckern und Rauschen.
Sie ballte die Hände zu Fäusten. Empfand Druck, etwas Schmerz, dann plötzliche Kälte.
Panisch rang sie nach Atem, bis sie endlich Luft holen konnte, und ein heiserer Schrei entfuhr ihrer Kehle.
Sie wurde emporgehoben, spürte Hände auf ihrem Körper. Man legte sie auf eine warme Brust, Arme hielten sie umfangen. Ein seltsam vertrauter Geruch hüllte sie ein.
»Oh, Schatz, wie winzig sie ist. Die kleinen Finger«, hauchte Pam. Schon vergessen war die Pein der Wehen, der stundenlangen Geburt, da war nur noch reines Glück.
David sah voller Stolz auf seine neugeborene Tochter hinab. Er, der erfolgreiche Geschäftsmann, Inhaber der kalifornischen Haven-Stahlwerke, hatte ungewohnte Tränen in den Augen, als er seiner Frau übers Haar strich. Ihr gemeinsames Wunschkind war da, gesund und wohlgeraten. Jordan und Mia aus erster Ehe, die seine verstorbene Helen ihm geschenkt hatte, standen neben ihm.
»Sie hat deinen Mund, Dad. Ist zum Glück das Einzige von dir!«, frotzelte der Vierzehnjährige. Sein Vater knuffte ihn leicht an die Schulter und grinste. Die jüngere Mia beugte sich über das Baby.
»Seht doch mal. Wie erstaunt sie uns anguckt. Hallo, du … «
Mit dem Zeigefinger strich sie der Schwester über die Wange, küsste sie auf den Kopf und ihr Herz schwoll an vor Zuneigung und Beschützerinstinkt.
»Sie muss sich erst an diese Welt gewöhnen, Liebes«, antwortete Pam, die Stimme leise vor Erschöpfung.
„Ich werde dir alles beibringen, was ich weiß, und immer für dich da sein, kleine Amy“, versprach Mia mit feierlichem Ernst, was ihren Vater schmunzeln ließ und Pam rührte.
„Du bist lieb“, sagte sie und richtete den Blick wieder auf ihr Baby. „Ja, wir sind alle für dich da. Du wirst ein wunderbares Leben haben.“
Amy schaute unentwegt in das verschwommene Oval ihres Gesichts, dann schenkte sie der Mutter ein Engelslächeln und schlief ein.
V3 8935 Z