Von Maria Monte
„Ey, Charly, komm, steh doch mal auf!“ Kalle wird langsam ungeduldig. Seit Tagen lässt sich sein Kumpel hängen, schnauft höchstens ein bisschen, wälzt sich auf die andere Seite seiner mit einer alten Decke bespannten Matratze. Hat er überhaupt mal was gegessen oder getrunken? Kalle wird mulmig. Sie liegen seit Wochen zusammen unter der Fußgängerbrücke, durch einen dichten Busch nach einer Seite geschützt. Die Sonne knallt unbarmherzig vom Himmel, unter ihrer Brücke finden sie Schatten und Schutz. Der jüngere nähert sich schließlich seinem in einen dicken Pelzmantel gehüllten Kumpel, lauscht nach seinem Atem, greift nach der seitlich liegenden Hand. „Oh, Alter, hast dich davongemacht, ohne etwas zu sagen! Ich war doch da, hab dir doch gelauscht, als du mir deine Geschichte erzählt hast. Und nun, nun lässt du mich hier alleine zurück. Mensch, Alter, das geht doch nicht!“ Kalle laufen Tränen über sein schweißnasses Gesicht. Irgendwann versucht er, sie fortzuwischen. Seine Hände verschmieren diese salzige Brühe, hinterlassen wilde Zeichnungen wie ta moko. Er muss etwas tun, geht es ihm durch den Kopf.
Als die benachrichtigte Polizeistreife fast zeitgleich mit der Feuerwehr eintrifft, steht Kalle erst einmal Rede und Antwort. Dann sucht er seinen Lieblingsplatz hinter dem Busch am Ufer der Spree auf und blickt trübsinnig auf das Wasser. Seine Gedanken schwimmen mit der leichten Strömung dahin. Trotz Altersunterschied hatte er sich gut mit Charly verstanden, der fast sein Vater hätte sein können. Beide wollten weg vom Alkohol, fassten auch keine Drogen oder andere Rauschmittel an. Sie träumten von einer gemeinsamen Bleibe, von einer sinnvollen Tätigkeit, vom Kochen, vom Musikhören.
Charly hatte seine besten Jahre hinter sich, als er auf der Straße landete. Der plötzliche Tod seiner Partnerin Olga ließ ihn den schon liebgewordenen Wodka so zusprechen, dass er oft Ort und Zeit vergaß und damit irgendwann auch seine Arbeit verlor. Olga hatte ihm Halt gegeben. Mit seinem miserablen Zeugnis traute er sich nicht, sich irgendwo zu bewerben, lebte von Gelegenheitsjobs und Hilfsarbeiten, nahm ziellos jede Arbeit an. Olga brachte ihn in der Baubranche bei Freunden unter, Sub-Subunternehmern, aber immerhin. Sie zogen zusammen in eine kleine, alte Wohnung, Mansarde unter dem Dach, Klo auf dem Gang. Aber sie liebten sich, gaben sich Wärme, Geborgenheit und gewannen Vertrauen, zu sich und zum anderen. Wie oft hatte Charly von dieser Zeit erzählt, geschwärmt.
Kinder hatten sie keine. Sie hatten ja sich und ihre Lieblingsorte im Stadtbezirk. Kalle erinnert sich an die ersten Wochen, die er mit Charly verbrachte. Da zeigte ihm sein neuer Kumpel die Orte, an denen er mit Olga glücklich war. Abends krochen sie unter ihre Brücke und Charly kuschelte sich in seinen Pelzmantel.
Kalle fragte ihn dann irgendwann danach: „Sag mal, woher hast du eigentlich dieses Fellding? Ist der echt? Mich erinnerst du, wenn du dich in ihn einrollst, an einen Bären.“ Sie mussten gemeinsam darüber lachen. Charly brummte bärenhaft, erhob sich zum Tanz, erinnerte sich an einen Zirkusbesuch. Der Bär bewegte sich damals langsam im Kreis, nur auf seinen Hinterbeinen tapsend mit erhobenem Körper, die Tatzen wegen des Gleichgewichts von sich gestreckt haltend. Diese Momente verbanden.
„Stell dir vor, über 20 Jahre lebte ich mit Olga zusammen, das waren meine schönsten Jahre,“ verrät er Kalle. „Dann bekommt sie plötzlich Krebs, aus die Maus. Ging viel zu schnell.“ Charly wendet sich ab, noch immer kommen Tränen. „Naja, der Kummer war genauso groß wie der Durst. Da hängste dann in der Kneipe ab, verlierst den Überblick, hast ja keine festen Kumpels, hast manchmal auch keinen Bock aufs Leben, plötzlich ist alles weg, woran man hing.“ Kalle kann das nachempfinden, ihm ging es ähnlich. Auch das verband sie.
Sie hatten sich im Herbst beim Flaschensammeln kennengelernt. Kalle trug dabei Handschuhe und sammelte in seinen weiten Rucksack. Charly trug einen weiten Fellmantel, stopfte die gefundenen Flaschen und Dosen in die tiefen Taschen und zusätzlich in eine Plastiktüte. Schon bei der zweiten Begegnung auf dem Bahnhof schöpfte Charly Vertrauen in den jüngeren und scheinbar überlegenen Kalle. Bald machten sie Pläne, um effektiver an den Highlights der Großstadt einzusammeln. Für Kalle strahlte Charly eine Art Autorität aus, er hatte eben Lebenserfahrung. Im Dezember zog auch Kalle unter die Fußgängerbrücke zu seinem Kumpel. Er kannte Charly nur im Mantel, am Tag und in der Nacht. Nie zog er ihn aus. Stopp. Einmal in der Woche gingen sie Duschen. Aber getrennt.
„Warum soll ich den Mantel ausziehen? Er gibt mir Wärme, Geborgenheit und er riecht immer noch nach Olga. Wenn ich mich in ihn einhülle, denke ich, Olga umarmt mich. Er ist alles, was ich von Olga noch habe.“ Kalle nickt verständnisvoll. „Ich weiß von Kamelen, die unter ihrem Fell nicht schwitzen. Das Fell atmet und kühlt auch. Sicher geht es dir ähnlich?“
Die Spree gluckert und plätschert, als ein Ausflugsdampfer vorbeigleitet. Die Stimme eines Stadtbilderklärers reißt Kalle aus seinen Gedanken. Hatte soeben Charly mit ihm geredet, ihn um einen Gefallen gebeten?
Er springt, wie von der Tarantel gestochen, auf und eilt zum Schlafplatz. Die Männer sollen Charly in seinem Mantel mitnehmen und ihn auch darin beerdigen. Das muss er noch sagen.
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