Von Miklos Muhi
Das Wasser hatte schon die letzten Reste vom Duschgel weggespült. Die Zeit drängte, denn für den Vormittag war im Büro die wichtigste Besprechung des Jahres geplant. Doch zögerte Paul.
Die Stimme, die sich durch Duschvorhang und Plätschern zu ihm durchdrang, ließ ihn trotz fast schon zu heißem Wasser zittern. Nicht dass er keine Vorsichtsmaßnahmen getroffen hätte. Sichtkontakt zu verhindern, war ein Leichtes, aber diese Stimme …
»Schau mich endlich an!«, rief der Spiegel durch die improvisierte Abdeckung aus dem dicken schwarzen Jersey-Stoff.
Paul hatte nichts dergleichen vor. Er stellte das Wasser ab, zog den Vorhang beiseite und trat aus der Duschkabine. Dass er seit einigen Wochen wieder fähig war, ohne jeglichen Anflug von Schwindel auf den Beinen zu stehen, half ihm, die aufdringlichen Rufe zu ignorieren.
»Ich habe heute Besseres zu tun«, murmelte er und fing an, sich abzutrocknen.
»Schau mich endlich an!«, schrie der Spiegel. »Du siehst lächerlich aus!«
Pauls Magen zog sich zusammen. Seine Oberschenkel sahen tatsächlich etwas wabbelig aus, als würden sich die Muskeln aus Scham in der wachsenden Schicht aus Fett verstecken, so wie bei seinen Hüften. Unter dem Badezimmerschrank ragte die Waage hervor. Paul schaute das Gerät lange an. Schließlich waren die Zahlen, die auf dem kleinen Bildschirm erschienen, zumindest objektiv, genauso, wie der BMI-Wert, den er fähig war, blitzschnell im Kopf auszurechnen.
Seine Knie sanken und seine Arme nahmen die vertraute Position an, um das Gerät hervorzuholen, so wie er es vor vielen Monaten mehrmals täglich tat.
»Nein. Nicht hier und nicht jetzt«, sagte Paul, richtete sich auf und verließ das Badezimmer.
Auf seinem Bett lagen die Kleider, die er heute im Büro zu tragen beabsichtigte. Weißes Hemd, Seidenkrawatte und der Dreiteiler schrien Präsentation und Repräsentation.
Pauls Gehirn wechselte die Spur und lief in Dauerschleife seine geplante Ansprache durch, während er sich anzog.
»Du bist schon wieder zu fett«, brüllte der Spiegel im Badezimmer mit ersterbender Stimme. Paul ignorierte ihn.
Bald saß er in seinem Auto und war unterwegs ins Büro.
»Sira, ruf Dr. Haibels Privatnummer an«, wies er den Bordcomputer an.
»Haibel hier.«
»Guten Morgen, Herr Doktor, Paul Specht am Apparat.«
»Hallo Paul. Wie geht es Ihnen heute? Keine Vorkommnisse?«
»Können Sie mich bitte am Freitagnachmittag empfangen?«
»Sicher doch, Paul. Kommen Sie um 15 Uhr vorbei.«
»Ich will nicht wieder zurück.«
»Das schaffen wir. Wir haben ihre Magersucht schon so weit zurückgedrängt. Wir bringen das zu Ende.«
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