Von J. W. Anders
Der Wind weht in Wellen über den Strand. Strubbelt das graugrüne Strandgras einmal kurz durch und rollt die feinen Sandkörner hin und her. Das Meer rauscht in gleichmäßigem Takt unter den watteartigen weißen Wolkenbildern. Rieke liegt auf dem Bauch, die Füße in den warmen Sand gedrückt, das Kinn auf die rechte Hand gestützt. Schaut dem Heranrollen der Wellen zu, der weißen Gischt und fühlt sich seltsam entrückt. Die Rufe der planschenden Kinder vermischen sich mit dem heiseren Geschrei der Möwen. Diese aufdringlichen Geräusche berühren sie nicht, bleiben Hintergrundmelodie zu dem gleichmäßigen Rauschen, mit dem das Meer auf den Strand spült und sie stellt sich vor, wie es wäre, ein Quastenflosser zu sein, der wieder zurückkehrt. Zurück in die salzigen Fluten.
Gleichmäßiges Rattern des Zuges über die Schienen, schnell, viel zu schnell. Unaufhaltsam geht es wieder zurück. Die anderen Freizeitkinder lärmen und sind trotz aller Ermahnungen der Betreuer nicht stillzukriegen. Es liegt nicht an der Hitze, die mit jedem Bahnhof Richtung Süden in den Waggon schwappt, dass Rieke still in der Ecke sitzt. Der Zug hält viel zu früh am Ziel. Koffer hinauswuchten, aus dem Weg gehen und sich umsehen. Ihre Mutter steht etwas abseits der übrigen Eltern. Sie lächelt, rührt sich jedoch nicht vom Fleck. Während die übrigen Eltern ihre Kinder stürmisch umarmen, sagt Riekes Mutter: „Schön, dass du wieder da bist.“ Sie nimmt Rieke den großen Koffer ab und diese hofft – ein ganz klein wenig – dass es zum Abendessen ausnahmsweise Pfannkuchen geben könnte. Und wenn nicht? Sie zuckt die Schultern.
Egal! Sie ist ein Quastenflosser.
Leise Essgeräusche, dazwischen das Klirren des Bestecks auf den Tellern. Es gibt keine Pfannkuchen, doch dafür Rührei mit Schinken. Auch nicht alltäglich!
„Mama, warum bist du immer so ernst?“, fragt Rieke in das Schweigen. Überraschenderweise bekommt sie eine Antwort, statt überhört zu werden oder sogar Schelte.
„Hm, ich weiß nicht. Vielleicht weil ich mir immer so viel Gedanken mache.“ Ihre Mutter schiebt ihre Teetasse hin und her. „Weißt du, deine Oma war immer sehr streng mit uns. Da habe ich gelernt, vorsichtig zu sein.“
Oma, ja, das glaubt Rieke sofort, dass die streng war. Die ausgemergelte, gebeugte Gestalt mit dem grauen Zopf meckerte auch mit ihr, dem einzigen Enkelkind, wegen jeder Kleinigkeit herum. Eine der interessanten Erinnerungen an Oma ist, dass diese darauf bestand, dass es im Fernseher schneite. Egal, wie oft Mama ihr das Gegenteil beteuerte. Komm mir nicht mit Erklärungen. Ich seh‘ doch was ich seh‘, grantelte sie dann.
Die andere Erinnerung ist, dass sie von ihrer Kindheit erzählte: Nachdem meine Mutter im Kindbett starb, hat mein Vater eine neue Frau gefunden. Doch die wollte mich nicht. Und so gab er mich an seine unverheiratete Tante, die als Lehrerin arbeitete. Die hat mich großgezogen. Mir Benehmen und Ordnung beigebracht.
„Die Tante, bei der deine Oma aufwuchs“, fährt Riekes Mutter fort, „sie war vielleicht eine gute Lehrerin, doch sie wollte nie Mutter sein. Deine Oma war immer das ungewollte Kind. Und dennoch hat sie die Tante nach deren Schlaganfall bis zum Tod gepflegt. Mein Vater hat drei Jahre auf sie gewartet, weil sie während dieser Zeit nicht heiraten wollte.“
„Oh!“, entfährt es Rieke. Das hätte sie ihrer Oma nicht zugetraut.
„Ja, das klingt sehr – liebevoll. Leider hatten meine Eltern nicht viel Zeit miteinander. Mein Vater starb an Lungenentzündung, als ich drei war, das weißt du ja. Unsere Mutter kam nie darüber hinweg. Vielleicht war er der einzige Mensch, der ihr jemals Geborgenheit gab. Uns vier Mädchen allein durch die Kriegszeit zu bekommen, das hat bedeutet, dass sie nächtelang für die Nachbarn nähte. Sie hat immer für uns gesorgt, für ordentliche Kleidung, für ein warmes Mittagessen. Doch wenn wir nicht gehorchten, wurde sie zornig.“ Mamas Fingergelenke am Griff der Teetasse zeichnen sich hell unter der Haut ab. „Einmal sperrte sie mich mit deiner Tante Hanne in den Keller. Ich kann mich nicht mehr erinnern, weshalb. Ich weiß nur noch, dass wir so lange dort unten waren, bis wir Hunger bekamen und ein Glas vom Eingemachten öffneten. Unsere Mutter hat das natürlich entdeckt, als sie uns rausließ. Sie war rasend vor Zorn. Wir hatten solche Angst vor ihr, dass wir schrien. Sie klopfte uns mit dem Teppichklopfer durch und sperrte uns danach in die Besenkammer. Am nächsten Tag bekamen wir nichts zu essen. – Es war nicht einfach, es deiner Großmutter recht zu machen.“
Noch immer schiebt Riekes Mama die Teetasse hin und her. „Ich habe darüber nachgedacht und glaube, dass für deine Oma diese Welt ein grausamer Ort gewesen sein muss. Vielleicht erinnerst du dich noch, dass sie immer sagte: Wen Gott liebt den straft er. Sie war sicherlich überzeugt, dass nur Strenge und Härte ihre Kinder stark genug für dieses Leben macht.“
Endlich blickt Mama auf und lächelt. Und dieses Lächeln ist ein Holzsteg über gärendem Sumpf. „Tut mir leid, wenn ich streng wirke. Ich versuche eigentlich, es besser zu machen.“
Rieke nickt. Bis zu diesem Abend hat sie nicht gewusst, dass auch ihre Mutter ein Quastenflosser ist. Immer kurz davor, wieder in die ewigen Tiefen des Ozeans zu flüchten.
Atemzüge, zart und schnell, von diesem Häufchen Leben in Riekes Arm. Sie schaut auf das schrumpelige Wesen, in das Gesicht mit den großen Augen, die sie scheinbar anblicken – und schmilzt dahin. Was sie fühlt, ist so groß und mächtig, ist beinahe körperlicher Schmerz. Ein Wirbel aus Hoffnung, Verantwortung, Fürsorglichkeit, Angst, Sorge und so vielem, das sie nicht benennen kann. Der Wirbel reißt sie mit sich davon. Ich – das bedeutet jetzt Wir und die ewige Anstrengung, gut genug zu sein.
Sie ist nicht mehr das geschuppte, urwüchsige Tier. Nein! Sie hat Hände zum Halten, zum Streicheln – statt nutzloser Flossen. Erst seit dem Augenblick, als man ihr ihre Tochter in den Arm legte, ist diese Verwandlung endgültig.
Heraus aus der dunklen kargen Quastenflosserwelt, hinein in das unbeschriebene Leben. Den Ozean gegen blauen Himmel, helles Sonnenlicht, frischen Wind eingetauscht. Stark genug für Lachen und Weinen.
Sie berührt den Haarflaum, saugt tief den Babyduft ein. Ich bin ein Quastenflosser, denkt sie mit enger Kehle. Doch ich versuche, uns eine neue Welt zu erobern, eine neue Realität zu erschaffen. Du sollst behütet sein, wissen dass du geliebt wirst. An jedem einzelnen Tag deines Lebens.“
Ihr Herz schlägt, in ihr pulsiert warmes Blut.
Ein langer Weg. Seit das Leben das Meer verließ.
Ein weiter Weg für einen Quastenflosser.
Der Wind weht in Wellen über den Strand. Strubbelt das graugrüne Strandgras einmal kurz durch und rollt die feinen Sandkörner hin und her. Das Meer rauscht in gleichmäßigem Takt unter den watteartigen weißen Wolkenbildern.
Die Wellen haben Riekes Abdrücke im Sand verwischt.
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