Von Matthias Herrmann

Es war der 16. Januar 1956. Eine Menschentraube hatte sich vor dem Schaufenster mit den Fernsehern von Metzlers Radio- und Fernsehtruhe gebildet. Die Zuschauer verfolgten eine Sondersendung, die die Einfahrt des letzten Zuges mit Heimkehrern aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zeigte. Jürgen Kleingeist stand mitten unter ihnen und betete: „Lass ihn nicht heimgekehrt sein!“ 

 

Eine Woche war das jetzt her. 

 

Nun war wieder Montag. Heute würde Marianne wiederkommen. Für sich nannte er sie bei ihrem Vornamen. Wenn sie dann in seiner Dienststube vor ihm saß, musste er sich zwingen, ihren Nachnamen zu verwenden.

„Guten Morgen, Frau Degen.“

„Guten Morgen, Herr Kleingeist. Gibt es etwas Neues zu berichten?“

 

Letztes Jahr um diese Zeit hatte er sich beinahe verraten. Er war in aufgeräumter Stimmung gewesen. Eine Woche Urlaub hatte vor ihm gelegen. Er hatte sich ausgemalt mit ihr, Marianne Degen, eine Winterreise zu unternehmen. Ganz kitschig nach Paris. Oder seinetwegen auch nur nach Wiesbaden. Der Tristesse hier entkommen. Städte ohne Trümmer. Häuser ohne Einschusslöcher. So viele offene Wunden.

Da war es ihm entfahren: „Ach, Maria…!“ 

Mehr nicht. Sie hatte ihn angeblickt. Scharf. Viel schärfer, als er es von ihr erwartet hätte. Er hatte ihrem Blick standgehalten. Und sie beide hatten dann gleichzeitig den Blick abgewandt. Ja, war es denn gleichzeitig gewesen? Er hätte sich dafür ohrfeigen können, dass er mit ihr in dieses Machtspiel gegangen war. 

Idiot, warum hast du ihr so in die Augen gestarrt? 

Ich konnte nicht anders! Ich konnte doch nicht anders! 

Hatte sie für einen Bruchteil früher als er den Blick gesenkt? Beschämt? Oder sich für ihn schämend, sein Geheimnis erahnend. Das war jetzt ein Jahr her und sie hatten sich seitdem gut zweihundertmal gesehen. Immer montags. Immer hier. Doch wo blieb sie heute? 

Er griff sich Eugens Akte. Schlug sie auf. Blätterte sie durch. Kannte sie auswendig. Gleich zehn. So spät kam sie sonst nie. Sonst war sie doch immer pünktlich! Konnte es sein? 

Drei Minuten nach Öffnung der Dienststelle um 9 hörte er jeden Montagmorgen das Klackern ihrer Absätze auf dem Gang. Das seit Jahren. Seit Einrichtung des Suchdienstes.

Die Buchstaben C bis D hatte man ihm zugewiesen. Und was hatte er für einen Aufstand gemacht, als es Pläne gegeben hatte, ihm den Buchstaben D zu nehmen. 

„Kleingeist, was regen Sie sich denn so auf? Gott noch mal, dann behalten Sie eben das D! Sie sind ein komischer Vogel!“ 

Kopfschüttelnd war sein Vorgesetzter aufgestanden, hatte innegehalten, sich umgewandt und erklärt: „Dafür machen Sie jetzt den Flaggendienst. Morgens hissen. Abends einholen. Täglich. Auch an den Feiertagen. Das bekommt man auch mit einem Arm hin!“

„Aber das D behalte ich!“ 

 

Der Flaggendienst bedeutete, dass er morgens eine halbe Stunde früher das Haus verlassen musste, und abends eine halbe Stunde später nach Hause kam.

„Wenn die Flagge mit dem roten Kreuz gehisst ist, dann bin ich da. Dann können Sie zu mir kommen, Frau Degen.“

Außerdem trainierte das Beflaggen seinen linken Arm, der ja nun doppelt so stark sein musste, um eine Frau, sie, in den Arm, nicht die Arme, nehmen zu können.

 

Doch wo blieb an diesem Montagmorgen das Klackern, das ihn lächeln ließ und seinen Herzschlag beschleunigte, wenn er es auf dem Gang vernahm. Konnte es sein?

Er lehnte sich zurück. Schloss die Augen. Dass sie die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben hatte! All die Jahre. Es war doch hoffnungslos, dass Eugen Degen noch auftauchte. Aber das durfte er ihr auf keinen Fall vermitteln. War es wieder Zeit für einen Köder? Um die Hoffnung in ihr wach zu halten? Hätte er da aktiver sein sollen in den letzten Wochen? Hier ein Zeitungsartikel, dort ein Brief. Oder mal wieder eine Anfrage an die sowjetischen Behörden. Vielleicht nachdem Adenauer in Moskau gewesen war? Einmal nachhaken. Vielleicht konnte sich etwas ergeben. Es musste sich doch etwas ergeben. Es sollten doch Anfang 56 die letzten Gefangenen entlassen werden. Ja, und was dann? Wenn Eugen nicht unter den letzten Heimkehrern war? Würde sie dann trotzdem weiterhin kommen und nach ihm suchen? Man hörte ja auch Gerüchte von Gefangenen, die dort blieben als Zivilisten. Sich verheirateten. Ihre Familien in Deutschland in den Wind schossen. War Eugen so einer? Würde sie ihn die Suchakte schließen lassen und aus seinem Leben verschwinden? 

 

„Marianne, wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Jetzt, wo sich die Verhältnisse entspannen. Wer weiß, vielleicht fallen die Reisebeschränkungen und sie können als Touristin dorthin fahren und unauffällig Erkundigungen anstellen? Es gibt so viele Gerüchte. Von geheimen Lagern. Wo Spezialisten eingesetzt wurden. Bei Forschungen zur Atombombe“, raunte er, um dann fortzufahren: „Ich darf ihnen das gar nicht sagen. Das ist inoffiziell und geheim. Schwören Sie mir, dass sie es nicht weitergeben. Diese Information. Schwören Sie, Frau Degen!“

Und sie hatte ihre rechte Hand auf ihr Herz gelegt und geschworen und dabei lief aus ihrem linken Auge eine Träne. 

 

„Wissen Sie, Herr Kleingeist, Eugen und ich haben uns spät kennengelernt. Auf eine Art zu spät. Er war ein Kriegsversehrter. In Verdun hatte ihm ein Schrapnell die Schädeldecke aufgerissen. Sie hatten seinen Kopf mit einer Metallplatte geflickt.“ 

Sie hatte tatsächlich geflickt gesagt. Ja, ist denn ein Schädel ein Fahrradschlauch, den man flicken muss? Er hatte in sich hineingelächelt. Da saß diese schmächtige Frau im Kostüm vor ihm und sprach mit leiser Stimme, als hockte sie in einer Eckkneipe. 

„Und wenn er Pech hat, dann fängt die Stahlplatte Radiowellen auf. Dann fängt sie an zu sprechen oder Musik zu spielen. Dann rennt er durch die Wohnung, um einen Ort zu finden, den die Wellen nicht erreichen. Meistens in den Keller, um endlich Ruhe zu finden. Er hört die Stimmen direkt in seinem Kopf. Manchmal konnte er so Feindsender hören, ohne dass es jemand mitbekam. 

´ In allem steckt noch etwas Gutes´, hatte er gesagt und gelacht. Wenn ich ganz nahe an ihn rangegangen bin, habe ich es auch gehört.“

„Wenn das wahr ist, Frau Degen, dann haben ihn die Russen mit Sicherheit einkassiert.“

„Natürlich ist das wahr!“

„Ist das schon in der Akte? Davon haben Sie noch nie berichtet!“

„Doch!“  

„Ich finde hier nichts!“

Er blätterte theatralisch die Akte durch. 

„Nichts!“

Da schnellten ihre Hände vor und packten die Akte, rissen daran. 

„Das dürfen Sie nicht!“, schrie er. Stumm zerrten sie an der Akte. Einarm gegen Zweiarm. Vor. Zurück. Patt. Beide schnauften. Er spuckte aus. Ließ los, rannte raus. 

´Die sehe ich nie wieder.´

 

Doch am nächsten Montag war sie wieder da gewesen. Und beide hatten sie so getan, als wäre nichts gewesen. 

 „Er galt als Invalide und wurde nicht zum Volkssturm eingezogen. Ein-, zweimal im Jahr bekam er auch einen epileptischen Anfall. Einmal unter dem Weihnachtsbaum. Als er die elektrische Eisenbahn für die Jungs aufgebaut hatte. Da zuckte ein Blitz – ich sehe es noch vor mir – von der Stromschiene zur Stahlplatte in seinem Kopf, löste einen Anfall aus. Er fing an zu zappeln. Der Weihnachtsbaum kippte auf ihn und die Jungs. Wir hatten einen Sandeimer aufgestellt. Ich konnte das Feuer löschen. Das war schlimm. Besonders für die Kinder.“ 

Sie hielt inne. 

„Aber auch etwas Besonderes. Dass vergisst man nicht. Ein besonderer Vater. Ein außergewöhnlicher Mann.“

Kleingeist wich ihrem Blick aus, sah aus dem Fenster, die Vorstadtallee hinunter mit den Kastanien, die ihre kahlen Äste dem grauen Novemberhimmel entgegenreckten. Und im Vordergrund schwang – für das Auge kaum sichtbar – die Rot-Kreuz-Flagge am Mast hin- und her. War er, Kleingeist, außergewöhnlich?

 

„Warum sind sie nicht abgehauen? Mit den Trecks nach Westen!“

„Eugen sah sich ein bisschen in Opposition. Im Widerstand. Er ist ja Halbjude. Und Invalide. Er fühlte sich sicher. Wir haben Angehörige in Auschwitz und Theresienstadt verloren. Sein Schwager und sein Neffe waren sogar im Untergrund gegen die Nazis. Im Nachhinein ist man schlauer. Ich habe ihm vertraut.“

„Leichtfertig.“

„Wir hatten schon gefeiert.“

„Aber es gab Berichte! Man wusste, wozu sie fähig waren!“

„Er war zuversichtlich. So ein optimistischer Mann!“

Kleingeist wandte sich ab, betrachtete sie aus den Augenwinkeln. Das hellgrüne Kostüm aus Tweed. Die weiße Bluse. Das Halstuch und die Perlenkette, die darunter hervorlugte. 

Warum betrieb sie seit Jahren diesen Aufwand? Jeden Montagmorgen! Sie kam wegen ihm. Ihr Eugen war doch nur ein Vorwand. Denn was versprach sie sich? Er, Kleingeist, konnte doch nichts bewirken. Er war nur eine falsche Hoffnung. In den Jahren hatte er drei Nachrichten erhalten und zwei überbracht: Im Sommer 45 wurde Eugen in einem Gefangenentransport gesichtet. Im Herbst in einem Sammellager. Und zuletzt im Winter 45/46 in Workuta, auf der Krankenstation. Na, gut. Diese Meldung aus Workuta war auf Russisch. Sie lag ganz unten in der Akte. Er hatte sie nicht erwähnt. 

 

Inzwischen war Freitag. Die letzten waren heimgekehrt. Und Marianne war nicht wiedergekehrt. Er räumte seinen Schreibtisch aus. Die Außenstelle mit den offenen Fällen wurde aufgelöst, nach München verlegt. Für die Flagge war jetzt der Hausmeister zuständig. Gerade legte er Eugens Akte in die Kiste mit den geklärten Fällen, als er zu träumen glaubte. Da war wieder dieses Klappern. Diese Schritte auf dem Gang. 

 

„Frau Degen. Ich bin nicht mehr zuständig.“

„Herr Kleingeist. Ich bin nicht wegen Eugen hier.“

 

Für Alexander (1896 – 1945)

 

V1 – 9410