Von Michael Voß

 

Bamm! Das war die Haustür.

Klapp klapp klapp, das waren die aufgeregten Schritte des kleinen Michael, der die Treppe hochstürmte.

Bumm bumm! Das war eine Kinderfaust an der Wohnungstür. „Opa? Bist du dahaa?“

„Komm rein Junge.“

Aufgeregt stürzte der Siebenjährige herein und hielt Josef sein Spielzeuggewehr hin – den Lauf sorgsam zur Seite gerichtet.

„Guck mal, Opa, guck mal! Ein Leuchtgewehr! Habe ich erfunden! Damit kann man auch Nachts schießen!“

Josef betrachtete das Werk und lächelte. Dafür hatte der Kleine gestern darum gebettelt, sich die Taschenlampe ausleihen zu dürfen. Die war nun mit Bindedraht am Handschutz festgemacht, wobei ein grobgeschnitzer Distanzklotz dafür sorgte, dass die Lampe parallel zum Lauf ausgerichtet war. Die Schrammen an Handrücken und Fingern des Kindes bezeugten, dass kleine Hände, dicker Draht und eine große Kombizange keine ganz risikofreie Kombination bildeten.

„Dolles Ding!“, sagte Josef, legte an und zielte durch das Fenster auf ein imaginäres Ziel im Garten. „Sowas hätte ich früher gut gebrauchen können.“

„Wann früher?“

Josef rang sich ein Lächeln ab. „Lange her.“

„Als Mama noch klein war?“

Josef schmunzelte unwillkürlich. Der Kleine ließ nie locker mit seinen Fragen.

„1918.“

„Das ist, äh, wie viele Jahre her?“

„Fünfzig.“

„Sooo lange? Wo hast du geschossen?“

Josef schloss kurz die Augen und stöhnte lautlos. Alles war wieder da: Der Geruch von Blut, Angst und Schießpulver, vermischt mit dem Gestank von Exkrementen und herausgerissenen Gedärmen, das Geschrei, die Kraft seiner Stute, die ihn durch das Entsetzen trug, das dumpfe Wummern der Artillerie und das nervenzerfetzende Geschrei der Verwundeten. Ein Alptraum.

„Opa?“

„Ein ander Mal, mein Junge.“

„Wann?“

„Wenn du größer bist.“

„Hm.“ Der Kleine verzog das Gesicht. „Warum hast du dein Gewehr nicht mehr?“

„Hab´s abgegeben.“

„Wann war das?“

Josef strich seinem Enkel über den Kopf. „Einmal 1918 und einmal 1945.“

„Bist du traurig deswegen?“

Josef holte die Blechdose mit den Bonbons aus dem Schrank. „Nein. Hier, mein Junge, nimm dir n´ Klümpken und geh´ spielen. Ich muss mich ausruhen.“

Michael schien enttäuscht. „Wann darf ich wiederkommen?“

„Nach dem Kaffee.“

 

Es war kalt gewesen in letzten Märznacht 1945 am kleinen Bahnhof in Hövelhof. Die Volkssturmleute standen in einer windgeschützten Ecke, wo sie fröstelnd auf den Einsatzbefehl warteten.

„Werden wir die Amis aufhalten können?“, fragte ein braunhaariger Junge namens Willi.

Josef lächelte.

„Nur aufhalten? Wir jagen das Pack wieder raus aus unserem Land!“, rief ein anderer. Das war Paul, gerade mal fünfzehn, Hitlerjunge durch und durch.

„Jeder von uns hat aber nur zwanzig Schuss“, sagte Willi furchtsam.

„Wir werden ihre Waffen erbeuten!“, sagte Paul entschlossen.

Willi stand die Angst ins Gesicht geschrieben. „Sie haben Panzer.“

„Panzer? So ein Sherman ist nur eine dünne Blechbüchse. Unsere Tiger haben die meisten bei Borchen schon zusammengeschossen. Die paar, die noch übrig sind, erledigen wir mit der Panzerfaust.“

„Ich habe trotzdem Schiss“, wisperte Willi.

„Halt dich einfach dicht an Josef. Da passiert dir nichts“, sagte der alte Heinrich, Josefs Nachbar.

„Warum das?“

Der Alte lachte: „Die Furchtlosen trifft es nicht.“

„Genau!“, lärmte Paul. „Er hat sogar das Eiserne Kreuz! Das hole ich mir auch!“

„Stimmt das, Josef? Das mit dem EK?“, fragte Willi ehrfurchtsvoll.

Josef nickte.

„Wann hast du das bekommen?“

„Das war noch zu Kaisers Zeiten.“

„Josef war bei den 8. Husaren. In Frankreich und in Russland. Und seine Söhne sind bestimmt auch Helden, nicht wahr?“, rief Paul.

Der Älteste an der Ostfront gefallen, der Zweite schwer verletzt und seitdem kriegsuntauglich, der dritte an einer Lungenentzündung gestorben. Nur seine Töchter waren wohlauf, alle drei.

Eine Woche noch, höchstens zwei, dann würden sie den Laden hier dichtmachen und er könnte zu seiner Familie zurück. Hoffentlich konnte er den kleinen Willi heil über die Runden bringen.

Aus der Ferne war nun aufgeregtes Gewehrfeuer zu hören, beantwortet vom Stakkato eines Maschinengewehrs. Ein trockener Knall, wahrscheinlich von einer Pak 38. Ein rote Leuchtkugel stieg auf.

„Macht Euch jetzt fertig. Ich denke, sie werden uns gleich die Verteidigungslinie auf der anderen Seite des Dorfes verstärken lassen“, sagte Josef. Er nahm seinen 98K, der länger war als sein alter Kavalleriekarabiner, öffnete gewohnheitsmäßig den Verschluss und blickte durch den Lauf in den Morgenhimmel. Rohrkrepierer waren einfach zu vermeiden.

Willi wollte es ihm nachtun. Seine Bewegungen waren fahrig. Josef schüttelte den Kopf. Wenn er so weiter machte, fiel ihm das Ding noch hin.

Er legte Willi eine Hand auf den Arm. „Wir haben das doch geübt. Du kannst das. Denk einfach daran, dass die anderen viel mehr Angst haben als du.“

„Warum?“

„Weil sie im Angriff sind und wir in der Stellung. Wie lautet die wichtigste Regel?“

„Schnell schießen und noch schneller wieder verschwinden.“

„Sehr gut. Und was machst du, wenn …?“

Motorengeräusch ließ ihn innehalten. Ein Kübelwagen der Wehrmacht kam näher und hielt bei Volkssturmleuten. Ein Feldwebel sprang heraus und rief: „Paderborn hat kapituliert, Hövelhof auch. Geht zum Rathaus und gebt eure Waffen ab. Hier ist der Krieg zu Ende.“

Willi weinte still vor Erleichterung, Paul dagegen starrte wütend auf den Feldwebel. „Wir ergeben uns nicht!“

„Mach keinen Blödsinn, Junge.“

„Volksverräter!“, schrie Paul und hob seinem Karabiner.

Bevor er angelegen konnte, hatte Josef den Lauf nach oben geschlagen und ihm die Waffe entrissen.

„Lass gut sein, es is´ vorbei. Ich geb´ die Knarre für dich ab.“

Paul ballte die Fäuste, dann ließ er den Kopf hängen.

Josef sicherte das Gewehr und hängte sich Pauls Waffe über die Schulter.

„Komm, Willi“, sagte er. „Wir gehen nach Hause.“

 

 

 

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