Von Bernd Kleber

Das Wasser rauscht über die Belüftungsanlage an der Obermühle. Zwei Enten treiben scheinbar teilnahmslos auf der Neiße, doch ihre Füße arbeiten hart gegen den Dezemberstrom. Ab und zu hebt eine von ihnen den Kopf, als wolle sie prüfen, ob es sich lohne, gegen diese Welt anzuschwimmen. Es ist mild für die Jahreszeit, zu mild eigentlich, und doch menschenleer am Ufer.

 

Ich lehne am Geländer und blicke hinüber auf die andere Seite. Dort liegt Polen. Ein Land, das die tiefen Narben des letzten großen Krieges noch immer trägt und dem man 1945 die halbe Stadt zuschlug, indem man die Grenze einfach nach Westen verschob.

 

Damals flohen Deutsche aus Schlesien, Pommern und Ostpreußen. Eine Zeit, dunkel wie die Wolken, die am heutigen Wintertag auf diese Stadt drücken. Ich bin dankbar, dass ich sie nicht erleben musste.

 

Mein Blick geht weiter zum Neißeviadukt, das sich mit malerischer Ruhe über den Fluss spannt. Der Neißefall rauscht kraftvoll, als würde der Strom an dieser Stelle noch einmal alles aussprechen wollen, bevor er Görlitz verlässt. Die Stadt hatte im Krieg Glück. Nur wenig wurde zerstört. Heute gilt sie als eines der größten Flächendenkmäler des Landes.

 

Hier liegt nun mein Großvater begraben, in dieser Erde, die er liebte. Er war nach dem Krieg geblieben, nachdem die Familie aus östlicheren Gebieten Schlesiens vertrieben worden war. Er sprach selten über jene Zeit, in der Kommunisten ehemalige Nazis suchten und deutsche Bürger polnische Nachbarn vor dem wütenden Mob Vertriebener schützten. Nur eines erwähnte er immer wieder: Er habe einen Polen versteckt. Einen Mann, den er immer nur K. nannte, drüben auf der Seite, die heute Zgorzelec heißt.

 

Warum erzählte er nie mehr darüber? Wer war dieser K.? Was genau war damals geschehen? Immer wenn Opa zwei, drei Kümmerlinge getrunken hatte, kam er auf die Geschichte zu sprechen. Doch sobald man nachfragte, lenkte er ab.

 

Es machte mich stolz: Mein Opa, ein Held.

 

Irgendwann wurde der Wunsch, diese Geschichte zu verstehen, zu groß. Also suchte ich den Ort auf, den Opa so oft genannt hatte. Die Äußere Laubaner Straße. Der Name benannte die noch weiter östlich befindliche Stadt Lauban, die heute ebenfalls anders heißt. Alles hier schien verschoben worden zu sein: Grenzen, Namen, Menschen.

 

Einige Tage später überquerte ich die neue Fußgängerbrücke hinüber nach Zgorzelec. Ich suchte die Straße, fand sie. Sie heißt heute „Ulica Zamiejsko-Lubańska“. Und schließlich stand ich vor der Hausnummer, von der mein Großvater erzählt hatte.

 

Ein Zaun umgab einen Garten voller Obstbäume, die in der Winterruhe standen. Die Häuser in der Straßenflucht sahen einander ähnlich, altdeutsche Doppelhaushälften, Jahre und Kriege hatten an ihnen genagt, aber nicht gesiegt. Ein kleines Mädchen schob einen Puppenwagen durch den Garten. Seine Pudelmütze wippte bei jedem Schritt. Ich bemerkte erst, wie weit ich in Gedanken abgedriftet war, als eine tiefe Stimme erklang.

 

„Was machen Sie da?“

 

Ich fuhr zusammen. Ein Mann stand im Schatten des Hauses, älter, breitschultrig, mit einem Blick, der mehr sah, als er zeigte. Sein Deutsch klang weich, gebrochen.

 

Ich stammelte eine Erklärung, erzählte von meinem Großvater, von der Geschichte, die mich hergeführt hatte.

 

Der Mann sah mich so lange an, wie ein Schwan braucht, um auf der Neiße zu landen. Zu lange.

 

„Sagen Sie mir Name von deutschem Mann. Ist das der Herrmann?“

 

Ich zuckte zusammen.

 

„Ja. Mein Großvater. Herrmann. Er ist vor Kurzem gestorben. Kannten Sie ihn?“

 

Der Mann blinzelte, so langsam, als müsse er den Gedanken verfolgen.

 

„Sie sein Enkel?“

 

„Ja.“

 

„Kommen Sie rein. Wir müssen reden.“

 

Das Gartentor quietschte wie eine Erinnerung, die zu lange verschlossen war. Das Mädchen blieb stehen und starrte mich mit großen Augen an, als ich dem Alten folgte.

 

In der Küche roch es nach Knoblauch und nach etwas Abgestandenem, das ich nicht einordnen konnte. Der Mann stellte Wasser auf und wies auf einen Stuhl.

 

„Setzen du.“

 

Als der Tee dampfte, hob er den Kopf. Seine braunen Augen hatten eine Wärme, die zu der Strenge seines Gesichts nicht passte.

 

„Was hat Herrmann erzählt?“

 

Ich wiederholte alles, was ich wusste. Die Rettung. Die Bescheidenheit meines Großvaters. Seine Menschlichkeit. Die Hoffnung, dass seine Geschichte ein Beweis dafür sei, dass Güte in dunklen Zeiten leuchten kann. Der Mann hörte zu, nickte, murmelte „tak“, „dobrze“.

 

Als ich geendet hatte, stand er auf, ging zum Fenster, blieb stehen und drehte sich langsam wieder zu mir um.

 

„Ich erzählen dir jetzt etwas“, sagte er leise. „Und du musst wissen: Manche Dinge brauchen Ruhe. Aber Wahrheit ist auch wichtig.“

 

Dann sagte er es. 

 

„Ich bin der K. Ich heiße Kaminsky. Kaminsky Józef.“

 

Er setzte sich. Seine Hände lagen schwer auf dem Tisch.

 

„Herrmann hat mich nicht gerettet. Ich habe Herrmann gerettet.“

 

Die Worte prallten an mir ab, fanden keinen Halt. Dieser Satz, der das Bild meines Großvaters zerbrechen ließ wie dünnes Eis.

 

Er erzählte weiter. Von einem Flüchtlingszug voller verzweifelter Menschen. Von der Angst, die nach dem Krieg in den Straßen hing wie kalter Rauch. Von Männern, die Herrmann erkannt hatten. Nicht als Flüchtling. 

 

„Stimmung wurde schlimm“, sagte Józef. „Kommunisten gesucht ihn. Deutsche wütend. Er allein.“

 

Er sah mich an, als wolle er prüfen, ob ich stark genug war, weiter zuzuhören.

 

„Herrmann weinte. Wirklich. Hielt Pistole an Kopf. Ich nahm sie ihm weg. Sagte: Das ist große Sünde. Und dann… wir sprachen Nächte. Er bereute. Ganz tief. Ich habe das gespürt.“

 

Der Pole stand auf, öffnete einen Schrank und holte einen Schuhkarton hervor.

 

Fotos.

 

Mein Großvater. Jung. In schwarzer Uniform. Totenköpfe an den Kragenspiegeln. Eine Schirmmütze tief im  Gesicht.

 

Mir wurde schlecht. Alles verschwamm.

 

Józef legte mir eine Hand auf den Arm.

 

„Junge. Ich habe deinen Großvater versteckt, weil er war nicht mehr Mann auf diesen Bildern. Er wollte besser sein. Und er ist besser geworden. Jedes Jahr kam er zu Pfingsten. Brachte Geschenke. Spielte mit meinen Kindern. Später mit meiner Enkelin. Er war… Freund.“

 

Er atmete schwer.

 

„Ich nicht wissen, dass er gestorben. Am Hohefest ich hätte gewartet. Lange.“

 

Ich sah auf die Fotos. Auf den alten Mann vor mir. Auf den Garten draußen hinter den alten Glasscheiben. Auf alles, was plötzlich anders war als zuvor.

 

Und doch: Etwas war wahr geblieben.

 

Nicht die Heldengeschichte.

Aber die Reue.

Die Veränderung.

Die Freundschaft.

Jetzt stehe ich wieder am Neißefall. Das Wasser rauscht laut, als wolle es etwas sagen. Vielleicht, dass man vergeben kann. Vielleicht, dass man niemals vergessen darf.

 

Ich habe neue Freunde gefunden, auf der anderen Seite dieses Flusses, der Länder trennt und Schicksale verbindet. Und zu Pfingsten werde ich wieder hinübergehen in die Ulica Zamiejsko-Lubańska.

 

Zu den Kaminskys.

Den Menschen, die meinen Großvater retteten.

Vor anderen.

Vor sich selbst.

 

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