Von Monika Heil
„Heute ist ein ganz besonderer Tag, wissen Sie das?“
„Ja, das weiß ich, Frau Sander. Das haben Sie mir doch gestern schon erzählt.“
Und vorige Woche und die Woche davor, denkt Karin, sagt aber nichts weiter.
„Geben Sie mir bitte mal meine Brille und das Buch dort auf dem Nachttisch? Dann lese ich Ihnen aus meinen Erinnerungen ein bisschen vor.“
„Ein anderes Mal gern, Frau Sander, jetzt muss ich mich aber erst um die anderen Bewohner kümmern.“
Schwester Karin holt das Gewünschte.
„Bis später Frau Sander.“
„Ja, bis später. Danke Karin.“
Die alte Dame blättert in ihrem „Erinnerungsbuch“, einer abgewetzten Ringbuchkladde, findet die passende Eintragung und liest dem Zimmer laut vor:
„Als mein Vater in russische Kriegsgefangenschaft geriet, wusste er nicht, dass meine Mutter mit seinem zweiten Kind schwanger war. Und es sollte acht Jahre dauern, bis wir uns endlich kennenlernten, denn erst Ende 1953 kam er im Zuge von Adenauers Bemühungen als Spätheimkehrer aus Stalingrad zurück. Schwere Jahre für meine Mutter und für ihn. Aber sie hatten Kontakt, denn es war ihm erlaubt, eine Postkarte pro Monat an seine Familie zu schicken. Eine davon hat eine besondere Bedeutung. Und das kam so:
Die Kinder eines hessischen Gymnasiums hatten in einer Aktion Care-Pakete an russische Kriegsgefangene geschickt. Eines erreichte meinen Vater. So bat er meine Mutter auf seiner monatlichen Postkarte, sich in seinem Name bei jener Schulklasse zu bedanken. Die winzig klein vollgeschriebene Karte besitze ich noch heute.“
Sie legt das Buch beiseite und schaut zur Bilderecke über ihrem Bett. Jede Menge Schwarz-Weißfotos einiger Familienangehöriger und eben diese Postkarte gerahmt im Mittelpunkt.
„Ach ja, damit fing alles an“, seufzt sie und schläft im Sitzen ein.
Selbst in ihren Träumen verfolgt sie die Erinnerung. Es war der Geburtstag ihrer Mutter. Als Kind hatte sie bei den Großeltern gelebt und ihre ältere Schwester bei ihrer berufstätigen Mutter, die, wie viele Frauen in jener Zeit, sozusagen alleinerziehend war. Sie sieht sich an der Hand ihres Großvaters die elterliche Wohnung betreten, nimmt die festlich gekleideten Menschen im Raum nicht wahr. Ihr Blick klebt an der mageren Gestalt vor dem großen Kachelofen. Wie auf Schienen gezogen bewegt sie sich auf ihn zu. Er hebt sie hoch, bis ihr Gesicht auf seiner Höhe ist, sie schauen sich in die Augen. Sie legt ihre Arme um seinen Hals und dann fällt der erste Satz, den ihr Vater zu ihr sagt:
„Du bist also meine kleine Tochter.“ Ungeduldig nimmt sie selbst im Traum die verzögernde Pause war. Und dann: „Ich habe schon viel von dir gehört.“ Wieder wartet sie die nächste Pause ab. „Aber nichts Gutes.“
Von Stund´ an blieb sie eine Vatertochter bis zu seinem Tode.
Als Schwester Karin sie zum Mittagessen weckt, strahlt die alte Frau Sander.
„Stellen Sie sich vor, ich habe gerade meinen Vater gesehen im Traum. Heute ist nämlich ein besonderes Datum. Wissen Sie das?“
„Ja, das weiß ich, Frau Sander. Es ist der Geburtstag Ihrer Frau Mutter und der Tag, an dem Ihr Vater aus Russland kam. Und nun kommen Sie, die Mittagsrunde wartet.“
Wie meist verlief das Mittagessen fröhlich und lebhaft. Dass Frau Sander ihren besonderen Tag zum x-ten Male wiederholte, fiel den anderen Alten offenbar nicht auf. Sie ließen sie berichten.
„Soll ich Euch aus meinem Erinnerungsbuch vorlesen? Da steht, wie es weiter ging mit den Paketen. Ich habe nämlich dadurch auch meinen lieben Mann kennengelernt.“ Als kein Widerspruch kommt, blättert sie kurz, erwähnt die Postkarte und liest vor:
„Meine Mutter berichtete also jener Klasse die politischen Zusammenhänge, bedankte sich und „erzählte“ ein wenig über ihr Dasein in der DDR, erwähnte ihre beiden Töchter. Die Ältere lebte in einem Internat, die jüngere – ich – bei den Großeltern. Zu Ostern erreichte mich ein Paket mit – mir unbekannten – leckeren Süßigkeiten und einem Kärtchen „Von der Moni für die Moni.“ Das blieb so Jahr für Jahr.“ Sie blättert kurz weiter, findet den Anschluss nicht. „Und dann kam mein Vater aus Russland. Das war heute vor, vor …“ sie versucht, zu rechnen. „Hundert Jahren“, wirft Herr Böckmann ein.
„Na, egal. Schlimm war, dass er nur einen Monat später die DDR über Berlin in den „Westen“ verließ. Meiner Schwester hatte er erklärt, sie wollten meinen Cousin in Berlin besuchen. Meine Mutter schaffte es, kurz vor Weihnachten die DDR ebenfalls zu verlassen. Alles, was sie aufgebaut hatte, musste sie zurücklassen. Auch ich blieb bei den Großeltern und fragte mich sehr traurig, ob mich meine Familie nicht mehr lieb hätte.“
„So, Frau Sander, genug für heute. Der Mittagsschlaf wartet auf Sie alle Sechs. Zum Kaffee können Sie weiter erzählen.“
Schwester Karin weiß auch so,wie die Lebensgeschichte der ältesten Bewohnerin des Heimes weiterging.
Ostern 1954 durfte sie endlich „im Zuge der Familienzusammenführung“ wie es bürokratisch nüchtern hieß, ausreisen. Da sich ihre Eltern in eben jener hessischen Stadt niedergelassen hatten, wollte es der Zufall, dass ihre Jüngste in jenes Gymnasium eingeschult wurde, welches die Care-Paket-Aktion betrieben hatte. Im Geiste hörte sie Frau Sander triumphierend die Schlusspointe ihres kindlichen Lebenslaufs berichten.
“Und es kam noch besser: Elke, meine Sitznachbarin, war die kleine Schwester von Moni. Und beide hatten einen großen Bruder – Peter Sander. Und der war mein Mann über sechzig Jahre lang.“
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