Von Andreas Schröter
Als ich drei oder vier Jahre alt war, arbeiteten meine Eltern beide. Ich war aber nicht im Kindergarten, sondern bei meinen Großeltern in Witten-Annen. Dort gefiel es mir. Weil das Haus uralt war, war die ganze Wohnung krumm und schief. Das hatte zum Beispiel zur Folge, dass auch der Küchentisch uneben war. Man konnte eine Murmel von einem Ende zum anderen rollen lassen, ohne sie anstupsen zu müssen – etwas, das ich stundenlang tun konnte. Im Haus befand sich auch ein Tante-Emma-Laden, der morgens um 8 Uhr öffnen sollte. Ich stand also um Punkt 8 Uhr am Fenster, um zu schauen, ob Tante Malli – so hieß die Betreiberin – schon da war. Wenn sie es nicht war, wurde ich fuchsteufelswild. Man kann doch nicht die Öffnungszeit für 8 Uhr angeben und dann nicht da sein. Urteilen Sie selbst, was diese Einstellung im Hinblick auf meinen Charakter bedeutet.
Mein Opa schlug mir oft vor, doch einen Spaziergang nach Annen downtown zu unternehmen. „Wir können ja mal am Bahnhof gucken, ob wir eine Dampflok sehen.“ Oma verdrehte dann die Augen. Opa hatte ganz klar einen Dampflok-Fimmel. Er hatte in jungen Jahren wohl mal ein paar Jahre in einem Ausbesserungswerk gearbeitet und dort mit diesen urzeitlichen Ungetümen zu tun gehabt.
Also zogen wir los – auf Dampflok-Jagd. Und tatsächlich kam es alle paar Wochen vor, dass eine riesige pechschwarze Lok fauchend und eingehüllt in Dampf am Annener Bahnhof stand und nach dem dortigen Halt langsam weiterfuhr. Ich musste Opa recht geben, der dann immer ganz aufgeregt wurde. Das war ein imposanter Anblick und hatte den Fußmarsch definitiv gelohnt. Ich habe das mal recherchiert. In der Zeit um 1966/67, als ich vormittags bei meinen Großeltern war, gab es tatsächlich noch Dampfloks im regulären Betrieb.
Der Teil, der nach dem Besuch – ob erfolgreich oder nicht – am Annener Bahnhof folgte, war weniger aufregend. Wir gingen in Opas Stammkneipe. Er trank ein Bier, ich ein Malzbier. Opa sagte dann streng: „Das ist das letzte Mal, dass ich dir einen ausgebe. Das nächste Mal bist du dran.“ Das stürzte mich regelmäßig in tiefe Verzweiflung. Denn als Vierjähriger hat man naturgemäß nicht genug Geld in der Tasche, um seinen Opa auf ein Bier einladen zu können.
Am 27. Juni 1967 war alles anders. Ich weiß deshalb so genau, dass es dieser Tag war, weil es dazu später auch einen Zeitungsartikel im Lokalteil der Ruhr Nachrichten gab, den ich immer noch irgendwo habe. Wir standen wieder am Bahnhof, und tatsächlich stand dort seit Langem zum ersten Mal wieder eine riesige Dampflok, die den Personenzug zog, der jetzt am Bahnsteig hielt, um Passagiere ein- und aussteigen zu lassen.
Opa war wie immer hellauf begeistert, doch irgendetwas veränderte sich an diesem Tag mehr und mehr. Eine gewisse Besorgnis schlich sich in seine Miene. Opa sprach leise vor sich hin: „Kein Dampf … wieso kein Dampf? Der Druck.“
Er umklammerte die geschlossene Schranke, vor der wir standen. Im Inneren des Führerhauses der Lok glaubte ich Männer zu sehen, die hektisch hin- und herliefen.
Opa murmelte: „Das Sicherheitsventil muss klemmen.“ Seine Fingerknöchel traten nun weiß hervor. Neben uns stand ein Mann, den Opa kannte. Zu dem sagte er jetzt: „Pass mal bitte kurz auf meinen Enkel Andreas auf. Ich bin sofort wieder da.“ Mit diesen Worten kletterte er über die geschlossene Schranke – ich weiß noch, dass ich staunte, dass er dazu in seinem Alter noch fähig war –, stürmte auf die Lok zu und kletterte an einer der Außenleitern zum Führerhaus hoch. Die Männer dort bedeuteten ihm, sich sofort auf den Rückzug zu begeben. Ich glaubte, etwas von Gefahr, Überdruck und „bar“ zu hören. Doch ich war viel zu sehr damit beschäftigt, nicht zu weinen, denn es behagte mir ganz und gar nicht, hier an der Hand von einem fremden Mann zu stehen, während mein Opa was auch immer tat.
Ich sah, wie Opa auf die Männer einredete, und schließlich öffneten sie eine Tür zum Führerhaus und ließen ihn ein.
Das Folgende habe ich nur aus dem, was Opa in den folgenden Jahren bis zu seinem Tod 1989 jedem erzählte, der es hören oder auch nicht hören wollte:
Opa hatte schon draußen, als wir noch vor den Schranken standen, gemutmaßt, dass etwas mit dem Sicherheitsventil nicht stimmen konnte, das dafür zuständig war, den überschüssigen Dampf abzulassen. Es kam sehr selten vor, dass diese Ventile streikten, etwa weil sie verschmutzt, verrostet oder falsch kalibriert waren. Natürlich hatte der Heizer sofort die Feuerung gestoppt, aber dennoch stieg der Druck im Kessel unablässig. Als Opa das Führerhaus betrat, lag er bei 8,5 bar. Bei 10 konnte es gefährlich werden. Im Extremfall hätte die gesamte Lok explodieren können – mit unabsehbaren Folgen für die Menschen, die sich im Zug oder in dessen näheren Umfeld befanden.
Auch Opa wusste nicht gleich, was zu tun war. Währenddessen stieg der Druck weiter. 9 – 9,5 – 10 … Der Lokführer wirkte desorientiert. Schweißtropfen hatten sich auf seiner Stirn gebildet. Ein leise gemurmeltes „Was soll ich bloß machen?“, glaubte Opa einmal zu hören. Schließlich befahl er mit übertrieben lauter Stimme die sofortige Evakuierung des Zuges und des Führerhauses. Die ebenfalls anwesenden Schaffner begaben sich in den Personenwagen, um diesen Befehl umzusetzen. Und in der Tat konnte ich wenig später von draußen sehen, wie die Menschen den Zug verließen und sich beeilten, in die Katakomben des Bahnhofs abzusteigen.
In diesem Moment erinnerte sich Opa an seine Zeit im Ausbesserungswerk und daran, dass es für einen solchen Notfall ein sogenanntes Bypass-Ventil irgendwo im Führerhaus geben musste, mit dem man den Druck im Notfall regulieren konnte. Nur, wo um Himmels Willen konnte sich dieses Ventil in dem ganzen Gewirr von Verstrebungen, Schläuchen, Hebeln und Schaltern verbergen?
Der Druck lag bei 11,5 bar, und nur noch Opa befand sich im Führerhaus, als er das Ventil fand. Von außen konnte ich nur sehen, dass jetzt doch wieder etwas Dampf von der Lokomotive in den Himmel stieg. Es dauerte eine weitere halbe Stunde, bis der Druck im Kessel wieder auf Normalniveau lag.
An diesem Tag bestellte Opa in der Stammkneipe sogar zwei Bier. Ich beobachtete ihn heimlich von der Seite. Einmal glaubte ich, ein leichtes Zittern seiner Hand wahrzunehmen, als er sein Glas an die Lippen hob. Ungewöhnlich war auch, dass er gar nicht – wie sonst immer – darauf bestand, dass ich diesmal die Rechnung beglich. Jedenfalls musste ich an diesem Tag noch länger warten, bis ich endlich wieder zu meinem unebenen Küchentisch und den Murmeln kam.
Der Lokführer wurde am übernächsten Tag fristlos von der Eisenbahn entlassen. Es sei erstens nicht hinnehmbar, dass er das Bypass-Ventil nicht kannte. Er versuchte sich damit herauszureden, dass er das erste Mal auf diesem Typ Lok eingesetzt worden war und dass seine Einweisung mehr als schlampig gewesen war. Zweitens sei es genauso unverzeihlich, dass er selbst das Führerhaus verlassen hatte, es aber einem unbeteiligten Zivilisten erlaubt habe, dort zu verbleiben. Opa hingegen erhielt einen Monat später sowohl von der Stadt Witten als auch von der Bahn eine Ehrung. In der Zeitung stand schon zwei Tage später:
Beherztes Eingreifen verhindert Unglück am Bahnhof Witten-Annen-Nord
Witten. Zu einem potenziell gefährlichen Zwischenfall ist es am Dienstag am Bahnhof Witten-Annen-Nord gekommen. An einer Dampflok, die den Personenzug von Bochum nach Dortmund zog, klemmte das Sicherheitsventil, sodass sich der Druck im Kessel stetig erhöhte und zeitweise bedrohliche Werte erreichte. Nur dem schnellen und fachkundigen Eingreifen eines Seniors ist es zu verdanken, dass Schlimmeres verhindert werden konnte.
Der 72-jährige Heinrich Schröter, der sich zufällig in der Nähe aufhielt, erkannte die Gefahr umgehend. Ohne zu zögern, begab er sich ins Führerhaus der Lokomotive und fand eine technische Lösung, um den Druck im Kessel auf anderem Wege zu reduzieren. Dadurch konnte die Situation entschärft und eine mögliche Explosion verhindert werden.
Warum der zuständige Lokführer diese Möglichkeit nicht kannte oder nicht nutzte, ist bislang unklar. Die Ursache des klemmenden Ventils wird derzeit untersucht. Verletzt wurde bei dem Zwischenfall niemand, der Bahnverkehr musste jedoch kurzzeitig unterbrochen werden.
In Witten sorgt das Ereignis für große Anerkennung gegenüber dem mutigen Senior. Viele Bürgerinnen und Bürger sprechen bereits von einem Helden. Auch Bürgermeister Fritz Reincke (SPD) würdigte Schröters Einsatz und ließ verlauten, dass die Stadt plane, ihn in geeigneter Weise zu ehren. „Herr Schröter hat mit Umsicht und Fachwissen gehandelt und möglicherweise eine Katastrophe verhindert“, so Reincke.
Der Vorfall zeigt eindrücklich, wie wichtig technisches Know-how und Zivilcourage auch im Alltag sein können – und dass Erfahrung manchmal den entscheidenden Unterschied macht.
