Von Simone Tröger
Geboren werde ich erst im nächsten Jahr. Also in ein paar Stunden. Bei meinen zukünftigen Eltern habe ich mich noch nicht angekündigt. Schwer mache ich es, insbesondere meiner Mama, nicht. Denn ich bin gespannt, ob mein weiches Bettchen so schön warm ist wie es hier drinnen ist, wo ich eben noch wohne. Auch meinen Opa und meine Oma möchte ich endlich kennenlernen. Meine Oma hat mit ihrer beruhigenden Stimme, die mich üblicherweise einschlafen lässt, meiner Mama so schöne Geschichten von ihren Puppen erzählt, dass ich auch gern welche hätte. Aber ich bin ein Junge. Das weiß die Oma nicht. Nur Mama und Papa. Jungs spielen nicht mit Menschen aus Silikon.
Sogar einen Namen wissen meine Eltern schon für mich, „Henry“ soll ich gerufen werden. Naja – ein Mitspracherecht habe ich nicht.
Omi meint, zum nächsten Jahresende ist es vielleicht nicht mehr so entspannt wie heute, also hat sie das Fotoalbum herausgekramt und zeigt es meiner Mami.
Dabei habe ich mitgehört.
„Und hier sind die Bilder vom Costa-Rica-Urlaub 1990. In diesen Ferien bist du entstanden, und jetzt bekomme ich schon ein Enkelkind. Hier waren dein Vater und ich noch jung.
Sieh mal! Dein Vati hängt in den Bäumen wie ein Faultier! Damit wollte er mich sicher beeindrucken, aber ich weiß noch, dass ich darauf nicht einging, weil ich Angst hatte, ihn kidnapped eine Lanzenotter oder etwas Vergleichbares. Also habe ich auf den Auslöser des Fotoapparates gedrückt, damit er ganz schnell wieder von dort wegkam. So leben wie die einheimischen Ticos könnte ich nicht. Täglich stürbe ich 1000 Tode. Und die sprechen von „Pura Vida“. Das bei dem Getier.
Wir machten damals eine Reise durch das ganze Land. Hier ist die karibische Meeresküste. Das Wasser war herrlich, denke, 27 Grad. Die Schattentemperatur betrug ca. 35 Grad. Dass du zu dieser Zeit schon ein Teil von mir warst, wusste ich noch nicht, sonst hätten die Hitze und die freudige Überraschung mich doppelt umgehauen. So habe ich erst zu Hause von meiner Schwangerschaft erfahren. „Genießen“ konnte ich die Glut also schon. Gebrochen habe ich später dann ausgiebig. Sei froh, dass es dir nicht so ergeht!“
„Ja, Mutti. Das bin ich. In den letzten Tagen meiner Schwangerschaft möchte ich auch nicht mehr damit anfangen.“
„Und hier spielt dein Vater Affe. An die Mango kam er trotzdem nicht dran. Ein Einheimischer hat das gesehen, sich kaputtgelacht und uns zu seiner Großfamilie eingeladen. Wir trafen zum Essen auf mehr als 100 Leute.
„Gallo Pinto“ essen wir hier. In einem „Soda“. Oder heißt es „in einer Soda“? Das weiß ich nicht mehr. Jedenfalls sind das die Restaurants. Der Kaffee ist vorzüglich. Du wärest vom Tee- zum Kaffeetrinker geworden.
Hier: so sehen Straßen aus. Ausgebaut sind die in den wenigsten Fällen. Nicht selten fährt man in der Regenzeit durch Schlamm. Heutzutage ist das sicher auch anders.
Einmal waren wir an einem Strand – weiß den Namen nicht mehr. Wir faulenzten an vielen Stränden. Dort kannst du sonst was am Strand tun, ohne dass dich einer beobachtet. Schon klar, dass auch ein erwachsenes Kind nicht wissen will, was die Eltern da tun. Ja, dein Vater und ich lagen im weißen Sand, und wussten nicht, dass bei Regenzeit kein Fortkommen mehr ist. Auch da kamen uns die Ticos zu Hilfe. Während ich in Gedanken schon am Strand, umgeben von Korallenottern, Pfeilgiftfröschen und Krokodilen, nächtigte, animierte Einer seine zahlreichen Brüder. Sie zerrten und zogen unseren gemieteten Geländewagen aus der Gefahrenzone und ermöglichten so unsere Weiterfahrt in die Sicherheit. Glücklicherweise herrscht dort Rechtsverkehr, so dass dein Vater nicht auch noch Probleme wegen der ungewohnten Fahrerseite bekam.
„Zum einen das, und auch keine Punkte in Flensburg.“
„Hier! Dieser Baum ist über 40 Meter hoch. „Guana…“ Es ist so lange her. Das Album hatte ich schon ewig nicht mehr in den Händen. Vater, wie hieß der Baum noch?“
„Oh, das weiß ich auch nicht mehr.“
„Manche Vulkane speien ihr Lava unvermittelt. Teilweise machen die feuerspuckenden Berge heiße Quellen. Aber wer will schon da hinein, bei dieser Wärme?
Das Bad hier unter dem Wasserfall war dagegen sehr erfrischend. So erfrischend wie ein kühler Tag im Sommer. Wie ein warmer Herbsttag konnte man da nicht sagen.
Auf dieser Insel hier leben fast nur Krokodile. Die Panzerechsen kannst du in freier Wildbahn erleben. Da konntest du, als angstfreier Mensch, dir einen Weg zum Ausgang bahnen, wie der bekannte Doppel-0-Agent es in einem seiner Filme tat.
Und hier wollte dein Vater mir das Surfen beibringen, hat das aber bald wieder bleiben lassen. Das ist dann schon etwas anderes als surfen auf der Müritz.
Hier ist einmal ein schwarzer Strand zu sehen. Unsere weißen Körper darauf waren wie Leuchten in der Dunkelheit.
Im Dschungel flatterten dutzende Kolibris. Nicht zu vergleichen mit einer Schwalbe.“
„Mutter, Vater, Lukas! Es ist gleich 12 Uhr. Der Schluck Sekt zum Anstoßen wird dem Baby in meinem Bauch wohl nicht schaden…“
Nein, der schadet mir keinesfalls. Denn ich habe nicht vor in dieser Dunkelheit auszuharren. Ganz behutsam mache ich mich nun auf den Weg. Auf ein Neues!
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