Von Angelika Brox
„Stopp!“, ruft der Flurspiegel.
Vor Schreck lässt Timo fast das Glas mit Wodka-Cola fallen, das er sich gerade in der Küche eingegossen hat. Wie ein Rekrut auf dem Kasernenhof steht er stramm und starrt auf sein Ebenbild. Löchrige Socken, ausgebeulte Jogginghose, fettige lange Haare, struppiger Bart, auf dem zerknitterten T-Shirt steht „Früher war alles besser“ – und darunter in kleiner Schrift: „Ich bin von früher“. Am Bauch prangt ein Marmeladenfleck.
Insgesamt kein schöner Anblick.
Timo zieht den Kopf ein und zockelt ab in Richtung Wohnzimmer. Dabei murmelt er vor sich hin: „Ich glaub, es geht los, jetzt hör ich schon Stimmen.“
„Hey!“, ruft der Spiegel. „Schlurf nicht dauernd an mir vorbei wie ein müder Schlumpf! Guck mich gefälligst mal richtig an! Ich bin’s leid, so scheiße auszusehen! Eine Zumutung ist das!“
Folgsam dreht sich Timo um, das Glas fest in der Hand. Er sieht in seine eigenen aufgerissenen Augen.
„Seit wann kannst du sprechen?“, fragt er.
„Seit du dauernd mit dir selbst redest.“
„Ha, erwischt!“, trumpft Timo auf. „Du hast eben den Mund gar nicht bewegt. Voll der Fake!“
„Kleiner Schlauberger!“, antwortet der Spiegel milde. „Wenn dein Mund zu ist, kann sich meiner natürlich nicht bewegen, ist ja logisch. Du hörst meine Stimme nur in deinem Kopf. Man nennt das Spiegelpathie.“
„Aha. Wenn du es sagst. – Und was willst du von mir?“
„Dass du dich endlich wieder wie ein Mensch präsentierst. Haare waschen, Bart stutzen, saubere Sachen anziehen! Ich bin ein Spiegel, kein Tatortfoto!“
Timo seufzt, hebt das Glas zum Mund, entscheidet sich dann aber anders. Er zeigt den Mittelfinger und trottet in die Küche, um sein Getränk in den Kühlschrank zu stellen.
„Das hab ich gesehen!“, ruft der Spiegel ihm nach.
Timo grinst – das erste Mal seit Tagen – und verschwindet im Bad.
„Schon besser“, lobt der Spiegel, als Timo frisch geduscht, mit Dutt und sauberer Kleidung vor ihm steht. Er trägt eine hellblaue Jeans und weiße Sneaker. Sein T-Shirt ist schlicht schwarz und fast faltenfrei.
„Endlich bist du wieder der alte Awati.“
„Hä? Ich heiße Timo.“
„Am Telefon meldest du dich immer mit ‚Awati‘.“
„Das ist mein Nachname.“
„Cool. Ich will auch zwei Namen.“
Timo kratzt sich am Kopf. Dann kramt er aus einer Schublade Papier und Stift hervor, schreibt: AWATI TIMO und hält seinem Spiegelbild den Zettel vor die Nase.
„Da, so heißt du.“
„OMIT ITAWA“, liest der Spiegel. „Gefällt mir. Klingt international. – Sag mal, warum lässt du dich eigentlich so hängen?“
„Ach“, seufzt Timo, „irgendwie geht’s in letzter Zeit ständig bergab. Kein Job, keine Kohle, keine Frau, kein Garnix. Die Stadt wird immer hässlicher, die Leute rennen aneinander vorbei, sind schlecht drauf, es macht einfach keinen Spaß mehr.“
„Ich würd gern mit dir tauschen“, meint Omit.
„Ja, das wär’s noch“, lacht Timo.
„Kein Problem.“
Omit streckt einen Arm aus, ergreift Timos Hand und zieht ihn in den Spiegel hinein, während er selbst sich an Timo vorbei nach draußen schlängelt.
Nun stehen sie sich gegenüber und grinsen sich an.
„Wahnsinn“, sagt Timo.
„Nee, Spiegelmagie“, entgegnet Omit. „Jetzt schau ich mir mal die Stadt und die schrecklichen Leute an. Bis später!“
„Viel Vergnügen! Nimm den Schlüssel mit!“
Als die Wohnungstür hinter Omit zufällt, überkommt Timo ein mulmiges Gefühl. Was, wenn sein Spiegelbild nicht zurückkehrt? Dann sitzt er hier fest und hat nicht mal eine Wodka-Cola.
Staunend schlendert Omit die Straße entlang. Zum ersten Mal spürt er Sonne und Wind auf seiner Haut. Er fühlt sich wunderbar lebendig. Eine Mischung unbekannter Gerüche erfüllt seine Nase, duftige und kratzende. So viele Geräusche erreichen seine Ohren, dass er sie gar nicht alle zuordnen kann. Menschen bevölkern die Bürgersteige, auf der Fahrbahn flitzen Fortbewegungsmittel vorbei.
Verwirrt hält er an und blinzelt.
Prompt rennt ein Fußgänger von hinten in ihn hinein und schimpft: „Ey, du Penner!“
Erschrocken dreht Omit sich um und blickt in ein wütendes Gesicht.
„Entschuldigung“, murmelt er. „Was ist ein Penner?“
Irritiert zieht sein Gegenüber die Augenbrauen zusammen.
„Na, jemand, der im Laufen träumt, so wie du.“
Omit zieht ebenfalls die Augenbrauen zusammen.
„Es kommt mir tatsächlich so vor, als würde ich träumen.“
Der Fremde runzelt die Stirn. Omit ebenfalls. Der Mund des Fremden verzieht sich langsam zu einem Grinsen. Omits Mund ebenfalls.
„Hast recht, Kumpel“, sagt der Mann. „Vielleicht ist die Welt nur eine Illusion.“ Er hebt eine Hand zum Gruß. „Trotzdem schönen Tag noch!“
Freundlich erwidert Omit den Gruß und schlendert weiter.
Ein riesiger Spiegel an der Hauswand gegenüber erregt seine Aufmerksamkeit. Das ist sein Spezialgebiet, den muss er näher untersuchen.
Er tritt auf die Fahrbahn. Im nächsten Moment packt ihn jemand heftig am Arm und reißt ihn zurück.
„Huch“, sagt Omit.
„Huch ist gut. Sie wären beinahe überfahren worden!“
Omit wird blass. „Oh, danke.“ Er schüttelt seinem Retter die Hand.
Der deutet auf ein paar weiße Streifen am Boden zehn Meter weiter.
„Gehen Sie lieber über den Zebrastreifen. Das ist sicherer.“
Omit zeigt dorthin und lächelt den Mann an. Der lächelt zurück.
„Immer schön vorsichtig!“, gibt er ihm mit auf den Weg.
Unbeschadet überquert Omit die Straße, dann stellt er sich vor den großen Spiegel an der Hauswand.
Er betrachtet sich von allen Seiten, betastet seine Frisur und streckt sich selbst die Zunge heraus. Bald leistet ihm ein kleines Mädchen Gesellschaft. Gemeinsam hüpfen sie vor der Spiegelfläche herum, ziehen Grimassen und lachen – bis eine Frau kommt und das Mädchen wegzieht.
„Tschüss“, sagt es und winkt zum Abschied.
„Tschüss“, sagt Omit und winkt zurück. Dann grinst er noch einmal seinem Spiegelbild zu und setzt seinen Weg fort.
Was er nicht wissen kann: Das verspiegelte Fenster gehört zu einem Frisörsalon; von drinnen kann man wunderbar beobachten, was draußen geschieht. Das Publikum hat die Vorstellung sehr genossen und applaudiert.
„Den kenn ich“, bemerkt eine Kundin, „der wohnt bei uns im Haus.“
„Süß, oder?“, meint die Frisörin.
„Hm … ja … war mir bisher gar nicht aufgefallen.“
„Mensch, Timo!“, ruft plötzlich jemand. Ein junger Mann mit Wollmütze eilt strahlend auf Omit zu. „Hätt dich fast nicht erkannt.“
„Ich verändere mich jeden Tag“, erklärt Omit bescheiden.
„So soll’s sein, mein Bester. Nur nicht stehenbleiben.“ Er klopft Omit auf die Schulter. „Komm doch mal wieder zum Boule!“
Omit hat keine Ahnung, was das ist, aber egal. Der Mann scheint nett zu sein.
„Klar, gern“, antwortet er.
„Super. Morgen? Du weißt ja, wann und wo.“
„Okay, bis morgen.“
Im Weitergehen fällt ihm eine junge Frau auf. Sie hat eine Art Tasche vor ihren Bauch gebunden, die etwas enthält, das aussieht wie ein kleiner Mensch. Jedenfalls ragen winzige Arme und Beine und ein fast haarloses Köpfchen mit rosa Schleife heraus. Große blaue Augen schauen ihn an.
„Oh, wie niedlich!“, entfährt es ihm.
Die Frau bleibt stehen, streichelt den Rücken des Menschleins und lächelt stolz.
„Es ist ein Mädchen.“
„Ob ich auch mal so winzig war?“, überlegt Omit.
„Davon gehe ich aus“, sagt die Frau und zwinkert ihm zu. „Und niedlich waren Sie bestimmt auch.“
Schmunzelnd geht sie weiter.
Allmählich ist es Zeit, sich auf den Heimweg zu begeben. Omit will sich schließlich nicht verlaufen. Außerdem ist er so viel Aktivität nicht gewohnt und schon etwas müde. Also geht er denselben Weg zurück. Er startet mit einigen Schritten im Rückwärtsgang, so wie er es manchmal bei Timo beobachtet hat. Das fühlt sich lustig an. Er grinst und rudert mit den Armen, bis er plötzlich links und rechts von zwei Jungen auf rollenden Brettern überholt wird. Sie tragen Turnschuhe, locker sitzende Hosen und bunt bedruckte Shirts in Übergröße.
Die beiden umrunden ihn in einer eleganten Kurve und halten vor ihm an. Geschickt treten sie auf die Spitzen ihrer Rollbretter, sodass die hochspringen, und fangen sie mit einer Hand auf. „Wieso läufst du rückwärts, Alter?“, fragt der größere.
„Weil ich nach Hause möchte“, erklärt Omit.
„Das crazy!“
„Vorwärts wärst du schneller da“, meint der kleinere.
Omit deutet auf das Brett in seiner Hand.
„Was hast du da?“
„Echt jetzt, Digga? Noch nie`n Skateboard gesehen?“
„Nein“, gesteht Omit, „da, wo ich herkomme, gibt es sowas nicht.“
„Krass! Wo kommst du denn her? Vom Mars?“
„Aus dem Spiegel.“
Laut lachend klatschen sich die beiden Skater ab, springen auf ihre Boards und sausen davon.
Omit schaut ihnen fasziniert hinterher, dann macht er sich im Vorwärtsgang auf den Heimweg.
Zum Glück findet er sein Haus problemlos wieder, bewältigt nach einiger Fummelei die Sache mit den Schlüsseln und rennt zum Flurspiegel. Darin steht Timo, blass und erkennbar erleichtert, als Omit auftaucht. Sofort färben sich seine Wangen rosig und seine Augen leuchten.
„Mensch, war das spannend!“, erzählt Omit aufgeregt. „Du musst uns unbedingt ein Skateboard kaufen! Morgen hast du übrigens eine Verabredung zum Boule.“
„Dazu müsstest du mich wieder rauslassen.“
„Ich brauch sowieso mal Urlaub. Draußen ist’s zwar schön, aber reichlich anstrengend.“
„Dann tausch doch wieder mit mir. Ich übernehme die Schicht.“
„Schicht?“, fragt Omit.
„Na klar. Einer draußen, einer drinnen. Wer gerade keinen Bock auf die Welt hat, zieht sich zurück. Sozusagen Teilzeitrealität.“
„Das gefällt mir!“, ruft Omit begeistert. „Vollzeit hält das ja keiner aus.“
„Abgemacht, Bruder“, sagt Timo. Er streckt eine Hand aus. „Und jetzt ist Schichtwechsel.“
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9440 Z.
