Von Eva Fischer

Sie war klein, so klein wie ich mit meinen sieben Jahren. Ihr Alter kannte ich nicht. Für mich war sie einfach nur alt auf eine liebenswerte Art und Weise. Sie lebte in einer winzigen Wohnung neben meiner Großtante und obwohl sie schon länger Tür an Tür wohnten siezten sie sich. „Frau Fritsch“, nannte sie meine Großtante und es klang immer ein besorgter Ton mit. Was hatte sie schon wieder angestellt, die verrückte Alte? Frau Fritsch misstraute auch meiner Großtante, denn diese hatte eine Katze. Die Türen mussten immer fest geschlossen werden. 

Es war mollig warm in ihrem kleinen Zimmerchen. Der Kohleofen war so blank geputzt, dass man sich darin spiegeln konnte. Auf dem Käfig saß ein grüner Wellensittich und hielt den Kopf schief, während er mich beobachtete. Er hieß Hansi und war hoch intelligent, wie mir Frau Fritsch bestätigte. Schließlich konnte er sprechen und nicht nur eine Handvoll Wörter. Nein, er drückte sich aus wie ein edler Kavalier. Bitteschöön. Ich flötete ihm etwas vor. Er flog auf meinen Kopf und versuchte meinen Mund zu erreichen, als wolle er die Töne einzeln aufpicken. 

Frau Fritsch verbot mir, ihm vorzusingen. Ich sänge falsch und Hansi jetzt auch. Das könne sie nicht ertragen. 

Eines Tages besuchte meine Mutter Frau Fritsch. Sie unterhielten sich miteinander, während Hansi an meinem Ohr zupfte. Sie könne die Zukunft voraussagen, hörte ich Frau Fritsch sagen. Ob sie das bei mir machen solle. 

Meine Mutter überlegte etwas, aber schließlich willigte sie ein. Ich streckte Frau Fritsch neugierig meine kleine Hand entgegen und entdeckte mit ihr bisher unbekannte Linien. Ich bekäme ein Kind, vielleicht auch zwei, mit einem netten Mann, weissagte sie mir. Die Miene meiner Mutter hellte sich auf, um sich nur kurz darauf wieder zu verdüstern. Sie sähe auch einen Mann, vor dem ich mich in Acht nehmen müsse, denn er könne mir gefährlich werden.

Es gibt Worte, die vergisst man nie, auch wenn ich längst keine sieben mehr bin. 

Vorerst hörte ich meine Eltern streiten.

 Wie könne Frau Fritsch so etwas sagen, regte sich meine Mutter auf. 

Wie könne sie zulassen, dass eine alte Hexe mir Angst mache, schimpfte mein Vater. So etwas belaste mich doch ein Leben lang.

Mein Vater sollte Recht behalten. Sobald ich die geschlechtliche Reife erlangte, hatte ich Angst vor dem bösen Mann. Wenn es dunkel war, beschleunigte ich meine Schritte, schaute mich um, ging nie durch einen Park. Im Wald fürchtete ich mich auch tagsüber allein. Hatte Frau Fritsch prophetische Begabung oder hatte sie sich einfach einen Spaß erlaubt, um sich an meinen Misstönen zu rächen?

Jahre später. 

Ich war mittlerweile zwanzig und mit meinem Köfferchen auf dem Weg zu einer Jugendherberge. Den Busfahrer hatte ich gefragt, wann ich aussteigen müsse und nun stand ich auf einer menschenleeren Straße. Von einer Jugendherberge war nichts zu sehen, auch gab es keinen Menschen, den ich fragen konnte. Ratlos blickte ich mich um, als neben mir ein Auto hielt. Ein gutaussehender, junger Mann kurbelte das Fenster herunter und fragte mich, wohin ich wolle. Ich nannte ihm mein Ziel und kam seiner Einladung, mich dorthin mitnehmen zu wollen, willig nach.

Er verstaute meinen Koffer im Kofferraum und los ging es. Wir fuhren aus der Stadt heraus. Ich stutzte. Waren wir nicht schon an der Jugendherberge vorbeigefahren? Es war ein sonniger Samstagnachmittag und der Mann neben mir schien sehr charmant zu sein.  Aber je länger die Fahrt dauerte, um so unheimlicher wurde mir das Ganze, vor allem als er in einen schmalen Waldweg einbog. Ich hätte doch wohl nichts gegen Sex mit ihm einzuwenden. Ich redete auf ihn ein. Das sei doch nicht sein Ernst. Das hätte er doch wohl nicht nötig, sich Sex auf diese Weise zu erpressen. Er solle mich bitte wieder zurück in die Stadt fahren. Er grinste mich an und auf einmal fand ich ihn gar nicht mehr gutaussehend, sondern nur ekelig. Der böse Wolf! Mir kamen die Märchen in den Sinn, die mir mein Vater als Kind erzählt hatte. Meine einzige Waffe waren meine Worte. Ich redete auf meinen Kidnapper ein, als ginge es um mein Leben, was es gefühlt auch tat. Vermutlich ging ihm mein Gebabbel auf die Nerven, denn plötzlich stoppte er auf einer Lichtung. Anstatt gewalttätig zu werden, stieg er aus, warf meinen Koffer auf den Boden und machte sich mit quietschenden Reifen davon. Ich war natürlich sofort ausgestiegen und hatte im Wald Deckung gesucht. Da stand ich nun mutterseelenallein in einem mir unbekannten Wald. 

Meine Gefühle waren vereist. Keine Hysterie! Keine Weinkrämpfe! Keine Panik!  Nur ein Gedanke, ich musste hier weg. Ich nahm meinen Koffer und ging den Feldweg entlang, bis ich zu der Straße gelangte, auf der wir gekommen waren. Ich hoffte auf ein Auto, das mich mitnehmen konnte. Tatsächlich sah ich nach einiger Zeit die Scheinwerfer eines Wagens. Ich stellte mich mitten auf die Straße und winkte. Da erkannte ich, dass in dem Auto vier junge Männer saßen, offensichtlich in Wochenendstimmung. Schnell rannte ich zurück ins Gebüsch. Mein Herz pochte. Zum Glück hielt der Wagen nicht an. Es wurde allmählich dämmrig. Wie groß war meine Chance, dass noch einmal ein Auto in dieser gottverlassenen Gegend vorbeikam?

Wie lange wartete ich? Dreißig Minuten? Oder mehr? Oder weniger? Auch das Zeitgefühl war eingefroren. Dann sah ich doch in der Ferne erneut Scheinwerfer und stellte mich auf die Straße. In dem Wagen erkannte ich ein junges Pärchen. Ich winkte! Sie hielten, öffneten die Türen und brachten mich zu meinem Ziel. Ich war ihnen sehr dankbar.

Endlich angekommen löste sich das Eis und ich heulte hemmungslos. Meine Kommilitonen zeigten wenig Verständnis. Es war doch alles gut gegangen und wie konnte ich so blöd sein, in ein fremdes Auto einsteigen? 

Ja, ich weiß es nicht. Musste die Prophezeiung in Erfüllung gehen, damit ich endlich unbeschwert leben konnte?

Ich schaue in den Spiegel und sehe eine alte Frau. Zum Glück bin ich kurzsichtig und kann meine Falten nur unscharf erkennen. Ich muss innerlich schmunzeln, wenn ich nach so viel Jahren an meine beinah- Vergewaltigung denke. Seitdem mein Körper alt ist, habe ich keine Angst mehr, vergewaltigt zu werden. Ich habe eher Angst, dass Diebe und Diebinnen mir das Portemonnaie und mein Handy klauen. Welche Katastrophe! Ich habe das schon bei meinen Freundinnen erlebt. Es dauerte Monate, bis sie ihre Papiere wiederhatten, ganz zu schweigen vom Geldverlust.

Und ist der „böse Mann“ heutzutage überhaupt noch politisch korrekt? Darf man ein Geschlecht so verallgemeinernd diskriminieren?

Ich denke an Frau Fritsch und an Hansi. Vielleicht sollte ich mir auch einen Wellensittich anschaffen.