Von Eva Fischer
Frau Fritsch war so klein wie ich mit meinen sieben Jahren. Ihr Alter kannte ich nicht. Für mich war sie einfach nur alt auf eine liebenswerte Art und Weise. Sie hatte immer Zeit für mich genau wie meine Großtante. Beide wohnten Tür an Tür. Jede hatte für mich ein attraktives Haustier, Frau Fritsch einen grünen Wellensittich und meine Großtante eine Katze, die sich streicheln ließ und es sich gerne auf meinem Schoß bequem machte. So vermisste ich meine Eltern nicht, die gerade Urlaub in Italien machten. „Mia, du würdest dich nur langweilen, während wir alte Kirchen besichtigen. Wir bringen dir auch etwas Schönes mit“, meinte mein Vater.
Die Türen mussten immer fest geschlossen bleiben. Die Katze durfte nicht rein, der Vogel durfte nicht raus. Es war immer mollig warm in dem kleinen Zimmer von Frau Fritsch. Der Kohleofen war so blank geputzt, dass man sich darin spiegeln konnte. Auf dem Käfig saß Hansi und hielt den Kopf schief, während er mich beobachtete. Er sei hochintelligent, bestätigte mir Frau Fritsch, denn er könne sprechen und nicht nur ein paar Wörter, nein ganze Sätze und in höflicher Sprache wie ein Kavalier. Was ein Kavalier war, wusste ich damals nicht, aber ich flötete ihm ein Lied vor. Er flog auf meinen Kopf, versuchte die Töne einzeln aus meinem Mund zu picken. Frau Fritsch war weniger begeistert. Ihr intelligenter Vogel habe jeden einzelnen Ton imitiert. Nun müsse sie mein falsch geflötetes Lied ertragen.
Eines Tages schaute meine Mutter auch bei Frau Fritsch vorbei. Sie unterhielten sich, während Hansi liebevoll an meinem Ohr knabberte. Sie könne die Zukunft voraussagen, hörte ich Frau Fritsch sagen, ob sie das auch bei mir machen solle.
Meine Mutter überlegte etwas, willigte aber dann ein. Ich streckte Frau Fritsch neugierig meine kleine Hand entgegen und entdeckte mir bis dahin unbekannte Linien, über die sie mit ernster Miene strich. Ich bekäme ein Kind, vielleicht auch zwei mit einem netten Mann, weissagte sie mir. Die Miene meiner Mutter hellte sich auf, verdüsterte sich aber gleich wieder, denn Frau Fritsch sah einen Mann, vor dem ich mich in Acht nehmen müsse, denn er könne mir gefährlich werden.
Die Worte brannten sich in mir ein, lebenslänglich.
Meine Eltern stritten sich.
Wie könne Frau Fritsch so etwas sagen, regte sich meine Mutter auf.
Wie könne meine Mutter zulassen, dass die alte Hexe mir Angst mache, schimpfte mein Vater. So eine böse Prophezeiung belaste mich ein Leben lang.
Mein Vater sollte Recht behalten. Ich fürchtete mich vor den bösen Mann, ging nie alleine in den Wald, beschleunigte meine Schritte, wenn ich nachts nach Hause ging, schaute mich um, ob mir jemand folgte und mied jegliche Parks bei Dunkelheit.
Ich war mittlerweile zwanzig und machte eine Fortbildung zur Ferienbetreuerin in einer fremden Stadt. Ich war mit dem Zug angereist und fuhr jetzt mit dem Bus zu der Haltestelle, die mir der Busfahrer genannt hatte. Als ich ausstieg, sah ich keine Jugendherberge. Samstagnachmittag. Die Geschäfte waren geschlossen. Die Straßen waren leer gespült. Es gab noch kein Handy und ich entdeckte auch kein öffentliches Telefon. Kein Taxifahrer kam des Weges, um mich zu meinem Zielort zu bringen.
Plötzlich hielt ein Wagen neben mir. Ein gut aussehender junger Mann kurbelte das Fenster herunter und fragte, ob er mir helfen könne. Ich suche die Jugendherberge, sie müsse doch ganz in der Nähe sein. Ja, ja, er kenne die Jugendherberge. Ich sei wohl zu früh ausgestiegen. Wenn ich wolle, bringe er mich hin. Er öffnete den Kofferraum und verstaute mein Gepäck.
Dich schickt der Himmel dachte ich und vielleicht noch mehr. So beginnen originelle Liebesgeschichten. Ich lächelte meinen Retter in der Not an und wir plauderten miteinander oder flirteten wir gar?
Wir fuhren durch leere Straßen. Müssten wir nicht längst da sein? Die Häuser nahmen ein Ende, die Stadt auch. Am Horizont erblickte ich einen Wald. Blitzartig erkannte ich, wohin die Reise hinging. Neben mir saß nicht der strahlende Held, sondern ein Typ, der nichts Gutes mit mir vorhatte. Ich redete auf ihn ein, appellierte an sein Ehrgefühl. Er könne doch nicht so eine miese Nummer bringen.
Ich wimmerte nicht, ich brüllte ihn nicht an, ich suchte in meinem Gehirn nach überzeugenden Argumenten. Das Adrenalin hatte meinen Kopf glasklar, ohne jegliche Gefühle vereist.
Wir fuhren in den Wald. Ich malte mir nicht aus, was jetzt passieren konnte. Plötzlich hielt er an einer Lichtung. Ich öffnete die Tür, flüchtete und hörte, wie er meinen Koffer aus den Wagen warf und mit quietschenden Reifen wegfuhr.
Einer Gefahr war ich entronnen, aber wie kam ich jetzt zur Jugendherberge? Ich nahm meinen Koffer und ging den Weg zurück, bis ich zu der Straße gelangte, auf der wir gekommen waren. Ich hoffte auf ein Auto, das mich zurück zur Stadt nehmen konnte. Wie lange wartete ich? Da kam das ersehnte Auto, doch im Inneren erkannte ich vier Männer, so dass ich erneut ins Gebüsch flüchtete.
Ich ging mit meinem Koffer weiter. Allmählich hatte die Dämmerung eingesetzt. Nach einiger Zeit, die für mich zu einem undefinierbaren Klumpen geworden war, sah ich wieder die Scheinwerfer eines Autos. Ich stellte mich auf den schmalen Feldweg und schaute in die Gesichter eines jungen Pärchens. Sie stoppten und nahmen mich mit zur Jugendherberge. Sie waren eines der schönsten Geschenke, die mir das Leben machen konnte.
In der Jugendherberge angekommen zitterten mir die Knie und das Eis löste sich zu einem Sturzbach.
Besser man redet nicht darüber. Außer selber Schuld gab es keinen Kommentar.
Und jetzt? Mittlerweile bin ich eine alte Frau. Ich schaue in den Spiegel und sehe die tiefen Linien in meinem Gesicht. Nein, ich will nicht mehr verdrängen. Schau mich endlich an, sagt der Spiegel. Ich will die Geschichte öffentlich machen, aufschreiben, mitteilen, teilen.
Was für eine dumme Idee! Ich dachte, Vergewaltigung ist kein Kavaliersdelikt mehr. Aber die Reaktionen sind nicht anders. Wie konntest du in das Auto einsteigen? Werde ich gebetsmühlenartig gefragt. Die Prophezeiung hätte dich doch warnen müssen. Manche wenden sich enttäuscht ab. Zu wenig Action. Ist doch gar nichts passiert.
Ich schmunzle, wenn ich an die Prophezeiung denke. Sie hat sich dann doch erfüllt, auch wenn ich nicht, weiß, ob Frau Fritsch tatsächlich Hellsehen konnte. Wer weiß, was sie im Krieg erlebt hat. Vielleicht wollte sie mich nur warnen.
Aber das Leben lehrt, dass der „böse Mann“ nicht immer böse aussieht, dass der Wolf sich die Pfoten mit Kreide weiß schmiert, um Einlass zu bekommen und die Geißlein zu fressen. Vielleicht wollte ich das mitteilen.
Im Spiegel der Erkenntnis gibt es viel zu sehen.
