Von Sabrina Rüdebusch
26.04.
Ich warte ab, bis alles ganz dunkel ist. Nicht nur draußen auf dem Hof, auch außerhalb meines Zimmers auf den Fluren. Ganz still warte ich, lausche in die Nacht hinein, bis ich sicher bin, dass niemand bemerkt, was ich gleich tun werde. Ich schäle mich aus dem Bett, lasse mich auf den Boden hinabgleiten, beinahe wie eine Katze. Ich muss das noch üben, in meinem Zustand bin ich nicht mehr geschmeidig genug.
Dann fange ich an, und ich werde nicht ruhen, bevor ich mein Soll für heute erreicht habe.
03.05.
Der Tag ist noch jung, aber das Licht drängt sich schon zu grell durch die farbenfrohen Vorhänge des Gruppenraums. Es zerrt an meinen Haarwurzeln. Meine Kopfhaut spannt, meine Augen drücken. In meinem Bauch macht sich das Frühstück breit, mir ist übel. Ich sitze auf einem Stuhl im Kreis mit den Anderen. Sie sind aus demselben Grund hier wie ich. Keine von uns will hier sein, doch haben wir kaum eine Wahl. Bei meinen Eltern war es auch nicht mehr auszuhalten, eingesperrt in ihre Sorgen und Ratschläge und Vorschriften. Manchmal vermisse ich mein Zimmer zu Hause, meine Freundinnen und die Schule. Hier darf ich nicht zur Schule gehen. Trotzdem habe ich keine Freizeit. Ich muss auf diesem Stuhl sitzen. Eigentlich habe ich gar keine Freundinnen mehr in der verdammten Schule. Ich habe nur eine Freundin, die beste Freundin von allen, aber das darf niemand wissen.
Ich lasse meinen Blick unauffällig über die Anderen wandern. Hier und da sitzen welche mit frisch verbundenen Armen. Anfängerinnen! Es gibt sicherere Stellen als die Arme, die nicht so schnell entdeckt werden. Neben einer steht seit gestern ein fahrbarer Monitor. Die perfekte Überwachung. Wir sollen „gesund“ werden. Die Kontrolle zurückerlangen. In Wahrheit kontrollieren sie uns.
Ein Gesicht im Kreis ist neu, es ist bestimmt doppelt so alt wie meins. Ich sehe den mitfühlenden Ausdruck auf diesem Gesicht. Ach, wie gut sie es doch verstehen kann … Wie schwer es doch ist … Heuchlerin! Sie soll uns bekehren, ein Positiv-Beispiel abgeben.
Wie sie die Krankheit besiegt hätte, erzählt sie uns, wie sie eines Morgens ihr Spiegelbild angeschaut und sich mit neuen Augen gesehen hätte. „‚Schau mich endlich an!‘, rief der Spiegel“, schmettert sie uns entgegen, „und zum ersten Mal sah ich hin, sah, was ich mir tagtäglich antat, und wie ich alle von mir wegschob, die mir helfen wollten.“ Ich verdrehe genervt die Augen. Dieses Gesicht langweilt mich. Ich wandere mit meinem Blick an der Frau hinab, schaue dorthin, wo sie ihre Hände abgelegt hat. Dann schaue ich auf meine eigenen Beine. Ich habe etwas, das sie verloren hat. Zwar bin ich längst noch nicht da, wo ich hin will, wo ich hin muss, aber bei mir ist die Lücke da. Sie bemerkt den Abgleich, den ich mit den Augen durchführe. Unsere Blicke begegnen sich, und für einen kurzen Moment sehe ich ihr direkt in die Augen. Ich lächle. Sie lächelt nicht zurück und da weiß ich, dass sie sich des Unterschieds ebenso bewusst ist.
07.05.
Ich habe versucht, dir einen richtigen Brief zu schreiben, so einen wie dein Brief an mich. Stattdessen schreibe ich wieder in dieses scheiß Tagebuch hier, das ich führen soll. Mein Smartphone darf ich nicht haben, damit ich nicht im Forum schreiben kann. Jugendgefährdende Inhalte, sagen sie. Ich brauche es eh nicht. Ich kenne jede deiner Regeln auswendig, deine Worte und Gebote haben sich längst in meinen Kopf gebrannt.
„Liebe Ana“, habe ich geschrieben, „bitte verzeih mir meine Schwäche. Ich weiß, ich mache hier jeden Tag Fehler, die unverzeihlich sind. Ich weiß, ich bin es nicht wert, dass du dich noch mit mir abgibst.“ Und dann habe ich geheult und die Schrift wurde schmierig. So wie das ganze Fett, das ich mit mir rumtrage. Ich wollte dir erklären, dass ich es doch nicht ändern kann. Ich muss hier wieder rauskommen. Sie müssen überzeugt sein, dass ich draußen zurechtkomme. Und dafür muss ich deine Regeln brechen. Sobald ich volljährig bin und endlich alleine wohnen darf, werde ich dir umso treuer dienen. Kein Schmerz, kein Hunger wird mir zu groß sein. Ich werde dich dann nie wieder enttäuschen. Jetzt lachst du bestimmt. Du hast recht: ich bin schwach, ich bin schuldig, ich bin abstoßend. Du siehst in meine Seele, siehst meine erbärmliche Nutzlosigkeit. Ich will dir alles beichten, selbst, dass ich das Stück Pizza gestern genossen habe. Das Stück Pizza, das mir vorgesetzt wurde, das mir zugeteilt wurde und das ich essen musste. Wenn ich Mia zu mir einlade, merken sie es. Sie riechen es, sie sehen es an meinem Gesicht, sie bemerken einfach alles. Keiner der Tricks, die zu Hause noch erfolgreich waren, hilft, hier bleibt kein Geheimnis unentdeckt. Bitte gib mich nicht auf! Wenn ich raus bin, werde ich härter trainieren als je zuvor, ich werde büßen für jedes Gramm, das sie mir an den Körper zwingen.
15.05.
Ich schaffe das nicht mehr. Ich will verschwinden. Einfach wegschweben. Mich in Luft auflösen. Leicht werden. Nicht mehr spürbar. Nicht mehr tragbar.
19.06.
Ana, ich habe eine andere Pro gefunden. Eine Verbündete. Keine Sorge, du bleibst meine einzige Freundin. Ich weiß, dass du niemanden sonst dulden kannst. Dass sie mich nur ablenken von meinem Ziel. Dass nur du mich wirklich liebst und an mich glaubst, wenn ich dir beweise, dass ich durchhalte und stärker bin als der Hunger.
Ich will ja wirklich aufhören, so willensschwach und verfressen zu sein. Mit Lisa ist das einfacher. Sie inspiriert mich, sie ist so wunderschön. Mit ihr fühle ich mich in kleinen Momenten wieder lebendig. Darf ich denn nicht auch ein bisschen glücklich sein? Vielleicht klappt es so mit der Disziplin sogar besser.
30.06.
Heute durften Lisa und ich zusammen auf dem Außengelände spazieren gehen, solange wir keinen Sport machen würden, nicht schnell laufen oder gar joggen. Es gibt einen kleinen Wegabschnitt, den sie vom Gebäude aus nicht gut sehen können. Lisa ist losgerannt und ich hinterher. Es hat so gutgetan, wieder ins Schwitzen zu kommen, nicht nur nachts auf dem kalten Boden. Wir haben uns lachend ins Gras fallen lassen. Das Sonnenlicht ließ ihre Haare golden schimmern. Ihre feingliedrigen Finger tanzten gedankenverloren über meine Haut, als wir da so lagen, und hinterließen eine kribbelnde Spur aus Gänsehaut. „Du bist wie eine Elfe“, habe ich zu ihr gesagt. „Ich wünschte, ich hätte Flügel“, antwortete sie. „Ich wünschte, ich könnte federleicht sein und aus dem Leben fliegen.“
28.08.
Es ist vorbei. Jetzt bin ich wieder ganz allein. Ihr Herz war zu schwach. Ob es sich wie Fliegen angefühlt hat?
30.08.
Ist es stark oder schwach, wenn ich jetzt aufgebe? Ich bin zerrissen und ich will das nicht fühlen. Egal. Das Metall schreibt kalt in meine Haut, was Lisa mir an ihrem letzten Abend zugeflüstert hat: A.T.T.E. Ana till the end.
Sollen sie es ruhig sehen.
V1
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Pro-Ana (Abkürzung für Anorexia nervosa, Magersucht) und Pro-Mia (Bulimia nervosa, Ess-Brechsucht) sind Bewegungen von meist jungen Mädchen und Frauen, die ihre Essstörung über die Personifizierung als beste Freundin Ana/Mia als Lebensstil statt Krankheit verharmlosen und im Extremfall verherrlichen (with Ana) oder sogar den eigenen Tod durch Hungern in Kauf nehmen oder herbeiführen wollen (Ana till the end). Die Anhängerinnen tauschen sich über Internetforen, in den vergangenen Jahren vermehrt auch über Chatgruppen, aus und animieren sich gegenseitig mit starren Regeln, Abnehmwettbewerben und Geheimhaltungstricks. Eine zusätzliche Gefahr geht von selbst ernannten „Pro-Ana-Coaches“ aus, die die Krankheit und soziale Isolation der Erkrankten zum Cybergrooming nutzen.
Bedenkliche Angebote können über www.jugendschutz.net gemeldet werden.
