Von Christiane Labusga
Wir wissen nicht, wie es geschah, dass ein Stück von Herberts Seele beim Laminieren seiner botanischen Erklärtafeln zwischen die Folien geriet und nun, mit Blick auf den Bürgersteig, in dem von ihm extra angeschafften Schaukasten hing. Herbert hatte eine Hecke aus verschiedenen heimischen Gehölzen angelegt, die im Herbst in allen Farben leuchtete und die Blicke der Vorbeigehenden auf sich zog. Das wollte Herbert nutzen, um sein Wissen mit der Menschheit zu teilen, ohne mit der Menschheit direkt in Berührung zu kommen. Was das Seelenstück empfand, dass solche Blicke nicht gewohnt war, sondern der Menschheit immer nur unter Herberts Tarnkappe aus braunem, beigem und grünem Cord begegnet war: wir wissen auch das nicht.
Was wir aber wissen, ist, dass Herberts Leben sich von da an in eine Hölle der Geschwätzigkeit verwandelte. Waren es Halluzinationen oder ein Dammbruch telepathischer Fähigkeiten, die bisher von zu viel Seele zurück gehalten worden waren, gleich, Herbert erhielt plötzlich aus allen Ecken Befehle und unverlangte Kommentare. Schneid mich in der Mitte durch!, befahl das Brot, Schnür mich fester!, der Schnürsenkel, und wenn er sich aus dem Haus stehlen wollte, herrschte ihn der Spiegel an: Schau endlich in mich hinein!
War er dem Haus entronnen (Schließ gut ab!), empfing ihn eine Kakophonie des Lebens. Herbert, Herbert, wir lieben dich!, schrien die Büsche, Wann gibt es wieder Sonnenblumenkerne?, zwitscherten die Meisen und von der Eiche gegenüber, von der Herbert nie gedacht hätte, dass sie so aufdringlich war, kam Gut siehst du heute wieder aus, komm doch mal zu mir rüber, Süßer, ich will Eicheln auf dich regnen lassen!
Als er von einem seiner ersten Spaziergänge mit seiner neuen Fähigkeit zurückkehrte, löste sich aber die vermeintliche Obszönität der Eiche auf. Wie Herbert feststellen konnte, war gar nicht er gemeint gewesen, sondern der Eichelhäher, der jeden Vormittag in seiner Straße verbrachte, wo es insgesamt vier sehr, sehr alte Eichen gab (es war ja auch die Eichenstraße). Damit, so Herbert, machten die Avancen der Eiche ja durchaus ökologischen Sinn.
Dies zu verstehen, dass er nicht das Zentrum aller Gespräche war, erleichterte ihm, mit der Situation klar zu kommen. Nur im Haus, wo alles sich um ihn drehte, fühlte er sich nicht mehr wohl. Öffnete er den Kühlschrank, scholl ihm ein Der Joghurt ist auch nicht mehr genießbar! entgegen, worauf es vom Joghurt zurück brüllte Halts Maul, du alte Petze!
Am schlimmsten aber war es in der Nacht, wenn die Dinge glaubten, dass Herbert schliefe. Wie da zum Teil über ihn abgezogen wurde, kleinlich und rachsüchtig, und das Bett, na ja, das brachte gelegentlich Sünden zu Tage, die so alt waren, dass Herbert sie schon ganz vergessen hatte. Aber ein Bett vergisst nie, so kam es ihm vor.
Dann passierte das mit dem Schachbrett. Wir hatten uns zu einem Spieleabend verabredet, zu dem ich wie immer einen guten Rotwein beitrug und Herbert sein edles Brett aus Ahorn und Palisander und die herrlichen Figuren, die noch sein Großvater geschnitzt hatte (sein Großvater, nicht Michel aus Lönneberga).
Wie Herbert mir später mitteilte, kommentierten das Brett und die Figuren jede seiner Bewegungen. Einer seiner Läufer schrie ständig, sobald er mit den Fingern in seine Nähe kam Berührt, geführt! Betrug! Betrug! Betrug!, die geschlagenen Bauern buhten bei jedem Zug vom Spielfeldrand und die Damen nörgelten über das toxische Männerspiel. Immer nur Krieg, nicht auszuhalten! Das Brett aber, dass sich gegenüber den einfachen Holzfiguren sehr wichtig vorkam, gab ihm ständig Tipps, zischte, wenn er anders zog und zitierte als Beweis seiner Überlegenheit dann jeweils berühmte Partien, bei denen genau dieser schlechte Zug zur Niederlage geführt hatte.
Ich erinnere mich noch gut, wie oft sich Herbert bei diesem Spiel die Ohren zuhielt, wie schlecht er sich konzentrieren konnte, und dass wir das Spiel dann abbrachen, uns in den Garten setzten und still unseren Wein genossen. Als ich ihn fragte, ob er irgendetwas hätte, sagte er nur, ihm fehle es an Ruhe. Einfach mal nur Ruhe, Stille, kein Geschwätz. Er ist doch jeden Tag im Wald, wie ruhig will er es denn noch?, dachte ich und außerdem war ich auch beleidigt, da ich den ganzen Abend fast nichts gesagt hatte und seine Bemerkung auf mich bezog. Beziehen musste, ich wusste es ja noch nicht besser.
In der folgenden Nacht, als die Dinge glaubten, dass er schliefe, hat das Schachbrett so richtig über ihn hergezogen. Ihn mit einem Vorbesitzer verglichen, ein Großmeister, und wirklich, dass so eine Niete wie Herbert mit dem Brett spielen durfte, das war die größte Beleidigung, die man ihm antun konnte.
Herbert platzte der Kragen. Am Morgen nahm er das Schachbrett und stellte es an die Straße, sollte doch ein anderer dieses überhebliche Ding mitnehmen. Ein leichter Regen setzte ein.
Bald hörte Herbert am Frühstückstisch das Gejammer des Brettes. Hilfe, es regnet, kann mich keiner hereinholen, was ist dieser Herbert nur für ein fieser Kerl, holt mich herein! Jeden Vorbeigehenden flehte das Brett an, doch einmal herzuschauen, wie schön es sei, es müsse nur bald abgetrocknet werden… Aber jeder ging achtlos weiter. Denn nur Herbert konnte es hören. Herbert, und die anderen Dinge in seinem Haus und Garten. Er öffnete das Fenster und wandte sich der Küche zu:
Hört her, ihr Dinge, du, Kühlschrank, du Wasserhahn, und, er drehte sich in Richtung Flur, ihr auch, da draußen, Spiegel und Teppich und Bett! Jetzt ist Schluss mit dem Geschwätz! Ein für alle Mal: Wer in meiner Gegenwart auch nur ein Seufzen hören lässt, fliegt raus und endet so, wie das Schachbrett.
Der Wasserkocher, der gerade noch Wasser gekocht und darum nichts verstanden hatte, klickte und fragte dann in die Runde: Was hat er gesagt? Spricht der jetzt mit uns? Was ist los? Herbert nahm ihn kurzerhand, goss sich noch schnell das Wasser über das Kaffeepulver und stellte auch den Wasserkocher an die Straße (der übrigens sehr schnell einen neuen Besitzer fand, während das Schachbrett noch bis zum Abend warten musste, als ich vorbeikam und es erlöste. Zum Glück verstand ich es nicht, ja, hörte es nicht einmal).
Bei unserem nächsten Spieleabend hatte Herbert nur eine alte Spielesammlung auf dem Tisch, Pappbretter und Plastikfiguren; ich hatte als Kind genau die gleiche Sammlung, wie vermutlich alle, die in unserem Alter waren. Es gab auch ein Schachspiel darunter, aber Herbert wollte diesmal lieber Mensch ärgere dich nicht spielen, lachte er, dass sei seiner Stimmung gerade viel angemessener, er ärgere sich nicht mehr, nähme jetzt sein Leben in die Hand und wehre sich.
Trotz der Fragen, die diese Eröffnung in mir hochkommen ließ, wollte ich auf ein unverfängliches Gebiet ausweichen und erwähnte das Schachbrett, dass ich mit nach Hause genommen hatte. Das war wohl ein Fehler gewesen, und ob er es gerne wieder haben wollte.
Nein. Herbert schaute mich lange an, nickte dann vor sich hin, räusperte sich und begann, mir langsam, denn ich unterbrach ihn oft mit meinen ungläubigen Fragen, seine Geschichte zu erzählen. Als das Thema auf das Schachbrett kam und sein Umgang mit ihm, schienen die kleinen Plastikfiguren auf dem Pappbrett zu erzittern. Erst als Herbert ein zischendes Geräusch in ihre Richtung von sich gab, standen sie still. Wie erstarrt. Vor Angst. So schien es mir, so überzeugte ich mich, dass Herbert, so unwahrscheinlich alles klang, die Wahrheit sagte.
Wieder zuhause nahm ich mir das Schachbrett vor. So schön du auch bist, sagte ich zu ihm, so einen Widerling wie dich will ich nicht bei mir haben! Zitterte es in meinen Händen? Ja, ich glaube wirklich, dass es so war.
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