Von Ines Kruse-Kahn
Der Wecker klingelte um Punkt sieben Uhr. Wie immer. Lydia gähnte, streckte sich und schlug dann entschlossen die Bettdecke zurück, um sich aus ihrem gemütlichen Bett zu erheben. Wie
jeden Tag zog sie einen bequemen Jogging-Anzug über, stattete dem Badezimmer einen kurzen Besuch ab, danach würde ihr Weg in das eigene, nur für sie bestimmte, Fitness-Studio führen. Zwei Stunden hartes Training pro Tag sollten wohl ausreichen, um ihre Figur auch in den nächsten Jahren in Form zu halten. Ganz anders verhielt es sich mit Lydias Gesicht, das sie selbst seit vielen Jahren nicht mehr hatte sehen wollen, aus Angst, es könnte einer weggeworfenen Aktentasche allzu sehr ähneln.
Kurz nur streifte ihr Blick auch heute den einzigen Spiegel im ganzen Haus, welcher – sorgfältig von einem Vorhang verdeckt – im Flur hing und seiner Besitzerin, wie so oft in letzter Zeit, zuzurufen schien: „Schau mich endlich an!“ – Nein, das konnte sie einfach nicht… – panisch flüchtete sie in das Sportstudio. Während sie sich Minute um Minute auf dem Laufband quälte, ließ sie noch einmal Revue passieren, wie der ganze Albtraum angefangen hatte:
Es hatte sich an ihrem vierzigsten Geburtstag ereignet. Lydia hatte zu einer großen Party in ihrer eindrucksvollen Villa geladen. Natürlich war sie der Star des Abends gewesen – gut gelaunt, strahlend schön und auf dem Höhepunkt ihrer Model-Karriere. So hatte sie wenigstens gedacht. Zu fortgeschrittener Stunde hatte sie ausgelassen mit Jerome getanzt, ihrem Manager, mit dem sie sporadisch auch Tisch und Bett (oder eben nur letzteres) geteilt hatte. Dabei hatte er Lydia halb scherzhaft ins Ohr geflüstert: „Du solltest etwas mit deinem Gesicht machen, Süße, du bekommst langsam Falten!“
Schlagartig war die unbeschwerte Stimmung dahin gewesen. Unter dem Vorwand unerträglicher Kopfschmerzen hatte Lydia überstürzt ihre Gäste hinauskomplimentiert und den Rest der Nacht allein vor dem Spiegel verbracht. Ja, sie hatte sie auch gesehen, die feinen Linien an den Augen – nicht schlimm, jedoch vorhanden. Was aber hatte Jerome mit etwas mit deinem Gesicht machen gemeint? Hatte er wirklich angenommen, sie würde sich unter das Messer eines geldgierigen Schönheitschirurgen legen oder gar sich das Gesicht mit einer Tonne Botox aufblasen lassen, um dann mit Schlauchbootlippen als Karikatur ihrer selbst herumzulaufen, wie es einige Frauen in ihrem Umfeld taten? Nein, das kam für Lydia bis heute nicht infrage.
Eine Alternative wäre gewesen, in Würde zu altern. Altern? Ja, klar…, aber die Würde…
In ihrer Fantasie hatte Lydia schon damals die Leute auf der Straße hinter sich tuscheln hören: „Ist das nicht das bekannte Topmodel…? – … die ist aber mächtig alt geworden…!“ Damit hätte sie weder damals noch heute leben können.
Nach tagelangem Grübeln war Lydia schließlich eine dritte Möglichkeit eingefallen: sie musste einfach verschwinden, am besten spurlos – niemand würde sie jemals wieder zu Gesicht bekommen, nicht einmal sie selbst.
Nachdem der Plan erst einmal beschlossen war, hatte sich dessen Durchführung geradezu als Kinderspiel erwiesen, zumal sie sich dazu eine Zeitspanne von zwei Jahren eingeräumt hatte. In der Hoffnung, den Alterungsprozess ihres Gesichts durch großzügiges MakeUp noch über diesen Zeitraum kaschieren zu können, hatte Lydia zunächst die vornehme Villa im noblen Vorort der bayerischen Metropole verkauft. Vom Erlös hatte Sie ein bescheidenes Haus mitten im Wald erworben, 500 Meter von einer befestigten Straße und sechs Kilometer von der nächsten Ortschaft entfernt. Selbst nachdem sie das neue Grundstück um einen Lagerschuppen für angelieferte Ware hatte erweitern lassen, war ihr noch genug Geld geblieben, um ihren Unterhalt für den Rest ihres Lebens bestreiten zu können.
Im zweiten Schritt hatte sich Lydia von den Laufstegen der Welt verabschiedet. Sie hatte sämtliche Verträge einschließlich Jeromes Manager-Vertrag gekündigt, wobei sie nicht sicher war, ob Jerome ihren Rückzug überhaupt bemerkt hatte. Wie ihr zu Ohren gekommen war, hatte sich ihr Manager in Sachen Tisch und Bett längst einem weit jüngeren Model zugewandt.
Zum Glück gab es weder Freunde noch Verwandte, denen Lydia eine Erklärung schuldig gewesen wäre: Ihre Eltern waren vor einer halben Ewigkeit bei einem Zugunglück ums Leben gekommen, ihren Kinderwunsch hatte sie der Karriere geopfert (wer bucht schon ein Model mit Schwangerschaftsstreifen?) – Blieb nur noch ihr Bruder Christian, der aber vor einiger Zeit nach Kanada ausgewandert war und mit dem sie ohnehin nie viel mehr als den Nachnamen geteilt hatte.
Diesen Nachnamen hatte Lydia früher verabscheut. Mittelstädt – das klang doch irgendwie
mittelmäßig, oder? Nein, mittelmäßig hätte sie niemals sein mögen! Inzwischen stand der Name Lydia Mittelstädt seit fast 18 Jahren auf dem kleinen Blechschild an der Gartentür, denn so lange wohnte das Ex-Model schon hier und hatte sich mit dem Schild angefreundet, schließlich war das ihr Geburtsname. Der andere Name, der Lydia ihr halbes Leben durch alle Höhen und Tiefen des Model-Daseins begleitet hatte, war ihrem Gedächtnis schon fast entglitten.
„Achtzehn Jahre sind schon eine lange Zeit“ sinnierte Lydia laut, besonders, wenn man sie ganz allein verbringt und jeder Tag genauso verläuft wie der vorige, der nächste, der übernächste und jeder Tag, jahraus, jahrein, Sommer wie Winter…!
Sicher, sie hatte sich das kleine Haus gemütlich eingerichtet, sie besaß ganze Regalwände voller Bücher, einen Fernseher, einen PC, … – Alles, was Lydia zum Essen, Trinken, Anziehen oder zur Unterhaltung benötigte, bestellte sie online. Die Zustelldienste luden ihre Waren direkt in Lydias Lagerschuppen an der Straße ab und fanden dort meist sogar noch ein Trinkgeld vor. Alles klappte wie am Schnürchen – nur die Einsamkeit machte ihr zu schaffen.
Zwei- oder dreimal in der ganzen Zeit, hatte ein Mitarbeiter des Stromversorgungs-Unternehmens bei ihr geklingelt, um den Zähler abzulesen – inzwischen funktionierte auch das online. Lydia verließ ihr Haus sehr selten und wenn, dann höchstens in der Dämmerung oder in der Nacht, um die gelieferten Waren ins Haus zu holen oder um mit ihrem winzigen Auto zum Tanken oder zum Geldautomaten (für die Trinkgelder) in die nächste Ortschaft zu fahren. Selbst zu diesen Anlässen trug sie stets eine Perücke und ein Kopftuch, aus Angst, irgendjemand könnte sie erkennen.
Von einem schrillen Laut wurde Lydia jäh aus ihren Gedanken gerissen. Was war das? Konnte das die Klingel sein? Auf Zehenspitzen schlich das Ex-Model zur Haustür und spähte vorsichtig durch den Spion. Tatsächlich! Draußen stand ein zwölf- bis vierzehnjähriger Junge, den Lydia glaubte, schon einmal gesehen zu haben. Ja richtig, als sie neulich einmal in der Dämmerung eine Büchersendung ins Haus holen wollte, hatte er gerade die Regionalzeitung gebracht. Sie hatte gerade noch hinter einem Baum verschwinden können, um nicht mit ihm zusammen zu stoßen.
Es ist nur ein Kind und außerdem viel zu jung, um sich an mich zu erinnern beruhigte sich Lydia selbst in Gedanken und stülpte sich vorsichtshalber die Perücke auf. „Was soll’s?“ sagte sie laut in den leeren Raum und öffnete schwungvoll die Haustür. Der Junge war sichtlich erschrocken, stolperte zwei Schritte rückwärts und stammelte dann: „H-hallo, ich bin der Alex, ich trage hier immer die Regionalzeitung aus…“, – „hallo“, unterbrach ihn Lydia, „und, hast Du den neuen Zahlencode für die Tür vom Lagerhaus nicht bekommen oder weshalb klingelst du?“
Eingeschüchtert druckste Alex herum: „Doch, ja, aber ich war so neugierig, weil Sie doch noch nie einer gesehen hat und da wollte ich halt der Erste sein…“ – „…und, was siehst Du nun?“ konnte Lydia sich nicht verkneifen, zu fragen. – „Na, eine nette Omi“ lautete Alex’ flapsige Antwort.
Mit diesem kurzen Satz hatte der Junge etwas in Lydia berührt, das sie bisher nicht kannte. Vielleicht war es einfach das Wort Omi gewesen, das sie daran erinnert hatte, dass sie tatsächlich heute Großmutter sein könnte, wenn nicht … – Als Alex dann aber seinen Satz mit den Worten beendete „nur die komische Perücke steht Ihnen wirklich nicht gut“, musste Lydia herzhaft lachen. Gern hätte sie den Jungen ins Haus gebeten und ein wenig mit ihm geplaudert, aber zuerst musste sie etwas ganz Wichtiges erledigen, deshalb entließ sie ihn mit einem großzügigen Trinkgeld und der vagen Einladung, doch demnächst einmal wieder vorbeizuschauen.
Kaum hatte sich die Haustür hinter dem Jungen geschlossen, lief Lydia in den Flur, atmete dreimal tief durch und riss dann mit einem kräftigen Ruck den Vorhang vom Spiegel. Sie erstarrte kurz: … so sah sie also aus, die nette Omi. Klar, ihr Gesicht war übersät mit Falten, aber sie fand sich immer noch attraktiv und als sie sich vorstellte, dass sie sich fast 20 Jahre lang vor diesem Anblick gefürchtet hatte, bekam sie einen regelrechten Lachkoller.
Es dauerte einige Zeit, bis Lydia sich wieder halbwegs beruhigt hatte. Immer wieder wurde sie von kleineren Lachkrämpfen geschüttelt. Schließlich stieg sie beschwingt unter die Dusche und suchte sich anschließend ein paar hübsche Sachen aus dem Kleiderschrank. Perfekt bekleidet, stieg sie eine halbe Stunde später in ihr kleines Auto und machte sich auf den Weg in ein neues Leben…
9.264 Zeichen V1
