Von Michael Voß
Sorgsam zupfte ich Lena noch eine frech abstehende Augenbraue aus. Dann ging ich einen Schritt zurück und betrachtete mein Werk aus der Distanz. Gut, dachte ich, wirklich gut.
„Fertig“, sagte ich. Lena stand auf und ich zog den Stuhl zurück, damit sie sich frei vor dem großen Spiegel an der Wand drehen konnte.
„Wie gefällt es euch?“, fragte ich die beiden Brautjungfern.
Die eine hielt den Daumen hoch, die andere nickte anerkennend: „Erste Sahne. Kleid, Frisur, Make-Up, Haarschmuck – alles aus einem Guss.“
„Was sagst du, Lena? Schließlich bist du die Braut!“
Lena strahlte mich an: „Danke Ella! Jetzt kann die Hochzeit kommen!“
Nachdem die drei gegangen waren, fegte ich die Haarschnipsel vom Fußboden, packte die Schminkutensilien weg und räumte das Zimmer auf. Dann machte ich Kassensturz. Mein Verdienst als Friseurin reichte so gerade für den Lebensunterhalt, aber das Schwarzgeld für die Arbeit als Brautstylistin nach Feierabend in meiner Wohnung konnte ich zurücklegen. Noch ein Jahr, dann würde ich mir das ganze Paket leisten können: Ebenmäßige Gesichtszüge, Lidstraffung, volle Lippen, eine perfekt modellierte Nase, Premium-Brustimplantate und einen Apfelpo, alles in einer erstklassigen Klinik in der Schweiz mit Top-Service und Garantie.
Als attraktive Frau würde mir die Welt offenstehen: Die besten Jobs in den angesagtesten Salons, Zusagen statt Absagen bei der Wohnungssuche, Dates mit Männern aus der oberen Liga. Ich würde wählen können, statt nehmen zu müssen, was übrigblieb. Ein paar Jahre Zeit, um mich abzusichern gegen Einsamkeit und Altersarmut, bis die ersten Fältchen kämen und ich unaufhaltsam verwelken würde.
In einer merkwürdigen Mischung aus Euphorie, Sarkasmus und Depression öffnete ich einen Piccolo, füllte ein Sektglas und stieß mit meinem Spiegelbild an: „Auf dein Wohl, Ella, du hässliches Entlein. Auf deine Verwandlung in einen Schwan!“
Ich kicherte: „Und dann, mein Lieber, frage ich dich: Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“
„Meinst du hier in der Pfalz oder in der Bundesrepublik?“, sagte eine Stimme.
Vor Schreck wäre ich fast vom Stuhl gefallen. Dann wurde ich wütend: Irgendwer hatte sich in die Smarthome-App meiner Wohnung gehackt, beobachtete mich durch meine eigene Webcam und sprach durch die Wandlautsprecher meiner Dolby-Surround-Anlage zu mir. Ich fuhr alles runter, Laptop, Alexa und Handy, schaltete den Router ab und zog den Stecker der Anlage.
„Da guckste blöd, was?“, schrie ich in den Spiegel.
„Ich finde, ich gucke wie sonst auch“, kam die gelassene Antwort.
Ich ging zum Sicherungskasten im Flur und nahm den Strom von der gesamten Wohnung. Zurück in meinem Zimmer trank ich einen Schluck Sekt und streckte dem Spiegel die Zunge raus.
„Diese Geste verzerrt dein Gesicht. Sieht nicht gut aus.“
Vor Schreck verschluckte ich mich.
„Wie undamenhaft“, kam der Kommentar aus dem Spiegel.
Das konnte nicht sein. Hatte etwa jemand einen Lautsprecher dahinter versteckt? Ich versuchte, das Ding abzuhängen, konnte es aber keinen Millimeter bewegen. Wahrscheinlich hatte der Spanner, der mich ausspionierte, den Spiegel auf der Tapete festgeklebt. Mit Hammer und Meißel schaffte ich es, dicht neben dem goldenen Rahmen ein faustgroßes Loch in den Putz zu schlagen, doch der Spiegel blieb an Ort und Stelle. Ich holte aus und ließ den Hammer mitten in den Spiegel krachen. Die erwartete Zerstörung blieb aus – nicht mal der kleinste Splitter war aus dem blitzblanken Glas gebrochen. Mir wurde ganz anders.
„Was ist das?“, flüsterte ich.
„Was meinst du?“
„Wieso bist du nicht zerbrochen?“
„Zauberspiegel lassen sich nicht auf diese Art zerstören.“
„Es gibt keine Zauberspiegel!“
„Wenn du nicht glaubst, was du hörst und siehst, kann ich dir auch nicht helfen“, sagte der Spiegel.
Ich musste halluzinieren. Mein Ex-Freund hatte mal gesagt, ich solle weniger arbeiten, sonst würde ich erst ihn und dann den Verstand verlieren. Offenbar war nun auch Letzteres wahr geworden. Resigniert stellte ich den Strom wieder an, heulte eine Runde, warf drei Schlaftabletten ein und schmiss mich ins Bett.
Am nächsten Tag beauftragte ich einen Handwerker, das Loch in der Wand wieder zuzumachen. Es kostete mich zweihundert Euro extra, damit er noch am gleichen Tag kam, aber das war es mir wert.
Nach dem Abendessen setzte ich mich vor den Spiegel, den ich vor ein paar Jahren in einem Trödelladen gekauft hatte.
„Hallo Spiegel“, sagte ich. „Erzähl mir was.“
Keine Reaktion. Also war ich tatsächlich nur überarbeitet gewesen.
Erleichtert begann ich zu tanzen und sang: „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Glücklichste im ganzen Land?“
„Aylin Meier.“
Meine Füße verhakten sich und ich schlug lang hin.
„Wenn du so weitermachst, musst du erst zum Unfall- statt zum Schönheitschirurgen.“
„Wer ist Aylin Meier?“
„Ein vierjähriges Mädchen in Niederbayern.“
„Wieso ist sie die Glücklichste im ganzen Land?“
„Ihr Opa hat ihr heute Nachmittag einen Eisvogel gezeigt.“
„Du bist tatsächlich ein Zauberspiegel!“, ächzte ich.
„Das ist korrekt. Du darfst mich Halvor nennen.“
Dank Halvor stieg die Zahl meiner Kundinnen rasch an, denn er kommentierte live meine Arbeit, machte exzellente Stylingvorschläge, unterhielt sich charmant mit den Bräuten und gab ihnen das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Obwohl ich ihn Zauberspiegel nannte, dachten alle, es sei einfach nur eine KI im Einsatz, die die Gespräche bei der Arbeit auflockerte und bereicherte.
Mir war´s recht – die Wahrheit wäre schwer vermittelbar gewesen.
Ich fing an, mich nach der Arbeit mit Halvor auszutauschen. Dabei erfuhr ich, dass er nicht der Spiegel aus Schneewittchen war, sondern nur einer von mehreren Zauberspiegeln, die in grauer Vorzeit gemacht worden waren.
„Wer hat dich hergestellt?“, wollte ich wissen.
„Eine Zauberin.“
„Wozu? Wollte sie wissen, ob sie die Schönste im ganzen Land ist?“
„Nein, sie hat das Gold gebraucht.“
„Und wer hat sie beauftragt? Eine Prinzessin?“
„Ein Raubritter.“
„Offenbar sind eitle Schurken keine Erscheinung der Neuzeit. Aber warum wollte er einen Zauberspiegel haben?“
„Der Schurke war mein Vater. Er war recht ungehalten, als ich mich weigerte, in seine Fußstapfen zu treten. Da hat er mich von dieser Zauberin in den Spiegel hexen lassen.“
Ich war entsetzt.
„Wann …“
„Beim ersten Wintervollmond im Jahr 502. Nach Christus.“
Es dauerte drei Tage, bis ich das verarbeitet hatte – schon weil ich mit niemandem darüber sprechen konnte, ohne dass man mich in die Klapsmühle gesteckt hätte.
Dann nahm ich unsere Abendgespräche wieder auf. Das war aufregend, kurzweilig, mitunter philosophisch. Manchmal auch echt hart, denn Halvor war schonungslos ehrlich. Meistens jedoch brachte er mich mit seinem trockenen Humor zum Lachen.
Nach vier Wochen betrachtete ich ihn als den besten Freund, den ich je hatte.
Fünf Monate später hatte ich das Geld zusammen. Ich griff zum Handy und vereinbarte einen Beratungstermin vor Ort mit der Klinik in der Schweiz.
„Tu´ das nicht, Ella“, hörte ich Halvor nach dem Telefonat.
„Warum?“, fauchte ich ärgerlich.
„Du bist schön, so wie du bist.“
„Pff! Und du willst ein Zauberspiegel sein! Ich sehe das ganz anders!“
„Ganz gleich, was wahr oder was Geschmackssache ist: Dein Äußeres wird nicht mehr zu deinem Wesen passen und dich aus deiner Mitte bringen. Am Ende wirst eine dieser seelenlosen, überdreht-aufgesetzten Kunstfiguren oder versumpfst in Depressionen.“
Wütend schmiss ich mein Handy in den Spiegel, wo es mit einem Knack zerbrach. Dann fuhr ich zum Baumarkt, kaufte zwei Quadratmeter Dekorfolie und klebte den vorlauten Spiegel zu. Meine Schwarzarbeit pausierte zwangsweise. Dann kam der Beratungstermin in der Schweiz, von dem ich begeistert zurückkehrte. Ich tanzte durch die Wohnung und sang: „Dreimal werden wir noch wach, heißa dann ist Schönheits-Tach!“
Ein Stöhnen, laut wie ein Presslufthammer, übertönte meinen Freudengesang.
Halvor!
„Hör auf!“, schrie ich den Spiegel an.
„Nur, wenn du die Folie abziehst!“
„Wehe, wenn nicht!“, drohte ich, befreite Halvor von seiner Maske und stampfte wütend Richtung Küche.
„Bleib stehen und dreh dich um!”
Trotzig drehte ich mich um, schaute auf meine Füße.
„Schau mich endlich an!“, rief der Spiegel.
Widerwillig kam ich seiner Forderung nach.
Zuerst war die Glasfläche makellos und klar wie immer. Doch vernebelte sie sich und ich sah das schemenhafte Gesicht eines Mannes um die dreißig, mit langem Haar, Vollbart und einem breiten Stirnreif aus Metall im Stil der Altvorderenzeit auftauchen. Je länger ich hinsah, desto deutlicher wurde das Bild. Als mein Herz anfing zu klopfen, floss Farbe in die bislang vorherrschenden Grautöne. Seine Augen waren tiefblau. Irgendein Teil von mir registrierte, dass ich darin zu versinken begann.
„Wer bist du?“, flüsterte ich.
„Das weißt du schon längst“, kam leise die Antwort.
Meine Knie wurden wachsweich.
Ich schluckte und wisperte: „Du bist der, den ich liebe.“
Ein Lächeln glitt über das Gesicht im Glas.
„Endlich!“, sagte Halvor und trat aus dem Spiegel heraus.
Epilog:
Ich habe die OPs gecancelt, den Job geschmissen, ein Brautstylingstudio aufgemacht und Halvor geheiratet. Im Herbst werden wir die Burgruine seines ehemaligen Familiensitzes besuchen. Halvor weiß, wo der Schatz vergraben ist. Er will sich ein weißes Pferd kaufen.
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