Von Bergthora Eldey
Schouwen/Niederlande, 2070
An der südlichen Zufahrt zur Zeelandbrücke bringt uns eine Schranke zum Stehen. Ein vierschrötiger Kerl in Warnweste klopft ans Autofenster. „Das Katastrophengebiet ist gesperrt. Kehren Sie um.“
Wortlos reiche ich ihm meinen Passierschein. Der Kerl zeigt auf Johan. „Und er?“
Was soll ich sagen? Johan ist ein alter Kollege und hat mich gebracht, weil ich nicht Auto fahren kann. Werden sie das gelten lassen?
„Ich bin Simones Verlobter“, behauptet Johan und legt mir die Hand auf die Schulter. Früher hätte mich die Lüge amüsiert und die Hand geärgert. Jetzt hocke ich mit Kloß im Hals auf dem Sitz und warte ab.
„Lassen wir’s durchgehen“, sagt der Mann. „Schwere Zeiten, weiß Gott.“
Auf der Zeelandbrücke müssen wir wieder halten, weil die Klappbrücke für die Schifffahrt geöffnet ist; Teile des Überflutungsgebiets werden über Wasser versorgt. Ich steige aus und spähe Richtung Westen, Richtung Nordsee. Früher lag am Horizont die pfeilerbewehrte Linie des Oosterscheldesperrwerks. Im Lauen Krieg durch einen russischen Anschlag zerstört und nicht wieder aufgebaut. Seit dreißig Jahren!
Zögernd wende ich den Blick ein wenig nach rechts, nach Schouwen. Die kleischwere Insel, auf der ich geboren wurde und die ich in den letzten Jahren nur besucht habe, weil mein verdammter Ex unsere Kinder dahin zurückverschleppt hat, aufdass seine Mutter und seine neue Frau sie in dem engstirnigen, heuchlerischen Glauben erziehen, der über den Atlantik geschwappt ist und sich Modernes Christentum nennt. Stimmt es, dass du in die Hölle kommst, Mama?
Wenn ich nur verhindert hätte, dass Jaap die Kinder bekommt! Aber ich hatte keine Chance. Jaap hatte eine neue Partnerin und linientreue Eltern mit eigenem Bauernhof. Ich arbeite beim Wetterdienst. Klima-woky. Politisch anrüchig.
Meine Augen tränen. Zu allem Überfluss steigt Johan aus und hält mir ein Taschentuch hin. „Frische Brise“, sage ich heiser und weise auf die Brücke, die sich wieder schließt. „Wir dürfen weiter.“
Wir erreichen die Insel, oder was davon übrig ist, und folgen der schmalen Straße – eigentlich nur ein breiter Radweg – auf der Krone des Oosterscheldedeiches Richtung Serooskerke. Spiegelglatt liegt die See, glitzert unschuldig in der kalten Spätwintersonne, atmet im Rhythmus der Gezeiten – beiderseits des Deiches.
Links ragen die Baken der Muschelfischer aus dem Wasser, rechts verwüstete Höfe.
Bei Café Moriaanshoofd müssen wir aussteigen, weil die Straße den Deich verlässt und unter Wasser liegt. Zu Fuß laufen wir über die aufgeweichte Grasnarbe der Deichkrone. Der Kirchturm von Kerkwerve ragt aus der grauen Fläche. Ob der Hof von Tante Josefien noch steht, mit den krummen Boskoopapfelbäumen?
„Werden sie Schouwen überhaupt trockenlegen?“, frage ich, um nicht an meine Verwandten denken zu müssen. Oder an die Nacht in der Wetterstube –
„Technisch möglich ist es“, sagt Johan, vermutlich ebenso dankbar für das sachliche Thema. „1953 ist es ja auch gelungen, die Deichlöcher zu dichten. Die Frage ist eher, ob es wirtschaftlich ist. Durch den Meeresspiegelanstieg quillt immer mehr Salzwasser ins Ackerland. Und Touristen kommen auch nicht mehr viele. Wer hat denn heutzutage noch Geld für Strandurlaub?“
„Aber wenn sie Schouwen aufgeben, wird es heißen, die Regierung könne die Küstenlinie nicht halten. Die Flut hat bei Leiden und Haarlem beinahe die Dünenreihe durchbrochen. Was, wenn es zu einer Panik im Immobilienmarkt kommt?“
„Dann ist das der Anfang vom Ende“, sagt Johan tonlos. Er ballt die Fäuste. „Jahrelang haben wir gewarnt, gerufen, gebettelt! Das Kippen des Golfstroms bringt einen halben Meter zusätzlichen Meeresspiegelanstieg, und die hohen Herren in Den Haag stecken den Kopf in den Sand wie Straußvögel!“
Ich sehe anzugtragende Männer mit Laptoptaschen am Flutsaum den Kopf in den Sand bohren und muss beinahe lächeln. Johans Wutausbruch hat etwas Befreiendes, lindert das Schuldgefühl, das wie ein Sandsack auf mir lastet.
Ein Deichstück quer zum Hauptdeich – wir sind am Ziel.
Der Pfarrer in schwarzem Habit und Gummistiefeln ist schon da und stapft wie eine Nebelkrähe zwischen den Gräbern einher, die auf dem schmalen Deichrücken ausgehoben wurden, weil der Friedhof unter Wasser steht. Drei mal acht Gräber, aber nur zehn Särge. Gut vierzig dunkel gekleidete Gestalten stehen reglos um den improvisierten Gottesacker herum. Wortlos stellen wir uns dazu. Der Pfarrer kommt gleich zur Sache. „Liebe Gemeinde, wir sind hier zusammengekommen, um die Serooskerker Opfer der Sturmflut zu begraben, die die See preisgegeben hat, und derer zu gedenken, deren sterbliche Überreste nicht gefunden wurden.“
Er fährt fort, betet und mahnt, spricht von Gottes Güte einerseits und dem überfälligen Strafgericht andererseits. Ich kann nicht folgen, starre nur auf die Särge. In zweien liegen Jaap und seine Frau, oder was immer Salzwasser und Wattwürmer von ihnen übriggelassen haben. Die Kinder wurden nie gefunden. Vermutlich hat der Ebbstrom sie mitgenommen. Haben Vater und Stiefmutter sie im Stich gelassen, oder hat erst die kalte See sie getrennt, gefühllos, willkürlich? Was haben sie durchlitten in ihren letzten Stunden, während ich in De Bilt in der Wetterstube saß, allein mit dem Sturm?
Ich hatte die Nachtschicht. Samstagabend.
Das Tief kannte ich schon von der gestrigen Schicht, aber da hatte es noch unscheinbar ausgesehen: kräftiger Wind, wie er jeden Winter vorkommt. Jetzt lag östlich von Schottland ein Monster, Kerndruck 955hPa, Kurs auf die deutsche Bucht. Westlich von Irland lag ein kräftiges Hoch, und dazwischen zog sich ein Sturmfeld, das die gesamte westliche Nordsee erfasste. Nordnordwestwind, 120km/h und mehr.
Früher hätten wir diese Entwicklung Tage vorher vorausgesehen. Die Meteorologie geht den Bach runter. Nur wenige Länder teilen noch Satellitdaten, also mangelt es den Wettermodellen an Eingabewerten. Es fehlt an Experten, um die Modelle an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Der Golfstrom ist am Kippen. Winterstürme nehmen zu. Der Meeresspiegel steigt. Und die Politik schaut weg. Es gilt als Landesverrat, das auszusprechen.
Regen prasselte gegen die Fenster, gelegentlich schien durch ein Loch in den Wolken der nicht mehr ganz volle Mond.
Kurz nach Vollmond. Springflut! Ich rief die amtlichen Wasserstandsvorhersagen auf. Mittelschwere Sturmflut. Erstellt um 16:00 – mit veralteten Windvorhersagen. Wütend loggte ich auf dem Rechencluster ein und startete das Wasserstandsmodell. Rechenzeit drei Stunden. Zu lang! Wie lang war das Wasser- und Verkehrsamt Samstagabend überhaupt besetzt? Und die lokalen Wasserverbände, hatten sie die Deichwacht einberufen? Warum hatte der Wetterdienst ausgerechnet die Stelle des wachhabenden Hydrologen eingespart?! Mit zittrigen Fingern wählte ich Johans Nummer.
„Simone! Willst du auf ein Glas Wein –”
„Johan, schau auf die Windvorhersagen. Wie hoch, schätzt du, kommt das Wasser?”
„Schande”, murmelte Johan. Es blieb eine Weile still. Schließlich sagte er: „Gut fünfeinhalb Meter in Hoek van Holland, gut viereinhalb in Den Helder. Das wird übel.”
Ich griff zum Laptop. Zögerte. Mein Vorhaben konnte mich den Job kosten. Es war uns verboten, mit etwas anderem als amtlichen Warnungen und Vorhersagen an die Öffentlichkeit zu treten. Aber das hier war ein Notfall.
Ich aktualisierte die Wasserstandwarnung aufgrund von Johans Schätzwerten. Dann suchte ich Kontaktdaten von Deichgrafen, Wasserverbänden, Gemeindeämtern.
Aufgrund der unvorhergesehenen Verstärkung von Sturm Vincinette wird das Morgenhochwasser entlang der Küste erheblich höher ausfallen als erwartet. Bleiben Sie wachsam. Alarmieren Sie Kollegen. Verfolgen Sie Warnungsupdates.
Ich bekam genau eine Antwort. „Halt die Klappe, Troll.”
Mir wurde übel vor Angst und Wut. Mit zitternden Knien lief ich Richtung Toilette, hielt mitten im dunklen Gang, um Jaap anzurufen. Er klang verschlafen. „Wasnlooos?”
„Jaap, da kommt eine Sturmflut auf euch zu. Warnt die Nachbarn, setzt die Kinder ins Auto und fahrt nach Bergen op Zoom!”
„Simone, es ist Mitternacht. Und ich hab Grippe.”
„Jaap, ihr habt vier Stunden bis Hochwasser, und –”
Jaaps Frau übernahm das Gespräch. „Du willst dich nur wichtig machen! Lass. Uns. In. Ruhe!”
Dann legte sie auf. Als ich es nochmals versuchte, nahm keiner ab.
Die Nacht verging. Mit brennenden Augen starrte ich auf die Monitore, verfolgte spärliche Messungen von Wetterstationen und Windparks, um den Sturm im Auge zu behalten, der auf die Küste zuraste. Auf meine Kinder! Aber ich war machtlos –
In den nächsten Tagen fielen mir dutzende Adressaten ein, die ich noch hätte warnen können.
„Und so hat Gott in seiner Weisheit beschlossen, diese sündigen Menschen abzuberufen”, sagt der Pfarrer.
Ich könnte ihm ins Gesicht schlagen. „Meine Kinder haben nicht gesündigt”, sage ich. „Ihr Tod war nicht göttliche Weisheit, sondern menschliche Dummheit!”
Ehe der empörte Prediger die Sprache wiederfindet, wende ich mich ab, bedeute Johan, mich in Ruhe zu lassen, und haste nach Westen, wo der Deich gebrochen ist. Wenn ich irgendwo meinen Kindern nahe sein kann, dann dort. Ich klettere über eine Absperrung und stehe vor dem Loch. Zweihundert Meter breit wirbelt der braune Ebbstrom seewärts, führt hier einen Ast mit, dort einen Heuballen, und vielleicht, unter der Oberfläche, eine Kinderleiche.
Was gäbe ich dafür, meine Kinder noch einmal zu sehen! Mit ihnen zu singen, wie früher. Sie haben Lieder geliebt, ehe ihre Stiefmutter ihnen eintrichterte, weltliche Musik sei sündig. Und so singe ich für sie ein Lied von Edvard Grieg, dessen Melodie mir früher so gefallen hat, als ich noch nicht ahnte, dass die Worte auf mich gemünzt waren:
Hast du gesehen meinen kleinen Jungen
Mit dem lichten, lockigen Haar?
Wie lange ich ihn auch anschaute,
War es doch nie genug.
Ach, so leer, so leer, so leer
Steht jetzt die kleine Wiege
Und meine arme Brust ist voll
Von Kummer und tiefen Seufzern.
Blind war ich gewesen, blind wie wir alle, die wegsahen, während der Meeresspiegel stieg.
V2 – 9987 Zeichen
Edvard Grieg, Modersorg (Mutterkummer):
https://www.youtube.com/watch?v=Xtzqsd6FRyk&list=PLD_6HY12f_0kzZTwhhNdLJ7wZpyWe5-0r&index=15 Lied nr 4
