Von Armin Kahn

Alexander fährt in seinem Wagen gemütlich nach Hause. Es ist Feierabend und er möchte gerne in sein gemütliches Heim, auf das er sich jeden Abend freut. Er sitzt dann in seinem bequemen Relaxsessel, die Beine ausgestreckt vor dem Fernseher und genießt seinen Feierabend. Er ist Buchhalter in einem Großhandelsbetrieb und muss sich den ganzen Tag konzentrieren, damit keine Zahl falsch übertragen wird, sonst muss man nur wieder tagelang suchen, wo der Fehler steckt. Er fährt also in seinem Wagen die Hauptverkehrsstraße entlang, von dort ist es nicht mehr weit.

 Plötzlich fährt ein roter Honda von links aus der Nebenstraße kurz vor ihm auf seine Fahrbahn. Alexander bremst und hupt gleichzeitig, der Honda bemüht sich nicht einmal zu beschleunigen, obwohl er ihm doch eindeutig die Vorfahrt genommen hat. Schlussendlich kann er es nicht verhindern und kracht dem Honda ins Heck. Jetzt hat auch der Honda angehalten, schon geht sein Warnblinker an. Auch Alexander schaltet den Motor aus, den Warnblinker ein und steigt aus. „Na, sagen Sie mal!“ ruft der Fahrer des Hondas ganz aufgebracht, „Haben Sie mich denn nicht gesehen?“

 Alexander ist verwirrt: „Doch schon, aber Sie haben mir ja schließlich die Vorfahrt genommen!“, sagt er. „Wie bitte?“ der andere wird etwas aufgeregt. „Entschuldigung, ich fuhr vor Ihnen, Sie fahren mir hinten rein – und Sie wollen mir jetzt erzählen, ich hätte Ihnen die Vorfahrt genommen? Das ist ja wohl nicht Ihr Ernst!“ Alexander ist jetzt völlig verwirrt. „Aber Sie sind doch dahinten aus dem Jägerweg heraus gekommen, nach links abgebogen und direkt auf meine Fahrbahn vor mir, und ich konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen!“ „Was?“ rief der Mann, „haben Sie etwas getrunken? Ich fahre schon die ganze Zeit hier auf der Schulzendorfer Straße und musste nur etwas abbremsen, weil da ein Kind vor mir auf einem Fahrrad fuhr!“. Er wirkt mittlerweile etwas aufgebracht. „Aber wissen Sie was?“, fuhr er fort, „ich rufe jetzt erst mal die Polizei und dann sehen wir weiter.“ Alexander steht da wie betäubt. Ihn trifft doch nun wirklich keine Schuld!

 Die Polizei erscheint keine zehn Minuten später. „Gibt es Personenschäden?“ fragt einer der beiden Polizisten als Erstes. Beide schütteln den Kopf. Der eine Polizist zeigt auf Alexander und meint zu seiner Kollegin: „Du übernimmst ihn, ich den hier!“ – er zeigt auf den Honda-Fahrer. Die Kollegin nickt und stellt sich vor Alexander auf. „Kann ich bitte mal den Personalausweis, den Führerschein und den Fahrzeugschein sehen?“, fragt sie. „Klar“, sagt Alexander, zückt seine Brieftasche und entnimmt ihr die benötigten Papiere. Die Polizistin bittet Alexander in den Transporter und nimmt ihm gegenüber Platz, schaut in die Papiere und füllt das Unfallprotokoll aus. „So“, sagt sie dann, „nun erzählen Sie mal, wie das passiert ist. Sieht ja nach einem Auffahrunfall aus. Hatten Sie denn genügend Abstand eingehalten?“, fragt sie nach. „Ja, ähh…“ beginnt Alexander, „das war alles ganz anders. Ich fuhr auf der Schulzendorfer Straße und er“, er zeigt auf den roten Honda, „kam aus dem Jägerweg von links auf meine Fahrbahn, so kurz vor mir, dass ich nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte!“ Die Polizistin hebt die Augenbrauen. „Ach? Das andere Fahrzeug kam von links auf Ihre Fahrbahn? Habe ich das richtig verstanden?“, fragt sie nun. „Ja, genau!“, sagt Alexander erleichtert, die Polizistin versteht ihn offenbar. „Das habe ich so auch noch nie gehört“, meint sie, aber statt dessen, „sonst sagen immer alle, die Auffahrende hätten keinen Grund gehabt, an der Stelle zu bremsen – aber dass er von links gekommen ist und sich direkt vor Sie gesetzt hat – das ist ja mal neu!“

 Damit steigt sie aus dem Transporter aus und geht zu ihrem Kollegen, der noch mit dem Fahrer des Unfallgegners redet. Sie fragt ihn, was der ausgesagt hätte; er erklärt das kurz und sachlich, sie nickt und steigt wieder in den Transporter zu Alexander ein. „Tja“, eröffnet sie das Gespräch, „wie vorherzusehen, sagt Ihr Unfallgegner aus, er wäre schon die ganze Zeit auf der Schulzendorfer Straße gefahren und sei nicht aus dem Jägerweg nach links abgebogen.“ Sie beugt sich zu Alexander vor, kommt ihm dabei ziemlich nahe und meint dann: „Herr Meierhoff, meinen Sie nicht auch, dass es für uns alle einfacher wäre, wenn Sie zugeben würden, dass Sie dem Vordermann aufgefahren sind. Das ist doch fast jedem schon mal passiert!“. Alexander ist nun doch langsam wütend, er atmet laut hörbar aus und sagt schon etwas lauter und erregter: „Ich habe Ihnen genau erzählt, wie das Ganze passiert ist. Ich habe nichts weggelassen und nichts hinzugefügt. Der“, und er zeigt nach draußen, „will wohl nicht zugeben, dass er Mist gebaut hat. Hat er aber!“. 

 Die Polizistin weicht überrascht von Alexander zurück. „Herr Meierhoff, haben Sie etwas getrunken?“, fragt sie streng. Alexander schaut sie erschrocken an. „Wie kommen Sie denn darauf? Er“, und wieder zeigt er auf den Unfallgegner, „hat mich das auch schon gefragt!“. Alexander lehnt sich zurück und schüttelt den Kopf, er versteht die Welt nicht mehr. Die Polizistin schaut ihn ganz ernst an: „Herr Meierhoff, Sie haben meine Frage nicht beantwortet! Haben Sie Alkohol getrunken?“, fragt sie in ganz amtlichem Ton. Alexander blickt sie hilflos an: „Was hat das denn damit zu tun?“, seine Hände kreisen in der Luft umher. „Ja oder nein?“, hakt sie unerbittlich nach. „Schon“, sagt Alexander unwillig, „aber mit dem Unfall hat das doch überhaupt nichts zu tun!“ beschwört er die Polizistin. Die bleibt aber völlig unbeeindruckt: „Sind Sie mit einem Alkoholtest einverstanden?“, fragt sie der Ordnung halber. „Wirke ich etwa betrunken auf Sie?“ fragt Alexander zurück. „Schauen Sie hier“, lacht er und springt aus der offenen Schiebetür. Er geht auf einer imaginären Linie, immer einen Fuß vor den anderen setzend, schnurgerade. „Ich bin nicht betrunken! Und der“, er zeigt wieder auf den Unfallgegner „ist wirklich aus dem Jägerweg herausgekommen und hat mir die Vorfahrt genommen!“. 

 Die Polizistin hält ihm wortlos den Alkoholtest hin. „Blasen Sie hier kräftig hinein, bis es piept!“ sagt sie und hält Alexander das Gerät hin. Er sinkt in sich zusammen, bläst aber hinein, bis es piept und gibt dann das Gerät der Polizistin zurück. Sie starrt ungläubig auf das Gerät. „Uwe, kommst du mal bitte!“, ruft sie zu ihrem Kollegen, der noch immer am Honda steht und sich angeregt mit dessen Fahrer unterhält. Die Polizistin hält ihm das Messgerät hin: „Das glaube ich jetzt nicht!“, sagt sie zu ihm. Er schaut auf das Display, seine Kinnlade klappt herunter, dann schaut er Alexander an. Kopfschüttelnd und ungläubig ruft er aus: „2,8 Promille – Respekt!“. Alexander schließt die Augen und weiß, dass er verloren hat. 

 Später im Krankenhaus erfahren die beiden Polizisten von dem Arzt, der Alexander die notwendige Blutprobe entnommen hat, dass es sich bei Alexander um einen sogenannten Spiegeltrinker handelt, der stets einen gewissen Alkoholpegel intus haben muss, um normal und unauffällig agieren zu können. 

 

 Alexander begann direkt am nächsten Tag einen Entzug in einer Klinik. Der Unfall wurde zu einem Wendepunkt in seinem Leben. Diese Ungerechtigkeit hatte ihn so aufgebracht, dass er beschlossen hat, sein Leben von Grund auf zu verändern. Sonst hätte er wohl noch lange so weitergemacht, wie sein Körper das ausgehalten hätte. 

 Der Unfall wurde aber als üblicher Auffahrunfall bewertet; seine Versicherung musste den Schaden am Honda bezahlen, Alexander galt als Verursacher. Der Unfallgegner war wohl ein ganz 

Abgebrühter, der bereits Sekunden nach seinem Fahrfehler einen Weg gefunden hatte, aus der Geschichte unbeschadet herauszukommen. Dass Alexander ein Alkoholproblem hatte, spielte ihm zusätzlich noch gut in die Karten. Verursacht hatte aber ganz eindeutig er diesen Unfall.

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