Von Andreas Schröter
Mein Dasein – von „Leben“ kann ich in meinem Fall kaum sprechen – kann man getrost als trist bezeichnen. Seit ziemlich genau 150 Jahren hänge ich in einer dunklen Kammer ohne Fenster, Luft und genügend Licht. Der Ausblick, der sich mir jahrein, jahraus bietet, zeigt mir Spinnweben, die sich über meinen hölzernen Rahmen ziehen, Schimmel und Staub. Jede Menge Staub – und sogar den Dreck von einigen Ratten, die vor 30 Jahren mal kurz meine Kammer heimgesucht haben. Die einzige Beleuchtung ist flackerndes Kerzenlicht. Seit wir keine Bediensteten mehr haben – die letzte hat schon vor vielen Jahrzehnten Reißaus genommen –, macht sich niemand mehr die Mühe, unser Gruselschloss zu reinigen.
Die einzige dauerhafte Bewohnerin würde sich in ihrer grenzenlosen Überheblichkeit eher einen Finger abhacken, als ein Staubtuch in die Hand zu nehmen. Ich rede von der Königin herself – Grimhilde, die Allergrößte, allerdings nur selbsternannt. Mein Gott, wie ich sie hasse. Obwohl sie mir natürlich alle drei Tage die einzige Abwechslung bietet, die ich noch habe. Ich höre ihr Kommen schon immer lange im Voraus, denn ihr stakkatohafter Stöckelschuhgang kündigt sie bereits Minuten vor ihrem eigentlichen Eintreffen in meiner Kammer an.
Dann stellt sie sich in ihrem enganliegenden schwarzen Kleid mit wiegenden Hüften vor mich, zieht das Kinn noch etwas höher, als sie es ohnehin immer trägt, und stellt mit spitzen, grellrot geschminkten Lippen ihre immergleiche Frage:
„Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“
Vielleicht muss ich doch noch ein wenig zu meiner seltsamen Existenz ausholen: Erschaffen wurde ich von einem sehr abgeschieden in den Bergen des Schwarzwalds lebenden Mann, der damals in der Gegend gefürchtet war. In den Wirtshäusern der Umgebung raunte man sich seinen Beinamen „Der Hexer von Hinterzarten“ zu, wenn von ihm die Rede war. Passenderweise hieß der Ort, an dem seine Klause stand, „Teufelsschlucht“. Die Zutaten für mich waren nicht bloß Holz und spiegelndes Glas, sondern auch Blut, Salpeter und ein Tropfen aus einer Phiole, dessen Zusammensetzung mir bis heute unbekannt ist – außer, dass mir noch alptraumhaft in Erinnerung ist, welches abscheuliche Lachen der Mann ausstieß, als der Tropfen auf mich fiel.
Aber ich verliere mich in Details. Entschuldigen Sie bitte – das macht die Einsamkeit. Im Ergebnis jedenfalls konnte ich denken und sprechen, was nach meiner Kenntnis für meine Artgenossen nicht unbedingt gilt. Wenn mich jemand etwas fragt, antworte ich. Außerdem erahne ich quasi von innen heraus Dinge, die andere Menschen nicht sehen.
Ich gab auch diesmal wieder meine Standardantwort: „Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier.“ Daraufhin stöckelt Madame dann meist mit ihrem boshaften Grinsen von dannen, und ich bin wieder drei Tage und drei Nächte allein.
Wenn ich vorhin gesagt habe, dass Grimhilde allein im Schloss lebt, so stimmt das nur halb. An manchen Tagen ist auch ihre Stieftochter Schneewittchen im Schloss. Ansonsten lebt sie im Wald bei sieben Freunden. Ich muss leider sagen – auch wenn es kein sympathisches Licht auf mich wirft –: Ich hasse Schneewittchen genauso wie die Königin, aber aus einem anderen Grund: Das Gör ignoriert mich. In den 18 Jahren, die Schneewittchen nun auf der Welt ist, hat sie mich noch kein einziges Mal angesehen, obwohl sie durchaus gelegentlich an meiner Kammer vorbeikommt. Und mal ehrlich: Der einzige Daseinszweck eines Spiegels ist doch schließlich, dass man ihn ansieht, oder etwa nicht?
Ich beschwöre sie, ich befehle ihr, ich flehe sie an – per Ansprache und auf telepathischem Wege: „Schau mich endlich an! SCHAU MICH ENDLICH AN!“ Die Reaktion ist bisher: null – so, als wäre ich gar nicht da. Das ist unfassbar erniedrigend für mich. Und ich leide in diesen Momenten noch mehr, als ich es ohnehin seit 150 Jahren tue. Bin ich derart unwürdig, dass man mich nicht einmal eines Blickes würdigen muss?
Was ich nicht wusste, war, dass alles noch viel schlimmer kommen würde: Eines Tages, ich wiederholte meine inständige Bitte an die Kleine, trat sie plötzlich doch vor mich – und schon überflutete mich eine überbordende Freude. Doch die hielt nur ungefähr zehn Sekunden an, denn Schneewittchen hatte ein tiefschwarzes Tuch aus den Falten ihres Kleides hervorgezaubert und deckte es nun zu meinem grenzenlosen Entsetzen über mich. Dann wandte sie sich wortlos ab und verließ meine Kammer.
Oh, die folgenden drei Tage waren die entsetzlichsten meiner gesamten Existenz. Ich sah: nichts – absolut gar nichts. Ich hätte niemals gedacht, dass ich den Staub, die Spinnweben, den Kerzenwachs auf dem Boden und die Hinterlassenschaften der Ratten jemals vermissen würde. Aber genauso war es. Zum ersten Mal begann ich, das Kommen der Königin herbeizusehnen, auf dass sie mich von meinem trüben Schicksal befreien möge.
Und sie kam. Als sie sah, was mir widerfahren war, stieß sie einen Wutschrei aus, der mir in den nicht vorhandenen Ohren gellte. Unmittelbar danach wisperte sie ganz leise und gefährlich – was mindestens genauso angsteinflößend wie ihr Schrei war: „Wer – wagt – es …?“
Nun, es war eigentlich klar, wer das gewagt hatte, denn es kam ja nur eine Person infrage. Das grauenvolle Beben der Königin zeigte mir, dass auch sie das wusste. Zu meiner Überraschung wich sie dennoch nicht von ihrem Ritual ab und stellte ihre übliche Frage:
„Spieglein, Spieglein an der Wand …“
In diesem Moment hatte ich eine Idee, wie ich den Keil zwischen den beiden Damen noch etwas vertiefen und dafür sorgen könnte, dass Schneewittchen ihre gerechte Strafe erhielt, die sie für die Missachtung, die sie mir entgegenbrachte, verdiente. Also antwortete ich:
„Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr.“
Sie hätten die Reaktion sehen müssen – sie war überwältigend. Ich meinte kurz, Rauch aus Ohren und Nase der Königin aufsteigen zu sehen, aber das konnte eine optische Täuschung sein. Ihre Augen verwandelten sich in Schlitze, ihr Mund wurde ein Strich, und ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Hätte sie in diesem Moment ihre übliche Frage gestellt, hätte ich wohl antworten müssen:
„Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr. Und leider muss ich ergänzen, dass auch das Küchenmädchen, das uns vor 20 Jahren verlassen hat, schöner war als Ihr.“
Gott sei Dank fragte sie nicht.
Zwei Tage später konnte ich ein Gespräch belauschen, das die Königin ein paar Zimmer weiter mit einem unserer höchst seltenen Gäste führte. Ich glaube, es war der Jäger, der für die ausgedehnten Wälder rund um das Schloss zuständig ist. Was ich verstehen konnte, war etwas, das die Königin sagte, während der Jäger schwieg: „Schneewittchen … Herz … bringst … Wald … kleinwüchsige Freunde.“
Der Jäger verließ das Schloss.
Einige Tage später kam er mit einer kleinen Holztruhe zurück, und diesmal konnte ich nicht nur besser hören, was passierte, sondern es auch sehen, weil sich das Geschehen am Eingang meiner Kammer abspielte. Der Jäger ging auf ein Knie und reichte der Königin die Truhe. Die nahm sie entgegen und öffnete sie. Ein freudloses Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie sah, was sich im Inneren befand. Sie griff hinein, hob den Inhalt hoch, und ich sah, wie Blut an ihren Händen hinablief. Es war ein Herz, wie ich nun erkannte. Dann tat Grimhilde etwas, was ich als zutiefst abscheulich ansehen würde: Sie biss wieder und wieder in das Herz, kaute die abgebissenen Stücke und ließ erst davon ab, als sie es komplett verschlungen hatte. Ich empfand etwas, das wohl Ekel genannt werden würde. Das passte ganz und gar nicht zu dem ansonsten zwar abstoßenden, aber immerhin damenhaften Auftreten der Königin.
Ich beobachtete, wie der Jäger einen Würgereiz unterdrückte. Mit einem Diener verabschiedete er sich – vermutlich in der Hoffnung, so schnell nicht mehr das Schloss betreten zu müssen.
Ich habe Ihnen vorhin, als es um meine Erschaffung ging, erzählt, dass ich manchmal Dinge erahnen kann, die die Menschen nicht wahrnehmen. Eine solche Ahnung überkam mich auch jetzt. Ich „hörte“, wenn wir es mal so nennen wollen, plötzlich einen Herzschlag tief im Wald, der mir sehr bekannt vorkam. Es war der von Schneewittchen.
Das Biest hatte also überlebt. Das Herz, das der Jäger gebracht hatte, war nicht ihres. Einerseits schlecht, andererseits gut. Denn auf diese Weise erfuhr meine Hoffnung neue Nahrung: dass mich die Stieftochter der Königin doch eines Tages endlich anschauen würde. Und das ist fortan mein Ziel, das ich unter allen Umständen erreichen will.
V2
8580 Zeichen
