Von Ingo Pietsch

 

Jetzt musste Merle aber wirklich los, sonst würde sie zu spät zur Arbeit kommen.
Ihr Mann, Kai, hatte schon vor einer Stunde das Haus verlassen.
Sie schnappte sich ihre Tasche und stolperte im Flur über den auf dem Fußboden an die Wand gelehnten Spiegel.
Sie hatte keine Ahnung, warum sie dieses klobige Ding gestern auf dem Flohmarkt überhaupt erstanden hatten, aber irgendetwas hatte sie dazu gedrängt, ihn zu kaufen.

Als Merle abends wiederkam, hatte Kai den Spiegel schon an der Wand angebracht.
Stolz hielt er den Akku-Schrauber wie eine Pistole mit dem Lauf an die Decke gerichtet und besah sich sein Spiegelbild.
„Ich sehe gut aus“, meinte er, rieb sein Kinn und hob mehrmals seine Augenbrauen.
Merle stutzte. Ihr kam es vor, als hänge der Spiegel, nachdem Kai gesprochen hatte, mit einem Mal schief. Aber das konnte nur eine Sinnestäuschung sein, da der Spiegel oval war.

Etwas Unheimliches ging von dem Gegenstand aus, fand Merle.
Immer wenn sie durch den Flur ging, fühlte sie sich auf eine unangenehme Art und Weise beobachtet.
Sie vermied es dann, in den Spiegel zu schauen und hastete daran vorbei.
Als sie Kai darauf ansprach, erwiderte er, dass sie sich das nur einbilde.

Außerdem passte der Spiegel überhaupt nicht zum Rest der Einrichtung.
Geradlinige, durchstrukturierte Möbel von IKEA. Und zum Kontrast dann dieses abstrakte Ding, mit einem dicken, vergoldeten Holzrahmen, der mit seiner geschnitzten, verschnörkelten Oberfläche Kopfschmerzen bereitete, wenn man länger hinsah. Die Oberfläche der Spiegels hatte schon ein paar Kratzer, war aber immer noch gut in Schuss.
Je länger Merle über dieses Kunstobjekt nachdachte, desto mehr gefiel es ihr und es passte trotz seiner abstoßenden Art zu den anderen Möbeln.
Aber Merle hatte plötzlich Angst, dass es nicht ihre Gedanken waren.

Auch Wochen später empfand Merle die Gegenwart des Spiegels als unangenehm.
Während Kai ihn ausgiebig nutzte, ging sie immer einen Schritt schneller vorbei und meinte, aus dem Augenwinkel heraus zu erkennen, dass sie gar kein Spiegelbild habe.

Dann eines Tages, als Kai noch auf der Arbeit war, glaubte Merle eine Stimme zu hören.
„Schau mich endlich an!“, rief eine Frauenstimme.
Merle ging der Stimme nach, die jetzt energischer wurde.  „Schau mich endlich an.“
Der Ruf kam eindeutig aus dem Flur und höchstwahrscheinlich aus dem Spiegel.
Sie stand direkt neben dem Spiegel, da sie sich nicht traute hineinzusehen und dieser sprach sehr bestimmt, aber auch verführerisch: „Jetzt schau mich endlich an!“
Merle konnte nicht anders, trat wie hypnotisiert vor das Oval und erblickte – ihr selbst. Nur schöner.
Ihre Augenringe waren verschwunden, sowie auch die leichten Krähenfüße und die Stirnfalten. Ihr Mund wirkte voller und der kleine Buckel auf ihrem Nasenrücken war weg.
Sie drehte ihren Kopf hin und her und wusste jetzt, warum Kai sich unentwegt darin betrachtete.
Merle schreckte zurück, als sie erkannte, dass ihr der Spiegel dies nur vorgaukelte.
„Warte, bleib hier!“
Merle, ganz in Gedanken versunken, bemerkte erst nicht, wie ihr Spiegelbild sich auflöste und auf dem Glas eine dunkle Leere entstand.
Dann sprach sie geistesabwesend: „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land.“ Merle kam sich albern vor, aber sie hatte die Worte schon ausgesprochen.
Ein Frauengesicht, zeitlos schön, erschien im Rahmen und antwortete mit rauer, aber melodiöser Stimme: „Geh zur Seite, ich kann nichts sehen!“
Merle wich abermals zurück.
„Kleiner Scherz, aber du bist die Schönste weit und breit!“
Merle besaß genug Selbstbewusstsein, dass sie sich selbst als hübsch bezeichnete, aber bei weitem nicht als schön. Das lag zwar im Auge des Betrachters, doch da redete sie sich nichts ein.
„Warum schmeichelst du mir?“, wollte sie wissen.
Das Gesicht grinste: „Meine Aufgabe ist es, zu motivieren. Man könnte mich auch als Coach oder Mentor bezeichnen.“ Die Frau blickte in die Luft gegen den Rahmen. „Ich gebe Tipps und versuche zu helfen.“
„Bist du ein Geist oder sowas?“
Der Spiegel wurde ernst: „Zuerst einmal ist mein Name Regina. Durch ein Unglück bin ich in diesen Spiegel geraten, aber wenn ich gute Taten walten lasse, werde ich eines Tages freikommen. Über die Jahrhunderte habe ich jede Menge Frauen wie dich kennenlernen und helfen können. Und ich bin gut in dem, was ich tue. Aber ich kann dich nicht reich werden oder berühmt werden lassen, das liegt außerhalb meiner Macht, denn darum musst du dich selbst kümmern.“
Merle war argwöhnisch: „Und warum willst du dann ausgerechnet mir helfen? Ich bin eigentlich zufrieden, mit dem, was ich habe.“
Regina rieb sich das Kinn. „Da hast du natürlich Recht. Ich habe dir mit deinem „verbesserten“ Spiegelbild schon einen Vorgeschmack auf das gegeben, was du haben kannst. Da ich hier nicht raus kann, werde ich einen Teil meiner Macht auf dich übertragen.“
Das klang zu schön, um wahr zu sein: „Gerade hast du noch behauptet, dass du so etwas nicht könntest.“
Regina entfernte sich vom Spiegel und ihr wohlproportionierter Körper in einem engen Kleid wurde sichtbar. Sie sagte etwas, was Merle aber nicht verstand. Sie machte eine fragende Geste.
„Komm näher, was ich dir zu sagen habe, ist sehr wichtig.“
Merle scheute sich. Das Ganze war ihr nicht geheuer. Aber die Neugier übermannte sie und sie kam dem Spiegel bis auf eine Handbreit nahe.
„Noch näher.“ In Reginas Gesicht dominierte ein Grinsen.
Alles in Merle befand sich in Alarmbereitschaft, doch schon zog eine unbekannte Kraft sie zur Spiegeloberfläche.
Regina schnellte heran und küsste Merle auf den Mund.
Ein Blitz zuckte aus dem Oval und Merle wurde nach hinten geschleudert. Regina ebenfalls.
Merle hielt sich den Kopf, denn er tat ihr weh. Nachdem ein Schwindelgefühl sie halbwegs verlassen hatte, zog sich an der Garderobe neben dem Spiegel hoch und sah sich um. Es fühlte sich ungewohnt, aber doch vertraut an.
Sie blickte in den Spiegel und sah, wie Regina sich ebenfalls wieder in dem zeitlosen, leeren Raum auf die Beine kämpfte. Im Gegensatz zu Merle, rannte Regina hilfesuchend hin und her und blieb doch immer auf derselben Stelle, da sich der Spiegelraum in einer anderen Dimension befand.
„Na, meine Schöne, wie gefällt dir dein neues Zuhause?“ Merle betrachtete ihr Äußeres im Spiegel und wirkte sehr zufrieden. Regina hatte mit Merle den Körper getauscht. Sie sah an sich herunter. „Dein Freund kann sich glücklich schätzen. An meine Schönheit kommt dieser Körper natürlich nicht heran. Aber ich bin ganz zufrieden. Du bist jung und sportlich. Das gefällt mir.“
Merle, die jetzt Regina war, hämmerte von innen gegen das Glas. „Lass mich hier wieder raus, das kannst du mir nicht antun!“ Sie war völlig verzweifelt.
Merle betrachte ihr Gesicht von allen Seiten. „Bemüh dich nicht. Das haben schon ganz andere probiert, aber der Spiegel ist unzerstörbar. Nur so konnte ich damals Schneewittchen und ihrer Rache entgehen.“
„Hilfe!“, schrie Merle aus dem Spiegel. Immer lauter.
„Na, na ,na. Wer wird denn da gleich so wütend sein? Ich verrate dir Liebes, was dich als nächstes erwartet. Ich werde dich und diesen Spiegel in ein Laken hüllen und in eine Kiste stecken, damit dich niemand findet. Und wenn dieser Körper alt und verbraucht ist, tauschen wir wieder zurück. Na, wie hört sich das an?“
Merle ballte ihre Hände zu Fäusten: „Wenn ich hier wieder rauskomme, werde ich dich …“
Weiter kam sie nicht, weil Regina eine Jacke über den Spiegel geworfen hatte und sie damit verstummen ließ.
Sie hängte den Spiegel ab und überlegte, was sie aus ihrem neuen Leben machen würde.
Fortsetzung folgt …
(V1)