Von Agnes Decker

Sie hatte die hellsten Augen, die ich jemals gesehen hatte. Und die kältesten. Dass Mama es solange mit ihr ausgehalten hatte, war mir ein Rätsel. Und doch schien irgendetwas die beiden so unterschiedlichen Frauen miteinander verbunden zu haben. Die unterkühlte Frau Wolf, von der ich so gut wie nichts wusste, als dass sie meiner Mutter den Haushalt führte, und von ihr mit du und Ariane angesprochen wurde. Und Mama, die quirlige, empathische, lebendige Künstlerin. Zwei wie Feuer und Wasser. Bei meinen –  viel zu seltenen – Besuchen, hatte ich den Eindruck, als wäre etwas an ihr, was nicht richtig war, als würde sie etwas verbergen.“ „Du spinnst, Anna“, sagte Mama, wenn ich mit ihr über mein Misstrauen sprach. „Ariane ist halt niemand, die ihr Herz auf der Zunge trägt. Aber für mich ist sie eine große Hilfe. Verärgere sie mir nicht.“ 

„Anna?“ Ich zuckte zusammen  

„Ja“, antwortete ich und atmete tief durch. 

„Wie wollen wir weitermachen?“ 

Ich sah mich in dem Raum um, der einmal das Herzstück des Hauses und des Familienlebens gewesen war. Beschriftete Kisten standen an der Wand , daneben gefüllte Müllsäcke und unter dem Fenster das in Einzelteile zerlegte Buffet, Mamas ganzer Stolz, das sie damals Woche für Woche, mit einem nebelfeuchten Lappen abgerieben und dann mit Orangenöl poliert hatte. Danach duftete das ganze Haus wie zu Weihnachten. Weihnachten. Meine Güte, wie lange war das letzte Weihnachtsfest her, an dem die gesamte Familie zusammen war? Zehn Jahre? Nein, es müssen mehr sein, Papa war ja schon seit zwölf Jahren tot. 

„Anna“, Frau Wolfs Stimme war rau. „Ich schlage vor, Sie sortieren die Kleidung Ihrer Mutter und ich nehme die Vorhänge ab.“

„Was?“ Nur langsam ließen meine Erinnerungen mich los. 

„Sie fragten mich doch, was als Nächstes zu tun wäre.“

„Stimmt. Entschuldigung, ich war ganz in Gedanken. Ja, Sie haben recht.“ Einmal musste es ja sein. Ich ging zögernd in die Eingangshalle, die wir wegen ihrer Höhe und der halbrunden Buntglasfenster über der zweiflügeligen Tür so nannten. Dann stieg ich die Treppe hinauf. Die Holzstufen knarrten unter meinem Gewicht. Ich musste daran denken, wie oft ich heimlich hier hinaufgehuscht war. Meine Mutter hatte mir vor ein paar Jahren gestanden, dass sie immer wach geblieben war, bis ich zurückkehrte. Von der Disco oder einem Rockkonzert. Oft war es früher Morgen. Sie hatte nie darüber gesprochen. 

In der oberen Etage befanden sich das Elternschlafzimmer, zwei Kinderzimmer und Mamas „Allerheiligstes“, dessen ich Tür ich jetzt öffnete. Ich musste an all die Geschichten denken, die ich gelesen hatte, in denen in solchen Momenten ein Sonnenstrahl die Staubpartikel tanzen ließ, ein Hauch Parfüm noch in der Luft hing. Hier war nichts von dem. Es roch muffig, als hätte lange Zeit niemand mehr gelüftet. Ich ging zum Fenster und riss es auf. Die hereinströmende Luft konnte den Geruch nach Staub und Alter nicht vertreiben. Die Möbel waren mit einer dicken grauen Schicht bedeckt, auch ihr kleiner Schreibtisch aus Eichenholz, dessen Schubladen sie immer sorgfältig verschlossen hatte. Vorsichtig ließ ich mich nieder. Holzstuhl hatte geschwungene Lehnen und einen mit rot-blau-goldenem Gobelin bezogenen Sitz. Eine Staubwolke wirbelte auf und ich musste niesen. Als ich zärtlich über die Schreibtischplatte fuhr, hinterließ meine Hand eine breite Spur. Das Holz fühlte sich glatt an, warm und lebendig. Und sehr vertraut. Ihn würde ich mitnehmen, ihn auf jeden Fall.

 „Ich hoffe, es ist ok. für dich“, flüsterte ich, als ich nach der ersten Schublade griff. Wieder schwappte die Trauer hoch und die Sehnsucht nach ihrer Wärme, ihrer Klugheit und nach allem, was sie ausgemacht hatte. Ich hielt einen Moment inne. Dann zog ich vorsichtig an der Lade. Es roch nach altem Papier.  Sie war nicht verschlossen. Irgendwie, warum auch immer, hatte ich das erwartet. Dass sie mir Zutritt gewähren würde zu ihrem Leben. Obenauf lag ein Briefumschlag. „Nach meinem Tod zu öffnen“, stand mit Mamas gleichmäßiger, etwas schnörkeliger Schrift darauf, und darunter: „für meine Tochter Anna“. Ich musste schlucken. „Meine Tochter Anna“. Jetzt war ich niemandes Tochter mehr. 

Als ich den Umschlag öffnete fielen ein paar Fotos heraus. Ich nahm das erste in die Hand. Mama und Frau Wolf an einem Strand, hinter ihnen das blaue Meer. Sie lachten und hielten sich an den Händen, wie Kinder. Sie sahen jung und glücklich aus. So jung, dass es zu der Zeit aufgenommen worden sein musste, als Papa noch lebte. Außer den beiden war niemand dort. Wer wohl das Foto gemacht hatte? Und warum sie sich wohl an den Händen hielten? Auch auf den anderen Fotos waren die zwei Frauen zu sehen, immer fröhlich und nah beieinander. Auf einem Foto küssten sie sich, Mama und Frau Wolf. Frau Wolf und Mama. Das war also das Geheimnis, das ich gespürt hatte. „Warum hast du mir nichts davon gesagt? Hattest du kein Vertrauen zu mir? Dachtest du, ich würde dich dann nicht mehr lieben können? Ach Mama.“ Ich umklammerte das Foto wie einen Anker, gleichzeitig riss mich eine Welle aus Trauer, Wut und Liebe mit. Mir war schwindlig. Ich warf das zerknitterte Foto auf den Tisch. Wollte weg. Raus hier. Mich sammeln. Als ich aufstand, schwankte ich ein wenig. 

Neben dem massiven Kleiderschrank aus Eichenholz hing der riesige Spiegel. Er nahm die halbe Wandfläche ein und hatte einen Rahmen aus, teils schon abgeblätterten, vergoldeten Ranken und Blüten. Irgendetwas zog mich an, ließ mich innehalten, obwohl ich gerade noch weglaufen wollte. Ich wischte mit dem Ärmel über die verschmutzte  Fläche, bis ich mich sehen konnte. Hier hatte sie also gestanden und sich betrachtet. Mein Gesicht war blass und eine schweißnasse Locke klebte auf meiner Stirn.  Mit meiner Jeans und dem pinkfarbenen T-Shirt schien ich nicht richtig hierhinzupassen. 

Wie lange ich mich anstarrte, weiß ich nicht mehr. Irgendwann verschwammen meine Konturen. Mein Herz klopfte und ich zitterte. Auch meine Gesichtszüge zerflossen – wie Eis, das in der Sonne schmilzt.  Schließlich war dort, wo ich vorhin zu sehen war, nur noch ein Loch. Als hätte mich jemand herausgeschnitten. Was passierte da?  War es so, wenn man verrückt wurde? War alles zu viel gewesen in der letzten Zeit, Mamas Tod und das unendlich tiefe, schwarze Loch, das sie hinterlassen hatte? Plötzlich bewegte sich etwas im Hintergrund. Eine Gestalt formte sich. Sie war klein und ging gebeugt, langsam, als wäre jeder Schritt eine Anstrengung. Je näher sie kam, desto größer wurde sie. Auch schien sie jünger zu werden, richtete sich auf, die Taille wurde schmal, die Brüste voll. Dann formten sich die Gesichtszüge. Es war so, als würde jemand sie aufmalen, zuerst den Mund, dann die Nase und zum Schluss die Augen.

„Mama“, rief ich. Doch die Gestalt, die jetzt aussah wie meine Mutter als sie in meinem Alter war, antwortete nicht. Wortlos kam sie näher, immer näher. Bis sie dort stand, wo ich zuvor gestanden hatte. Ihr Körper überlagerte das Loch, verschmolz damit zu einem Wesen. Ich erkannte mein Gesicht in ihrem, spürte sie, ihre Wärme, ihre Liebe, ihr ganzes Sein. Und begriff. 

 

„Anna!!!“ Frau Wolf tauchte plötzlich neben uns auf. „Anna. Was ist passiert?“

„Sie ist hier“, rief ich. „Hier im Spiegel.“

„Sie, Sie… “, Frau Wolf starrte mich an. „Ich dachte gerade…“ Sie war ganz blass geworden. „Sie sehen ihr sehr so ähnlich.“

„Ich habe Mama gesehen. Im Spiegel. Und die Fotos gefunden. Wie war das mit Ihnen beiden? Erzählen sie es mir. Alles. Bitte.“ Ich schleuderte ihr die Worte, ohne nachzudenken, entgegen.

„Kommen Sie“, sagte  Frau Wolf und zog mich mit sich. Wie in Trance folgte ich ihr. An der Türschwelle drehte ich mich noch einmal um. Aber da war niemand mehr. Der Spiegel war leer.

In der Küche stellte Frau Wolf eine Tasse vor mich hin auf den Tisch der, gemeinsam mit zwei Stühlen das letzte Mobiliar in dem schon ausgeräumten Zimmer war.  „Wollen wir uns nicht duzen? Wir sind doch beide erwachsene Frauen und fast sowas wie miteinander verwandt. Dass ich Ariane heiße, weißt du ja schon.“ Sie streckte mir ihre Hand hin, die sich warm und feucht anfühlte, als ich sie in meiner hielt. Ich ließ sie schnell wieder los.

 „Ok., Ariane also. Meinetwegen“, sagte ich.

 „Deine Mutter“, fing Ariane an, räusperte sich und sprach weiter. „Deine Mutter und ich waren ein Paar, schon lange Jahre. In der Zeit, als wir zusammenkamen, war es gefährlich und unmöglich offen zusammenzuleben. Und dann später… Ich hätte mich geoutet. Aber sie … Sie hat nicht gewollt, dass jemand davon erfährt. Es ist unser Geheimnis, hat sie immer gesagt, wir gehören nur uns.“

„Seit wann… Ich meine, wie lange…“, stotterte ich.

„Ach du liebe Zeit, eine Ewigkeit schon, seit ihrer Heirat. Wir haben uns in meiner Praxis kennengelernt. Ich bin Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, hatte eine eigene Praxis. Sie war meine Patientin, ein Menschlein voller Ängste, am meisten vor sich selbst. Ich wollte sie auffangen, ihr helfen, habe alles für sie aufgegeben und bin bei ihr geblieben, weil ich sie so sehr liebte.“ Jetzt lächelte sie. Dann wurde sie wieder ernst.

„Aber ich habe sie nie wirklich verstanden. Warum sie stundenlang vor dem Spiegel stand. Als würde sie auf etwas warten. Es hat ihr nicht gutgetan. Immer wieder habe ich ihr gesagt, dass sie aufhören soll. Dass es gefährlich ist, wenn man zu lange in den Spiegel schaut. Es kann zu Wahrnehmungsstörungen führen, dazu, dass fremde Gesichter, Monster, Verstorbene oder andere Bilder erscheinen. Sie hat nicht auf mich gehört. Stand da und starrte sich an. Irgendwann hat sich ihr Geist verirrt, ist abgetaucht in Abgründe, aus denen sie nicht mehr zurückgekehrt ist.“

„Sie war da. Ich habe sie gespürt, alles war plötzlich so klar, sie, ihr ganzes Leben. Ich weiß nicht wie ich es erklären soll“, stotterte ich.  

Arianes Gesicht hatte plötzlich etwas Weiches. „Vielleicht hat sie darauf gewartet, Anna, die ganze Zeit. Dass jemand sie erkennt. Vielleicht hat sie jetzt endlich ihren Frieden gefunden.“

 

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