Von Brigitte Noelle

Meine Mutter war mit Leib und Seele Archäologin und forschte die Hälfte der Jahres in der geschichtsträchtigen Erde des Irans. Mein Vater stammte  aus diesem Land und fühlte sich aufgrund der Tatsache, direkter Nachfahre Zarathustras zu sein, berechtigt, auf seine Mitmenschen herab zu blicken. Dazwischen reiste er in der ganzen Welt herum und montierte hydraulische Anlagen. So war entweder Mama oder Papa oder beide gleichzeitig in der Weltgeschichte unterwegs. Ich hielt uns für eine vollkommen normale Familie, denn ich kannte keine andere. 

Da meine Eltern wenig Zeit für meine Erziehung erübrigen konnten, war ich meistens mir selbst überlassen und wuchs weitgehend frei, unwissend und rudimentär versorgt von meiner zerstreuten Großmutter auf. Mitgeben konnten meine Eltern mir wenig: Das eine war mein Aussehen, auf das ich gerne verzichtet hätte: Mit meinen feuerroten Haaren und dem Gesicht, das schon in meiner Kindheit wirkte wie das eines alten Mannes, bot ich keinen einnehmenden Anblick. Und das andere – doch davon später.

Als ich eingeschult wurde, kam mir der Verdacht, dass bei mir etwas anders als bei meinen Klassenkollegen sei. Sie standen in Gruppen herum, spielten, sprachen, lachten und lernten miteinander. Doch mir gingen sie aus dem Weg. Im Turnunterricht machten sie einen Bogen um mich herum und akzeptierten mich nur widerwillig als Trainingspartner. Kam ich ihnen in die Nähe, wirkten sie weniger feindlich als verängstigt. Ich erinnere mich noch mit Bitternis daran, dass ich ein Mädchen aus der Parallelklasse im letzten Moment auffing, als sie auf der Treppe stolperte. Scheu bedankte sie sich und rannte davon, als ob der Teufel hinter ihr her wäre. Ich sah ihr traurig nach und fragte mich, was ich falsch gemacht hätte.

So fühlte ich mich während meiner Schulzeit, als ob ich ein verirrt treibendes Herbstblatt auf einem unendlich weiten See wäre.

Doch eine Gabe hatte ich allen anderen voraus; ich entdeckte sie zufällig. Als ich in der Pause wie so oft alleine im Klassenzimmer saß, zog ein Gewitter auf. Gedankenverloren starrte ich den grünen Tafelschwamm an, als ein Blitz aufzuckte und gleich darauf ein Donner den Raum scheinbar entzwei riss. In diesem Moment erkannte ich das Bewusstsein dieses Schwammes: Seine Zeit als junger, sauberer Schwamm, seinen Stolz, sich nützlich machen zu können, die Empörung, von übermütigen Schülern als Wurfgeschoß verwendet zu werden, und schließlich der Abstieg zu einem labbrigen, formlosen Gebilde, das demnächst reif für die Mülltonne sein würde. All das vollzog sich innerhalb weniger Augenblicke. Als sich ähnliches mit anderen Gegenständen wiederholte, verstand ich: Bei Gewitter konnte ich Gegenstände „lesen“. Das war das zweite Vermächtnis meiner Eltern.

Die Schulzeit war wenig verlockend und ich entschied mich, so rasch wie möglich eine Lehre zu beginnen. Und zwar als  Metzger. Seit jeher faszinierte mich der Anblick des rohen Fleisches. Und nebenbei: Blutiges Steak und Beef Tartar gehören zu meinen Lieblingsspeisen.

Als ich 19 Jahre alt war, starben meine Eltern: Mein Vater besuchte Mama in der Grube, in der sie eine 3000 Jahre alte Schicht archäologischer Funde untersuchte. Es zog Regen auf und er wollte sie rechtzeitig mit einem Schirm abholen. Allein, er kam zu spät. Auf ihre Köpfe prasselten Hagel und Starkregen herab, der mit der Zeit die Grube füllte. Dazu spülte er den Abraum zurück in die Vertiefung. Alles ging so schnell, dass jede Hilfe zu spät kam. Sind sie vom Hagel erschlagen, vom Wasser ertränkt, vom Erdreich erstickt worden? Ich habe es nie erfahren. Da durch das Unwetter das Gebiet tagelang nicht erreichbar war, wurden sie an Ort und Stelle begraben.

Nun war ich unversehens ganz alleine auf dieser Welt, in der ich mich fühlte wie ein seltenes, gefährliches Tier, und ich fragte mich, was das Leben mir noch bieten könne. Freundschaften, gar Liebe? Unwahrscheinlich. Geld, Erfolg? Wie denn? Ich versuchte eine Art Zwischenbilanz zu ziehen: Ich hatte einen sicheren und interessanten Beruf, keine Existenzsorgen. Außerdem las ich viel. Mein Lieblingsthema war, vielleicht beeinflusst durch meine Eltern, die orientalische Mythologie mit ihren blumigen und fantasiereichen Traumwelten. Liebliches und Schreckliches befand sich nebeneinander zwischen zwei Buchdeckeln. 

Doch war das alles? Ich, ein verqueres Produkt der Verbindung zweier so außergewöhnlichen Menschen? Ich ertappte mich immer öfter dabei, allein zu Hause grundlos in Tränen auszubrechen.

Eines Tages stöberte ich nach der Arbeit mehr lustlos als interessiert auf einem privaten Flohmarkt in der Nachbarschaft. Was sollte denn all das – unter dem Gerümpel würde sich kaum ein Freund für mich finden, kein Lebensziel und erst recht keine Identität. Da erblickte ich ihn: Dreiteilig, mit elegant geschwungenen Flügeln und an den Rändern anmutig mit Blumen aus Muranoglas verziert. Zugegeben, die waren schon etwas abgesplittert und an einigen Stellen fehlten sie ganz. Doch es war mir klar: Diesen Spiegel musste ich haben! Ich konnte von Händler sogar einen günstigen Preis aushandeln und trug meine Errungenschaft stolz nach Hause in die Wohnung, in der ich nun alleine lebte und die so groß und leer wirkte. Lange hatte ich indes keine Freude mit meiner neuen Errungenschaft. Als ich nachts das Licht ausschaltete, erhaschte ich im Augenwinkel ein flüchtiges Bild im Spiegel. Nur einen Moment, dann war es dunkel. Ein angsterregender, grauenvoller Anblick. Was könnte es gewesen sein? Hier gab es doch  nichts und niemanden, nur mich alleine … Vermutlich war es eine optische Täuschung. Die beiden Flügel schloss ich trotzdem über der Spiegelfläche, noch vor dem Zu Bett gehen. So schön er war, dieser Spiegel war mir unheimlich. Dies umso mehr, als an einem drückend heißen Sommertag ein Gewitter niederging. Das erinnerte mich an die letzten Minuten meiner Eltern und ohne daran zu denken, starrte ich dabei den verdeckten Spiegel an. Die Erkenntnis traf mich jäh: Im 17. Jahrhundert von einem venezianischen Alchemisten gefertigt, konnte er das innere, verborgene Wesen derer, die sich in ihm spiegelten, zeigen. Es schien so, als ob er mir zurief: „Schau mich an! Wolltest Du nicht immer wissen, was dich von deinen Mitmenschen trennt? Was dich dein Leben lang zur Einsamkeit verdammt hat? Komm näher, stell dich mir und dir von Angesicht zu Angesicht!“ Schaudernd wandte ich mich ab. Eigentlich hätte ich ihn sofort verkaufen, verschenken sollen. Aber vielleicht … Es schien mir, als ob ich fortan mit einem gefährlichen und gleichzeitig verführerischen Ungeheuer zusammenlebte.

Die Monate verstrichen, der Schmerz über den Tod meiner Eltern wuchs in meine Seele ein wie ein Nagel in einen Baum: Er spürt einen leichten Druck, nicht mehr den ersten stechenden Schmerz.

So begann ich nach und nach die Hinterlassenschaft von Mama und Papa zu sichten und teilweise fortzugeben. Doch Mamas Tagebücher wollte ich keinesfalls wegwerfen. Mit Spannung begann ich zu lesen und mit jeder Seite bewunderte ich mehr ihren Mut, ihre Zielstrebigkeit und ihre Kraft. Auch wenn wir oft getrennt voneinander waren, hatte ich mich ihr immer sehr vertraut und nahe gefühlt.

An einem windig-feuchten Herbsttag, der die Blätter am Fenster vorbei wehte, las ich von einem ihrer Erlebnisse: Sie hatte ein Relief freigelegt, das eine Reihe scheußlicher Fabeltiere zeigte. Dabei wurde sie – man soll es nicht für möglich halten – von ihren Mitarbeitern vergessen und musste die Nacht in diesem halb verfallenen Tempel zubringen, nur in der Gesellschaft steinerner Löwen,  Dämonen und Mantikoren. Kein Wunder, dass sie bald darauf eine Auszeit nahm und mit meinem Vater einen ausgedehnten Urlaub in einer kleinen Pension in der Südsteiermark verbrachte. Mama hatte gerne von diesen glücklichen Tagen erzählt, denn knapp neun Monate nach ihrem romantischen Zusammensein wurde ich geboren.

Ich stand auf, öffnete das Fenster und atmete die frische Herbstluft ein. Was hatten nicht meine Eltern, hatten unzählige Menschen Schlimmes erlebt? Und ich fürchte mich vor einem Spiegel? Vor meinem Abbild? Vor mir – selbst? 

Draußen hatte der Wind inzwischen zugenommen, und der Sturm riss mit dem dürren Laub auch den dumpfen Schleier meiner Versponnenheit mit sich.  „Soll ich mein Leben lang in Angst und Unsicherheit verharren? Es hilft nichts, ich muss mich der Wahrheit stellen, so schlimm sie auch sein kann.“ Gedacht und getan war eins. Entschlossen öffnete ich den Spiegel und mich dem Anblick meines eigentlichen Wesens.

Nein!

Ich?

Vielleicht?

Doch. Kein Zweifel.

Jetzt verstehe ich!

Diese Angst.

So viele Zähne!

Der – mein – Körper eines roten Löwen.

Tödlich der Schwanz mit dem Skorpionstachel.

Ich.

Der Mantikor.

 

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