Von Matthias Herrmann

Als Holger im Wartezimmer seines Therapeuten saß, fiel ihm die aktuelle Ausgabe der Psychologie heute in die Hände. Lustlos durchblätterte er das Magazin, war schnell bei den Kleinanzeigen angelangt. Gerade als er das Heft gelangweilt weglegen wollte, fiel ihm eine Überschrift ins Auge: „Du leidest an Projektionen? Dann melde Dich jetzt an. „Projektionenfrei“ sucht Testpersonen. Gratis!“

 

Er hieß Holger, arbeitete in der Finanzverwaltung und malte in seiner Freizeit Stillleben.  Und er hätte gerne Freunde gehabt, die ihn Holgi nannten. Doch leider hatte er keine Freunde. Schuld daran war sein Vater. Davon war Holger überzeugt. Er hatte Holgiholger als Kind nie gelobt, nie in den Arm genommen, sondern nur klein gehalten, kritisiert, entmutigt. 

Jetzt arbeitete Holger sich schon seit Jahren an den Folgen dieser Erziehung ab. Erst allein, dann mit Hilfe verschiedenster Therapeutinnen und Therapeuten. Leider erfolglos. Denn nach all den Jahren in diversen Behandlungsformaten sah er immer noch in allen Männern seinen Vater. Was hieß, dass er ihnen feindlich gegenüberstand. Mit einem gigantischen Wutklos im Bauch. 

Und nach all den Jahren kannte Holger selbstverständlich auch den Fachbegriff für dieses seltsame innerseelische Geschehen.

 

„Sie übertragen ihre unschönen Kindheitserfahrungen mit ihrem Vater auf alle anderen Männer. Das nennen wir in der Psychologie Projektion“, hatte ihm sein derzeitiger Therapeut Kurt erläutert. „Und diese Projektion führt zu Ihrer hyperaggresiven Feindseligkeit allem Männlichen gegenüber.“ 

Doch auch wenn Holger nun wusste, woher sein ewiger Stress und Streit mit männlichen Chefs oder dem Hausmeister rührte, was seine Kumpellosigkeit verursachte, ändern konnte er daran nichts. Papis Toxizität hatte sich tief in seine DNA eingebrannt. 

„Daddy, du hast den Kampf gewonnen, den ich nie wollte“, ging es ihm so das eine oder andere Mal durch den Kopf, während er eine Träne aus seinem Auge wischte. 

 

Drei Tage später klingelte der UPS-Bote und überreichte Holger das Testpaket von Projektionen frei, das er sogleich mit zitternden Händen öffnete. Der Karton enthielt fünf kompakte Spiegel etwa in der Größe eines DinA4-Blattes. In ein einem separaten Umschlag steckte ein Barcode zum Download der App, mit der die Spiegel angesteuert werden konnten. 

Die Handhabung war denkbar einfach: Zunächst befestigte Holger die neuen Spiegel mit doppelseitigem Klebeband, etwa in Augenhöhe, in Wohn- und Schlafzimmer, Küche, Bad und Flur seiner Wohnung. Dann lud er die App herunter, in die er dann die Stimme seines verstorbenen Vaters einspielte. 

Die Stimme hatte er aus alten Anrufbeantworternachrichten extrahiert. Hatte sein Vater doch die Angewohnheit gehabt, seinem Sohn minutenlange Vorträge auf seinem Anrufbeantworter zu hinterlassen, die Holger meist nach 10 Sekunden abgebrochen hatte, da er die Wut nicht ertrug, die die Stimme seines Vaters in ihm auslöste. Seltsamerweise hatte er drei, vier Nachrichten vor dessen Tod nicht mehr gelöscht. Hatte er geahnt, dass es mit den Tiraden bald vorbei sein würde und eine Art Andenken nicht schaden könnte?

Einerlei. Jetzt war alles anders, denn wenn Holger jetzt an einem der Spiegel vorbeiging, dann vernahm er tatsächlich die Stimme seines Vaters, wie sie ganz neue, noch nie gehörte, geradezu revolutionäre Worte sprach: „Holger, mein lieber Sohn, gut siehst du heute wieder aus. Du machst eine großartige Figur. Perfekter Haarschnitt. Passt großartig zu deiner markanten Kopfform!“

 Das sprach Holgers Vater mit einer Stimme – ein Hoch auf die KI-Ingenieure von Projektionen frei – der nichts Artifizielles, nichts Überlebtes und Totes anzumerken war. 

„Ach, Papa, ist das schön!“, brach es aus Holger vor dem Spiegel heraus. Diese lobenden Worte seines Vaters taten ihm so gut! Wärme durchströmte ihn, spülte alles Wissen um das Artifizielle der Situation weg.

„Mein wunderbarer Sohn! Ich bin so stolz auf dich! So stolz, wie ein Vater nur sein kann!“ 

 

Und so ging das jetzt immer, wenn Holger in den Kontaktkreis eines der Spiegel geriet. Ob beim Rasieren, Kaffee kochen, Fußball gucken, Schuhe anziehen, beim Zubettgehen. Immer erklang die warme Stimme seines Vaters, die voller Liebe mit ihm sprach.

 

Und Holger merkte, wie er sich veränderte. Sein Groll gegen alles Maskuline schwand. Seine Welt wurde immer freundlicher. Die lobenden Worte von Papi im Ohr machten Holger Mut! Ausbrechen! Aufbrechen! 

„Ich bin Papis Liebling und ich habe ein Recht dazu!“, schrieb er dick mit schwarzem Edding auf die Innentür der Personaltoilette. Und wenn er jetzt noch zögerte, beispielsweise einen Drängler an der Supermarktkasse zurechtzuweisen, dann hörte er jetzt Daddys Stimme im Ohr: „Mein Junge, du schaffst das! Lass Dir das nicht bieten!“

Ja, dann stand er seinen Mann und sorgte für Recht und Ordnung und gerade Schlangen an der Supermarktkasse.

Manchmal morgens auf dem Weg zum Amt schien es ihm jetzt, als schwebte er über die Straße, als brauchte er nur einmal mit dem Fuß aufzutippen und schon segelte er durch sein neues, perfektes Dasein. 

Und auch sein Sozialleben nahm plötzlich Fahrt auf: Da hagelte es Einladungen zu Skat- und Doppelkopfabenden, Dauerkartenbesitzer nahmen ihn ins Fußballstadion mit, er trat einer Kegeltruppe bei. Vorher stellte er sich vor den Spiegel und badete in den achtsamen, wertschätzenden und unterstützenden Worten seines Erzeugers: „Sohn meiner Träume. Herrlichster Sohn unter der Sonne, ich werde dich immer preisen!“ 

Um dann einen Grands ohne vier zu gewinnen und alle Neune wegzuballern. Einmal, zweimal, zehn Mal an einem Abend! 

Holger wuchs. Er wuchs über sich hinaus und hatte eines Tages endlich den Mut, das Undenkbare zu tun. Und das war Inge, die minijobende Kunstgeschichtlerin an der Behördenpforte anzusprechen und zu fragen, ob sie nicht Lust hätte, am Samstag in Potsdam mit ihm die neue Impressionisten-Ausstellung im Barberini zu besuchen. Er tat diesen Schritt, die all seine versöhnte Männlichkeit erforderte, mit den Worten seines Vaters im Ohr: „Wenn du heiß bist, musst du ran gehen!“ 

Nach der Ausstellung lud er Inge noch zum Essen in ein Lokal im Holländischen Viertel ein. Das Eis war gebrochen, sie unterhielten sich blendend. Holger kam sogar mit seiner eigenen Hobbymalerei heraus, was Inge brennend interessierte: „Gleich heute Abend will ich Ihre Bilder sehen, Holger!“ 

So fuhren sie zu ihm. Sie feierte seine Bilder. Man trank noch einen Wein, kam sich nahe, küsste sich und landete justament im Schlafzimmer, wo plötzlich eine Stimme erklang: „Mensch, Sohnemann. Da steht ja einer Bombe! Ganz der Vater! Hahaha!“ und die Stimmung verdarb. Holger hatte in den übrigen Räumen die Sprachfunktion der Spiegel ausgeschaltet. Das Schlafzimmer hatte er leider vergessen.

„Du Perverser!“, schrie Inge nur und stürzte davon. Holger ihr hinterher. Erklärungen stammelnd.

 

Drei Tage sprach ihn die Hauswartsfrau an, ob er auch schon das Gerücht von der sprechenden Restmülltonne im Hof gehört hatte. 

„Holger, jetzt sprich mit mir! Lass doch die Frau. Hier ist dein Papi!“ hieß es, konnte man da vernehmen.

 

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