J. W. Anders
Dieses Dachboden-Fundstück seines Cousins! Obwohl nur in Schwarzweiß und noch dazu vergilbt, weiß Kai genau: die hellen Augen, in die er starrt, sind von wässrigem Blau.
Es gibt ein Foto seines Opas mit Kapitänsmütze auf dem schütteren Haar und der Pfeife schräg im Mund. Der Vater machte auch von Kai – damals gerade acht Jahre alt – eine Aufnahme mit gleicher Kopfhaltung, Mütze, allerdings ohne Pfeife. Später hätte er den Quatsch vielleicht nicht mehr mitgemacht, doch damals war Kai unglaublich stolz auf dieses Foto.
Wenn er an den Opa denkt, dann trägt dieser die speckige Mütze. Die verwaschen wirkenden Augen zwischen Runzeln, die in der Tiefe heller sind als die umliegende Haut, blicken geduldig; die immer noch vollen Lippen lächeln und die Pfeife steckt im Mundwinkel. Da er ihn nur erlebte, wenn er eine Woche im Sommer bei seiner Tante in Norddeutschland verbrachte, ist sein Großvater nicht viel mehr als dieses Bild. Hat er ihm die Tränen getrocknet, wenn er hinfiel; seine Hand gehalten, wenn er Angst vor dem Hofhund hatte? Er und sein Cousin saßen zum Fernsehen in Opas kleinem Zimmer, doch in seiner Erinnerung schweigt dieser und saugt an der Pfeife.
Den anderen Großvater hat er nie kennengelernt. Dieser starb vor seiner Geburt, ebenso wie die beiden Großmütter, und kam in keiner Erzählung vor. Überhaupt: Seine Eltern redeten fast nie über ihre Kindheit und wenn, dann nur aus erzieherischen Gründen. Geschichten über Magenknurren; Frieren in abgetragener Kleidung; im Sommer barfuß laufen, damit die Schuhe nicht abgenutzt werden und schon als Kind zum Unterhalt der Familie beitragen – sie lagen wie Blei in Kais Magen. Bedeuteten: „Du bist nicht dankbar genug, machst uns nicht stolz genug …“
Bereits erwachsen stößt er bei der Suche nach einem Geschenk auf einen Bildband über den zweiten Weltkrieg. Der erste Impuls ist, das Buch wegzulegen – ohne Bedeutung für ihn. Zu lange her. Von den Eltern nie erwähnt. Im Gymnasium als Unterrichtsstoff nur kurz gestreift. Hat vielleicht irgendwo stattgefunden, jedoch nicht in ihrer kleinen, beschaulichen Welt
Doch dann siegt die Neugier. Hastig schlägt er den Band in der Mitte auf. Sein Atem stockt, seine Hände werden feucht. Er muss sie an der Hose abwischen. Erschreckende Fotos, selbst in Schwarzweiß.
In diesem Moment dämmert ihm, weshalb er den alten Nachbarn nicht hat anstarren sollen, wenn er auf dem Schulweg an dessen Garten vorbeikam. Dabei wirkte der unförmige Kopfverband, der nur Augen und Nasenpartie freiließ, sehr erschreckend auf ihn. „Frag nicht!“ Damit ließ ihn seine Mutter stehen. Ebenso wenn sie bei den samstäglichen Sirenenübungen erstarrte. „Frag nicht!“
Kanonenfutter! Die Bilder von verletzten und verhärmten Soldaten, von fehlenden Gliedmaßen und Gesichtszügen, verhaken sich in seinen Gehirnwindungen. Das war gar nicht so lange vor meiner Geburt, denkt er. Ab sofort verfolgt er jede TV-Dokumentation, hört die brüchigen Stimmen Betroffener, ahnt die ungeweinten Tränen in den müden Augen. Das Schweigen seiner Eltern bekommt eine eigene Klangfarbe, als lägen Misstöne darunter.
Endlich nimmt er sich vor, sich beim nächsten Besuch über all die „Frag nicht!“ hinwegzusetzen. Schon Tage vorher leidet er unter den üblichen Magenschmerzen. Konfrontation kann er nicht, schon gar nicht bei seinen Eltern.
Jeder Schritt vom Auto bis zur Wohnungstür ist bleischwer; bietet die Möglichkeit zur Umkehr. Trotz Übelkeit, trotz innerem Zittern, klingelt er. Ihre Umarmungen sind ein Ritual, genauso wie der Small Talk. Er kann nicht ruhig sitzen, reibt die Hände an der Hose, vermeidet Blickkontakt. Unterbricht abrupt die Geschichten aus der Nachbarschaft, um von dem zu berichten, was er inzwischen herausgefunden hat.
„Das ist die Zeit eurer Kindheit und Jugend“, sagt er. „Das kann doch nicht so an euch vorüber gegangen sein. Erzählt mir, was ihr damals erlebt habt.“
„Frag nicht!“, antwortet die Mutter. Wie üblich.
„Das hat doch heute keine Bedeutung mehr“, behauptet der Vater.
Da ist sie wieder, die Mauer zwischen seinen Eltern und ihm. Eine dicke Glasscheibe, eine Scheibe aus Panzerglas. Wann immer er versucht hat, sie zu durchbrechen, prallte er daran ab. Er hat seine Eltern nie erreicht.
„Natürlich hat das eine Bedeutung – für mich. All diese Kriegsnachwehen waren in meiner Kindheit noch spürbar. Nur konnte ich sie nicht zuordnen, weil nie darüber gesprochen wurde. Ich will das jetzt endlich klären. Für mich selbst.“
Da ist Entschlossenheit in seiner Stimme, die er sich selbst nicht zugetraut hätte. Doch er hat genug vom Schweigen, vom Hinhalten. Diese Geschichte gehört auch zu ihm, hat ihn mehr beeinflusst, als ihm früher klar war.
Seine Eltern schütteln den Kopf, beginnen zögernd. Worte zu sperrig, zu scharfkantig quälen sich durch die Kehlen. Plötzlich bricht der Damm und die Sätze fließen als reißender Strom.
„Sirenen … in der Nacht…“, „… Kellerdecke brach ein …“, „Nachbarskinder … nicht spielen … abgeholt!“, „… Kartoffelfeld … Tiefflieger hinter uns … Graben …“, „Erhängter im Baum … Schild Verräter …“, „Nichts sehen, nichts sagen!“, „Volkssturm … älterer Bruder … nicht zurück.“
Der Boden schwankt nicht, die Welt geht nicht unter. Auch wenn Kai in diesem Strom bisher verbannter Erinnerungen zu ertrinken droht. Er spürt es bis tief in seine Eingeweide: Krieg hat ein grausames Gesicht. Und einen langen Nachhall.
Diese elende Rechtschaffenheit und Biederkeit seiner Kindheit; diese Enge, die ihn nicht atmen ließ; das materielle Denken; diese Fassade des Glücks. Die gesamte – irgendwie schale – Idylle seiner Kindheit beruhte auf Verdrängen. Auf Schweigen. Ja, dieses Schweigen, das hat ihn und seine Eltern getrennt, besser als jede reale Grenze, gekrönt mit Stacheldraht.
Sie umarmen ihn zum Abschied. Kai lässt es zu, wie immer. Hat er dieses Mal das Panzerglas durchbrochen? Zumindest hat er einen Riesenpacken an Informationen zum Nachdenken.
Und nun, beim Entrümpeln des Hofs seiner Tante, dieses Fundstück. In einem alten Schrank auf dem Dachboden unter jeder Menge Gerümpel verborgen – wirklich vergessen? – ein gerahmtes Schwarzweiß-Foto: Großvater als junger Mann. Unverkennbar die gewohnten ausgeprägten Wangenknochen, hellen Haare und vollen Lippen. Keine Pfeife und auch kein Lächeln. Stattdessen ein entschlossener Blick, den er vom Opa niemals erwartet hätte. Dazu eine Uniform mit Abzeichen.
Kais Cousin recherchiert im Internet und reicht wortlos das Handy weiter. Ihr Großvater, dieser stille langmütige Mensch, war nach diesem Zeitdokument Gefreiter der Fliegertruppe. Das Foto muss am Anfang seiner Dienstzeit entstanden sein, doch auch sein Cousin, der neben dieser Geschichts-Quelle aufwuchs, wusste nichts über den Kriegsdienst ihres Großvaters.
Am Abend duscht Kai ausgiebig. Versucht, mehr als nur Schweiß und Staub abzuspülen. Doch die Vergangenheit versickert nicht im Abfluss. Nicht die Einsamkeit, der Zorn, die Zweifel. Er steigt aus der Duschkabine, trocknet sich ab und zögert. Der beschlagene Spiegel scheint nach ihm zu rufen. Eine Aufforderung, genau hinzusehen. Langsam schält sich sein Gesicht aus dem Nebel, schimmert das Licht auf dem zurückweichenden Haaransatz, werden die Schatten unter den Wangenknochen deutlich. Er wendet den Kopf hin und her. Wie bei seinem Großvater.
Der Nebelschleier schwindet endgültig. „Sieh mich endlich an!“ Kai starrt sich in die Augen. Mustert die wässrige Farbe, die feinen Linien in den Iriden. Er dachte immer, er kenne sich selbst. Doch er weiß nur, was er getan – oder nicht getan hat. Wozu er fähig wäre – nein, das weiß er nicht! Auch wenn er sich als Junge beim Lesen seiner Abenteuergeschichten wegträumte und sich vorstellte, dass er als Held Bösewichte verfolgen und die Welt retten würde.
„Frag nicht!“ Doch! Inzwischen fragt er.
Er nickt sich zu und nimmt eine fiktive Pfeife aus dem Mundwinkel.
Der Mensch ist vielleicht ein Zoon Politicon, wie vor langem im Geschichtsunterricht gelernt, jedoch definitiv kein friedliches Wesen. Den Beweis liefern die TV-Nachrichten täglich. Auch irgendwo in seinen eigenen Tiefen lauert das vielköpfige Monster und könnte sich erheben.
Trotz dieser sanftmütig blickenden blauen Augen.
V1, 8130 Zeichen
