Von Eva-Maria Schaack
In einem großen, weiten Land voll wilder Natur, prunkvollen Städten und unschätzbarem Reichtum an Bodenschätzen, lebte einmal ein Präsident, ja ein Herrscher, dem all das nicht genug war. Voller Hass, Neid und unstillbarer Gier nach immer mehr Macht saß er unzufrieden da, sodass er auch nicht mehr davor zurückschreckte seine Bürger zu belügen, sie in ihrem eigenen Gedankengut und Willen zu knebeln, einzusperren, ja auch noch zu töten, wenn ihre Meinung von seiner Eigenen abwich. Er machte sein Volk mundtot, doch auch das reichte ihm nicht.
Sein Palast und seine anderen Besitztümer Strotzten nur so vor Prunk, doch eines in seinen Räumlichkeiten war eher schmucklos und bescheiden in seinem Ansehen. Es war ein großer hölzern gerahmter Spiegel, nur verziert mit kleinen floralen Schnitzereien. Dieser Spiegel war schon immer im Schlafgemach des Herren, der nicht einmal selbst wusste, woher er kam. Der Mann des Hauses sah niemals hinein, denn sein Gewissen brannte unter der Haut und in jeder einzelnen Zelle seines Körpers so arg, wenn er an dem prunklosen Ding vorüberging. Sonst, wo der Präsident des reichen Landes sich auch aufhielt, stieß er sein Gewissen einfach von sich, stieß es aus seinen Gedanken, bis es wieder still war und ihn nicht in seinem Tun beeinflusste.
Sein eigenes Reich war ihm irgendwann so sehr zu wenig, dass er sich das Nachbarland aneignen wollte. Natürlich wollte der Herrscher dieses Landes nichts davon abgeben und so begann ein schrecklicher Krieg, in dem unendlich viele Menschen beider Seiten, auf ganz abscheuliche Weise, ihr Leben verloren. Dieser Krieg begann zu Ende eines Winters und dauerte viele Jahre an und darin wurden die modernsten und fürchterlichsten Kampfmittel verwendet. Man munkelt sogar, dass fliegende Waffen eingesetzt wurden, kaum vorstellbar, was damit Schreckliches angerichtet wurde.
Eines Tages jedoch, an einem frühlingshaften Tag, der Präsident hatte sich soeben sehr edel angekleidet, ging erst ohne Beachtung an dem holzgerahmten Spiegel vorbei, doch als er ein Flüstern vernahm, hielt er einen Augenblick inne. Er dachte einen Moment, dass diese leise Stimme vom Spiegel herkam und so ging er einen Schritt zurück um sich doch zu vergewissern, dass ihm sein Gehör einen Streich gespielt hatte. Dann hörte er abermals diese Stimme, die dieses Mal deutlich sprach: „Schau mich endlich an!“ Der Spiegel selbst sprach zu dem Präsidenten, was diesen außerordentlich erstaunte. In einem Moment der Unachtsamkeit blickte der Herrscher direkt in die spiegelnde Fläche und war mit diesem Augenblicke angewurzelt, mit seinen Füßen und ebenso mit seinen Augen. Er konnte jetzt nicht mehr sein Gewissen wegschieben, wie er es sonst getan hatte, sondern fühlte diesen heißen Schmerz in der Brust mit voller Wucht. Er spürte auch all die Schmerzen und das große Leid, welches seine Soldaten, dessen Familien, aber auch von allen Menschen denen er andere Grausamkeiten zugefügt hatte, ja sogar die der Gefallenen und dessen Familien des Nachbarlandes.
Den ganzen Tag und auch die folgende Nacht stand er vor dem Spiegel, litt allein und konnte sich nicht fortbewegen. Niemand von seinen Gefolgsleuten mochte ihm helfen, weil er ja auch diese immerzu schlecht und ungerecht behandelt hatte. Am neuen Morgen, genau zu derselben Minute des Vortages, wurde der Präsident vom Spiegel losgelassen. Er brach in sich zusammen und weinte bitterlich, weil ihm erst jetzt bewusst war, was er seinem eigenen Volke und auch dem des Nachbarlandes angetan hatte.
Von diesem Tage an war er ein großzügiger, lustiger, ja sogar liebevoller Herrscher seines wundervollen Reiches. Seine Bürger verziehen ihm irgendwann seine fürchterlichen Taten. Es kann sogar sein, dass einige Menschen ihren Präsidenten letztendlich ein wenig mochten. Er ging sogar so weit, dass er das Land, welches er erobern wollte wieder aufbauen ließ. Er kümmerte sich fürsorglich um die allein zurückgebliebenen Frauen, Kinder und Eltern der gefallenen, sodass die Menschen dort zu späterer Zeit, in ihren Geschichtsbüchern nicht nur Schlechtes über den einstigen Besetzer ihres Landes lasen, sondern auch sehr viel Gutes und Beeindruckendes. So manch einer behauptet sogar, dass zwischen den zwei Ländern so etwas wie eine Freundschaft gab, doch ob das wohl wirklich stimmt?
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