Von Ursula Kollasch

Manchmal frage ich mich, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich den Mantel letzten Sommer nicht gekauft hätte. Und wie das alles überhaupt möglich sein kann. Aber am besten erzähle ich von Anfang an.
Es geschah am Samstag, 8. Juli, die Hitzewelle hatte mit 35 Grad ihren Höhepunkt erreicht. Mittags gönnte ich mir einen Eisbecher im Schatten auf dem Marktplatz. Auf dem Heimweg betrat ich aus einer Laune heraus den Second Hand Laden. Darin war es warm und muffte leicht nach alten Klamotten. Ich war nicht auf der Suche nach was Bestimmtem. Doch dann entdeckte ich diesen edlen, in Grüntönen changierenden Wintermantel. Trotz seiner Dicke war er federleicht, wirkte wie neu. Ich prüfte das Schild im Futter. Oh, von Ommy Ilfiger, meine Größe, echte Daunen! Neu würde das Teil um die 400 Euro kosten, hier jedoch nur einen Fuffi. Ich zog den Mantel an, betrachtete mich im Spiegel. Er passte perfekt, besaß die Farbe meiner Augen und harmonierte mit meinem langen braunen Haar!
Ich fackelte nicht lange und kaufte ihn. Die Verkäuferin packte mein Schnäppchen in eine große Plastiktüte und eine Melodie summend verließ ich das Geschäft.
Kurz darauf traf ich Isa, eine Bekannte. Während wir plauderten, linste sie immer wieder zur Tüte, um irgendwann zu fragen: „Sag mal, Charly, was schleppst du da mit dir herum?“
Ich zerrte den Mantel hervor, streifte ihn über.
„Tataa! Ein Ilfiger zum Schnapperpreis!“ Mit ausgebreiteten Armen drehte ich mich einmal im Kreis.
„Geiles Teil, aber musst du Zicke so angeben?“, zischte Isa.
Ich versteinerte, starrte sie an.
„Wirklich schick, gratuliere!“, sagte sie lächelnd, in viel freundlicherem Ton.
„Ernsthaft? Erst nennst du mich angeberische Zicke, dann gratulierst du?“
Nun entgleisten ihre Gesichtszüge. Sie presste ein „Muss los“ hervor und eilte weiter. Kopfschüttelnd sah ich ihr nach. Die war wohl neidisch! Oder die Hitze setzte ihr zu. Mir auf jeden Fall, denn ich ölte, schälte mich aus dem Mantel und stopfte ihn zurück in die Tüte.
Weiter schlendernd schwitzte ich trotz meines luftigen Kleides. Dachte an die Stauwärme in meiner Dachwohnung, in der es auch nachts nicht kühler wurde.
Ich werde mir jetzt einen Ventilator sowie ganz viel Eiscreme kaufen, beschloss ich und steuerte auf den Supermarkt zu. Rasch waren die Sachen gefunden, aber an den Kassen erwarteten mich lange Schlangen. Nach dem Bezahlen klemmte ich mir den Karton mit dem Ventilator unter den Arm, schmiss die drei Eisschachteln in die Tüte und rauschte hinaus, in die pralle Sonne. Da sah ich es und blieb stehen. Mist! Die Packung meiner liebsten Sorte hatte einen Riss. Wenn das Eis auf dem Heimweg schmolz und auslief, war der Mantel versifft! Ich stöhnte. Noch mal zurück ins Gedränge, eine Tüte kaufen? Oder diese Box wegwerfen?
Ach was, nach Hause war‘s nicht weit. Also zog ich erneut den Mantel an und lief zügig, was mir verwunderte Blicke einbrachte.
Ein heißer Typ in Shorts und T-Shirt, etwa in meinem Alter, war noch schneller unterwegs, er eilte an mir vorbei.
Sexy Hintern, breite Schultern, schöne Haare, dachte ich und beschleunigte mein Tempo, um ihn von vorne zu begutachten. Außerdem musste das Eis ja fix in den Frost!
Gerade, als ich gleichauf mit ihm war, hörte ich ihn sagen: „Wie kann ich nur beweisen, dass es nicht meine Schuld war? Scheiße, die werden mich einbuchten!“
Oh, der wollte mir wohl sein Herz ausschütten. „Was war nicht deine Schuld?“
Er wandte mir den Kopf zu. „Bitte?“
Von vorne sah er auch lecker aus! Ich lächelte ihn an, versuchte, nicht zu schnaufen, während ich mit ihm Schritt hielt.
„Du sagtest, die werden dich einbuchten.“
Jetzt blieb er stehen. Ich stoppte ebenfalls. „Kein Wort hab‘ ich gesagt.“
„Doch, hast du! Also, was ist passiert?“
Ich stellte Karton und Tüte ab und wischte mir das Haar aus der verschwitzten Stirn.
 „Hübsch, aber durchgeknallt. Läuft bei der Hitze im Wintermantel ‘rum … Auch ein schlechter Zeitpunkt, um sie kennenzulernen.“
„Was murmelst du da?“
„Hab‘ nix gesagt.“
Ich trat vor ihn und bohrte meinen grünen in seinen blauen Blick: „Hübsch, aber durchgeknallt? Schlechtes Timing fürs Kennenlernen? Hörte ich ganz deutlich!“
Er wirkte völlig perplex und stammelte: „Was denke ich gerade?“
„Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen?“
„Versuch‘s.“
Er überbrückte die letzten Zentimeter mit einem kleinen Schritt und blieb ganz dicht vor mir stehen, war einen Kopf größer als ich. Obwohl er auch schwitzte, roch er sehr anziehend, das machte mich nervös. Ich hörte ihn mehrmals „gelbes Auto“ flüstern.
„Warum gelbes Auto?“
Seine Augen weiteten sich. „Ja! Du kannst meine Gedanken hören.“
„Bullshit! Was laberst du!“, blaffte ich zu heftig, weil ich Schiss bekam, ballte die Hände zu Fäusten.
„Was keift die Irre im Mantel den hübschen jungen Mann so an?“, mischte sich eine ältere Frau ein, die uns passierte.
„Halten Sie sich da raus!“, rief ich ihr nach.
„Die Frau hat auch nichts gesagt, aber wohl gedacht“, merkte mein Gegenüber an.
Mein Herz raste, mir war schwindelig, ich musterte angestrengt seinen Mund, der sich nicht bewegte, dennoch konnte ich deutlich vernehmen: ‘Abgefahrene Gabe.’
„Meinst du? Passiert mir heute das erste Mal“, erwiderte ich. „Oder du bist Bauchredner. Aber ich muss jetzt dringend den Mantel ausziehen, und das Eis ins Gefrierfach, sonst kollabieren wir beide!“
Ich zeigte auf die Boxen in der Tüte. Und damit er nicht verschwand, fügte ich hinzu: „Komm doch mit. Danach gehen wir was trinken.“
Mit Herzklopfen erwartete ich seine Antwort.
Zum Glück lächelte er, nickte. „Du bist süß!“ Hatte er das laut geäußert oder nur gedacht? Egal, bei diesen Worten wurde mir noch wärmer. Ob er auch Single war?
Ganz Gentleman half er mir aus dem Mantel, nahm mir auch den Ventilator ab und trug beides, als wir weiterliefen.
„Ich weiß nicht, was mit mir los ist“, sagte ich. „Wie kann ich das wieder abstellen? Das ist spooky! Ich will nicht wissen, was andere denken!“
„Verständlich. Ich bin übrigens Ben.“
„Charlene, aber nenn mich Charly.“
Mir ging die Begegnung mit Isa durch den Kopf, ihr unfreundlicher Satz, den sie scheinbar nicht ausgesprochen hatte.
Dann fiel mir auf, dass ich seit einer Weile nicht mehr Bens Gedanken vernehmen konnte.
Und dass er mir gar nicht erzählt hatte, warum er befürchtete, in den Knast zu müssen. Er wirkte nicht wie ein Bad Guy. Vielleicht würde er es mir später bei einem kalten Bier anvertrauen … Wir stiegen die vier Treppen zu meiner Wohnung hoch und just, als wir sie betraten, ging es mir auf! Aufregung erfasste mich.
„Natürlich, es hat mit dem Mantel zu tun!“
Ich verstaute das Eis im Gefrierfach und drehte mich zu Ben um.
„Zieh du ihn an, und schau, ob du dann meine Gedanken hören kannst!“
Er folgte meiner Anweisung. Ich musste grinsen, weil ihm der Mantel zu klein war. Dachte immer wieder „Du Sahneschnittchen“, unterdrückte ein Auflachen. Doch er zeigte keine Reaktion. Dann schüttelte er den Kopf. „Bei mir klappt‘s nicht. Probier‘ du es noch mal.“
Er reichte mir den Mantel, ich schlüpfte hinein.
Wie im Backofen hier oben. Sie scheint allein zu wohnen.
„Ja, Bullenhitze hier und ich wohne allein.“
„Wahnsinn!“
Ich hängte den Mantel an die Garderobe, die Verbindung war gekappt.
„Unheimlich! Aber ich will jetzt erst mal nicht darüber nachdenken. Magst du mir erzählen, worüber du dir Sorgen machst?“
Ben berichtete, was ihm auf der Seele lag. Vor fünf Jahren hatte er mit seinem besten Freund Paul eine Solar-Firma gegründet. Während Ben die Kundentermine wahrnahm und installierte, kümmerte sich Paul um die Buchhaltung, Bestellungen und Rechnungen. Jetzt kam raus: Die Firma war insolvent, eine Menge Geld war unterschlagen worden und Ben der vermeintlich Verantwortliche, denn Paul hatte ihn heikle Papiere unterschreiben lassen.
„Ich bin so dumm gewesen! Und jetzt pleite. Der Scheißkerl hat das Geld verschwinden lassen“, endete er verzweifelt. „Wenn die geprellten Kunden und Lieferanten ihre Kohle nicht zurückbekommen, bin ich dran.“
„Bitter“, erwiderte ich. „Aber du bist nicht dumm, du hast einem Freund vertraut.“ Ein Plan entrollte sich in meinem Kopf wie eine Schlange. „Würde es helfen, wenn du wüsstest, wo er das Geld gebunkert hat?“
„Klar. Aber das wird er garantiert nicht verraten.“
„Dir nicht. Aber mir. Wenn ich den Mantel trage.“
Ich zwinkerte ihm zu und Bens Augen leuchteten auf. Die Hoffnung in seinem Gesicht machte ihn noch attraktiver.
„Wo finde ich Paulchen denn samstags um diese Zeit?“
„Auf dem Golfplatz“, kam es prompt zurück.

Wir fuhren sofort dorthin und Ben entdeckte Pauls Auto. Er zeigte mir ein Foto von ihm auf dem Handy. Ich marschierte allein los, über die weiten Rasenflächen. Mit dem Mantel über dem Arm hielt ich Ausschau nach dem blonden Endzwanziger mit den Hamsterbacken, wurde fündig. Ja, da stand er, mit zwei anderen Kerlen, alle trugen Shorts, Polohemden und Basecaps. Er schien sich prächtig zu amüsieren, ich hörte sie lachen. Na, das würde dem Miesling bald vergehen!
Entschlossen zog ich den Mantel an und stapfte durch die grelle Nachmittagssonne auf die Gruppe zu.  
„Hallo, stehen hier drei üble Betrüger zusammen oder wissen zwei nicht, was der dritte -“ Ich tippte Paul an die Brust. „für ein fieses Frettchen ist? Er hat seinen Partner abgezogen und die Kohle in der Schweiz versteckt.“ Die Männer starrten mich mit offenem Mund an. Ich konzentrierte mich allein auf Pauls Gedanken.
Shit, hat Ben die geschickt? Wieso Schweiz? Die Kohle liegt auf Mamas Namen bei der OTP Bank in Rumänien.
„Danke!“ Ich schenkte ihm ein Lächeln so dünn wie die Klinge eines Skalpells und rauschte wieder ab.
Bens Unschuld konnte bewiesen werden, Paul wurde entlarvt und kurz darauf festgenommen.
An diesem Tag stießen wir mit Sekt an.
„Gut, dass ich bei der Hitze den Mantel kaufte und auch noch trug, als ich dich traf“, sagte ich. „Ohne ihn hätte ich dich nie angesprochen!“
„Ja, und das Schicksal sandte mir als rettenden Engel auch noch die schönste und coolste Frau der Stadt!“ Er neigte den Kopf und küsste mich.

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