Von Franck Sezelli

 

Es war der 7. Juli 2024. Beim morgendlichen Kaffee blätterte Charly das kostenlose Anzeigenblatt durch, das jeden Sonntag im Briefkasten zu finden war. Groß aufgemacht war der Veranstaltungsplan zum Kreuznacher Bädertag unter dem Motto: 10 Jahre gemeinsam.

Vor zehn Jahren war Bad Münster am Stein-Ebernburg in die Stadt Bad Kreuznach eingemeindet worden. Seitdem haben die beiden schon sehr lange bestehenden Heilbäder eine gemeinsame Geschichte. Das zehnjährige Jubiläum sollte heute ausgiebig gefeiert werden, im Kurpark von Bad Münster genauso wie im Salinental, der Roseninsel und dem Kreuznacher Kurpark bis zum Abschluss auf dem Eiermarkt.

Eigentlich gab es auch ein hundertjähriges Jubiläum, das wusste Charly ganz genau. Schließlich hatte ihm das sein geliebter Großvater immer wieder erzählt. Denn 1924 wurde der Kurstadt Kreuznach der Bädertitel verliehen. Beim Nachsinnen über diesen Umstand kam Charly ein Gedanke, der ihm immer sympathischer wurde und sich schnell zu einem Entschluss verdichtete.

Es sollten heute bis 35 Grad werden. Trotzdem und obwohl er normalerweise Menschenmassen mied, die heute an diesem besonderen Tag wohl unterwegs sein würden, brach er eine Weile nach dem Mittagessen auf.

Seine Füße trugen ihn zum Ufer der Nahe in den Salinenpark, wo er sich auf einer Bank gegenüber eines der hohen Gradierwerke erst einmal ausruhte. Unterwegs hatte er die verwunderten Blicke der ihm begegnenden Menschen einfach ignoriert. Aber hier auf der Bank wurde ihm deutlicher bewusst, dass die Spaziergänger ihn verstohlen betrachteten und einige sich auch nach ihm umdrehten. Kinder lachten und zeigten mit dem Finger auf ihn. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und war froh über den etwas kühleren Lufthauch, der von dem an den Reisigbündeln des Gradierwerkes herabrieselnden Salzwasser ausging. Nicht umsonst rühmt sich das Salinental als Europas größtes Freiluftinhalatorium. Tief atmete Charly die salzhaltige Luft um ihn ein. Er fühlte sich wohl. Was andere von ihm dachten, interessierte ihn im Moment nicht. Er meinte sogar, bestätigen zu können, was manchmal einfach so behauptet wird: Dass das, was gut gegen Kälte ist, auch die Wärme abhält.

Auf den Wiesen ringsum hatten sich einige Familien auf Decken niedergelassen und waren dabei, ihre Picknickkörbe zu leeren. Die Kinder tobten trotz der Hitze herum und spielten Ball.

Etwas abseits lagen junge Leute – nur sommerlich-luftig bekleidet –  im Gras unter Büschen und schattigen Bäumen, um das Wetter zu genießen, aber der glühenden Sonne zu entgehen.

Nachdem sich Charly ausgeruht genug fühlte, lief er langsam weiter, am Alten Pumpwerk vorbei Richtung Roseninsel. Dort hielt er sich nicht lange auf, schaute nur ab und zu den Schwänen und Enten am Flussufer und auf der Nahe zu. Die Vögel schienen sich im Gegensatz zu den Leuten, denen er begegnet war, überhaupt nicht für ihn und sein Aussehen zu interessieren. Obwohl es wegen des Bädertages einige Veranstaltungen in den beiden Kurparks und der Roseninsel gab, waren recht wenige Menschen unterwegs. Die große Hitze machte den meisten wohl zu schaffen, sodass sie zu Hause geblieben waren oder sich eben nur an einem Veranstaltungsort aufhielten und längere Wege mieden.

Charly war selbst erstaunt, dass ihm die sengende Sonne nicht so viel ausmachte. Natürlich musste er sich ab und zu den Schweiß von der Stirn wischen, aber er fühlte sich wohl. Seit heute morgen dachte er immer wieder an seinen Großvater, der ihm gerade in der Kindheit so viel bedeutet hatte, und fühlte sich ihm eng verbunden.

Immer noch mit leichtem Schritt betrat er den für Fahrzeuge gesperrten Oranienpark, wo am Eingang auf das italienische Ristorante da Graziella aufmerksam gemacht wurde. Er lenkte seine Schritte dahin, ein kühles Glas birra vor dem geistigen Auge oder wenigstens einen gut gekühlten Weißwein und eine Karaffe Wasser. Aber leider, wie so oft beim Italiener oder Griechen, war das Lokal am Nachmittag geschlossen, öffnete erst wieder gegen Abend.

Etwas entäuscht wendete er und fand sich an einem Minigolfplatz wieder. An dessen Rand setzte er sich auf eine Bank im Schatten einer Kastanie, um sich erneut auszuruhen und dabei den Spielern zuzusehen. Da erkannte er in einem der Minigolfspieler seinen alten Kumpel Klaus, den er vielleicht schon zwei Jahre nicht getroffen hatte. Im selben Moment erging es Klaus genauso.

»Bist du es wirklich, Charly?«, rief er ihm von Weitem zu. Und weil er nie an Herzdrücken gestorben war und immer frei heraus sagte, was er dachte, setzte er nach: »Aber wie läufst du denn bei dieser Hitze herum? Geht es dir gut?«

»Warum nicht? Und dir? Wir haben uns lange nicht gesehen.« Nach einer kleinen Pause wurde Charly bewusst, warum Klaus nach seinem Befinden gefragt hatte. »Ach so, du fragst wegen dem hier?« Er schaute an sich herunter und machte eine unbestimmte Handbewegung nach unten. »Kann ich erklären. Aber sag mal, sind das dort nicht Marion und Jürgen, mit denen du spielst?«

Klaus nickte bestätigend, schaute aber immer noch etwas betroffen, weil er sich Charlys Auftritt gar nicht erklären konnte. Er kannte ihn von früher als einen sehr ruhigen, vernünftigen Menschen und er machte auch jetzt, abgesehen von seinem etwas seltsamen Äußeren, einen durchaus normalen Eindruck. Das Einzige, womit man ihn früher aus der Ruhe bringen konnte, war, wenn man ihn mit seinem richtigen Namen rief. Es ärgerte ihn sehr, dass seine Eltern ihn aus einem ihm völlig unverständlichen und unbekannten Grund Carl getauft hatten, wenigstens mit C. Aber trotzdem! So hieß doch niemand aus seiner Generation! Deshalb hatte sich Charly quasi als sein einzig akzeptierter Name eingebürgert.

Inzwischen waren Marion und Jürgen auch auf ihn aufmerksam geworden und kamen langsam näher, ihn argwöhnisch beäugend.

Charly nahm ihnen gleich den Wind aus den Segeln und sagte: »Ich weiß, was ihr denkt. Sagt bitte nichts! Ich möchte euch einen Vorschlag machen. Beim Italiener dahinten habe ich nichts bekommen, habe aber unheimlichen Durst. Was wäre, wenn wir alle zusammen in den Quellenhof am anderen Ufer gehen? Ich lade euch ein, habe auch einen besonderen Grund zum Feiern.«

Die drei Freunde schauten sich an und nickten. »Wir sind sowieso eigentlich fertig, lasst uns gehen«, sagte Jürgen.

»Aber du klärst uns auf, was mit dir los ist …«, forderte Marion augenzwinkernd von Charly.

So liefen die vier über die Hängebrücke, die hier die Nahe überquert, zum anderen Ufer. Einige Leute drehten sich auffällig nach der Gruppe um.

Die Freunde fanden einen schönen Tisch auf der Terrasse des Hotelrestaurants mit Blick auf den Fluss. Charly setzte sich so, wie sie ihn angetroffen hatten, an den Tisch. Auch nach Aufforderung legte er in der immer noch anhaltenden Hitze seinen braunen Mantel nicht ab. Nur, um bequemer zu sitzen, öffnete er einige Knöpfe. So wurde das weiche Fell, mit dem der lange Mantel innen ausgekleidet war, für alle deutlich sichtbar. Dieser echte Pelz war derselbe wie am breiten Kragen, über den sie sich alle bereits gewundert hatten.

Der so wunderlich Bekleidete wandte sich nun an die Tischrunde: »Wie gesagt, ihr seid eingeladen, egal, ob ihr trinken oder essen wollt oder beides. Der Anlass ist es mir wert. Gleich nach der Bestellung erzähle ich euch, warum ich heute diesen Mantel anhabe.«

 

Gespannt lauschten die drei Freunde ihrem so überraschend getroffenen alten Kumpel Charly, als sie ihren ersten Durst gelöscht hatten.

»Ich denke, ihr werdet euch noch an meinen Großvater Otto Weber erinnern. Kreuznach ist ja nicht so groß und er war ein stadtbekannter Polarforscher und Abenteurer. Heute ist oder wäre sein 100. Geburtstag. Er ist am 7. Juli 1924 geboren, in dem Jahr, in dem Kreuznach zu Bad Kreuznach wurde, wie er oft ganz stolz betonte. Dieser Mantel, den ich hier trage, ist seiner. Mit ihm war er oft in Grönland und Spitzbergen, aber auch noch weiter nördlich in der Arktis. Als Geologe hat er an vielen Polarexpeditonen teilgenommen. Ich habe ihn immer bewundert, nicht nur als kleiner Junge, sondern auch noch als junger Mann. Wir hatten eine sehr enge Bindung. Er hat mir viel von seinen abenteuerlichen Erlebnissen erzählt. Gerade dieser Mantel spielte für ihn eine ganz besondere Rolle. Nicht nur, dass er ihn mehrfach davor bewahrt hat, bei schlimmen Wetterkapriolen im arktischen Winter zu erfrieren, nein, für ihn war er auf gewisse Weise ein Wunder- oder Zaubermantel. Er fühlte sich in ihm stark, selbstbewusst und vor allem Unbill beschützt. Diesen Glauben hat er tief in mich eingepflanzt. Wenn ich ihn anziehe, fühle ich mich auf ganz besondere Weise mit meinem Großvater verbunden.«

Charly versagte die Stimme. Es war ganz still am Tisch.

Marion unterbrach die Stille fast flüsternd: »Es ist schön, wenn man sich so an etwas erinnern kann, was einem besonders wichtig ist. Danke sehr, Charly, dass du uns daran teilhaben lässt.«

Die Freunde blieben noch lange gemeinsam sitzen und lauschten den Erinnerungen Charlys an seinen geliebten Großvater. Die auch am Abend noch große Hitze schien ihm nichts auszumachen. Er fühlte sich in seinem Wintermantel geborgen wie in einer liebevollen Umarmung.

 

 

 

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