Von Kornelia Wulf
So blass sein Gesicht. Grenzt sich kaum ab vom Cremeton des Lakens, würden da nicht diese Wimpern flattern, unverschämt lang, dunkel getuscht wie ein Schmetterling, aus dem die Farben geflossen sind. Nur auf den Wangen, wundrote Flecken, als habe die Sonne mit gespreizten Strahlen seine Haut aufgekratzt.
Ich stütze mich auf dem Fußteil des Bettes ab, reibe den Zeh an der verkrampften Wade. Endlich, gleich ist Schicht im Schacht, hatte ich gedacht, als mein Blick die Stationsuhr streifte, die paar Minuten läufst du auf einer Fußsohle ab. Aber ich soll bei ihm bleiben, bis er aufwacht. So Ginas Auftrag.
„Schaust du bitte in 216 vorbei?“ Sie raufte sich das eh schon verwehte Haar. „Heute herrscht hier mal wieder Zehnhände Tag. Und eben haben sie noch die Frau Müller gebracht. Auf ihrem Rollator hat sie im Park gesessen, die Tauben gefüttert und mit Mineralwasser besprengt. Ohne Hut – kannst du dir das vorstellen? Die armen Tierchen, hat sie gesagt, die verdursten doch sonst. Der muss ich jetzt rasch eine Infusion anlegen. Und hast du heute die Zeitung gelesen? Nein? Wieder ein Hitzerekord, steht da, die 35 Grad vom Montag sind Schnee von gestern. Dieses Klima, ich sag nur, Daumen runter … wo war ich? Ach ja, der Junge in 216, vor zwei Stunden von der Intensiv hier eingetrudelt. Charlie heißt er. Der soll noch zur Beobachtung bleiben. Seine Eltern sind eben gegangen. Bald wird er aufwachen, habe ich gesagt, aber nein.“ Wild zwinkernd rollten die rotgeäderten Augen, während Gina sich den Infusionswagen schnappte. „Die Herrschaften wollten nicht warten, erst Morgen wiederkommen.“ Im Galopp über den Flur drehte sie sich noch einmal um. „Ach übrigens, du errätst nie, was da auf seinem Bauch lag, als sie ihn hier reingefahren haben, fein säuberlich zusammengefaltet von Kai und Uwe. Obwohl, säuberlich … hm … was? Falsch. Ganz kalt. Ein Wollmantel! Nein, ich veräppele dich nicht. Ich dachte, jetzt hat dich der Schlag getroffen. Gina, du leidest an Hitzevisionen. Aber der Gestank dieses Teils war unüberriechbar. Wir haben ihn in eine Tüte gepackt. Die liegt unten in Charlies Schrank …“
In mir breitet sich Müdigkeit aus. Die Arme verschränkt auf dem Fußteil beuge ich den Rücken vor, bis die Brüste fast auf den Händen hängen. Vielleicht sollte ich mich zu ihm legen, oder – und in meinem Rachen stockt das Lachen – mich jetzt einfach pünktlich davonschleichen und nicht ständig ausbeuten lassen. Die Gedanken schlagen Wellen in meinem Kopf, schäumen kurz auf, um sich gebändigt von stoischen Dämmen wieder zu glätten. Gerade hat er einen Spalt breit die Augen geöffnet, unendlich langsam, als trügen die Lider zu schwer an den Wimpern. Sein stumpfer Blick irrt durch den Raum.
„Hallo Charlie, willkommen bei uns. Du liegst im Dominikus-Krankenhaus.“
Zwei Schritte. Ich stehe neben ihm. Mein Kittel raschelt am Bettgestell, als ich Salbe auf die verbrannten Wangen tupfe. Das Thermometer in meiner linken Hand zeigt 38,8. Fast drei Grad gefallen, notiere ich brav in sein Krankenblatt, das Gina auf dem Nachttisch deponiert hat. Mein prüfender Blick scannt sein Gesicht, über Stirn und Nase zur zarten Haut, die sich vom Rot der Lippen abschält. Er zupft sie in kleinen Fetzen ab.
„Nein Charlie, lass das.“
Meine Hände umschließen die heißen Finger, reichen ihm eine Wasserflasche, an der er wie ein zahnloser Welpe saugt. Langsam klärt sich sein trüber Blick. Der Puls des Lebens scheint wieder in ihm zu strömen. Und meine Kuppen die sprießenden Armhärchen streifend, finden den Punkt unter dem Daumen. Ganz automatisch, ohne zu suchen.
Sein Blick irrt an Wand und Schrank vorbei.
„Wo …“
„Du suchst deine Eltern? Die haben an deinem Bett gesessen, ganz lang. Schon um drei wurdest hier eingeliefert und jetzt ist es neun. Die wollen morgen wiederkommen.“
Der Kopf gleitet zur Seite für einen Moment. Die Wange glüht auf im Neonlicht. Dann dreht er sich um, fixiert mein Gesicht. Panik quillt aus seinem Blick.
„Nein, meine Geige. Wo ist die geblieben?“
Geige? Ich spüre, wie meine Schläfen spannen, die Brauen hinauf zum Ponyrand hüpfen. Ach, armer Charlie, denke ich, vielleicht das Fieber, als auch schon ein paar Tränen rollen.
„Aber sie lag doch fest in meiner Hand.“
Ich drehe mich um, öffne den Schrank, dem ein strenger Geruch entweicht. Tatsächlich, ein roter Plastikkasten, geformt wie ein reifer Frauenkörper, steht senkrecht platziert auf der Plastiktüte. Den Tragegriff in meiner Hand, halte ich die Luft an. Woher kommt nur dieser Gestank?
Alle Schrecken fallen aus seinem Gesicht, als Charlie die schützende Hülle aufklappt und sanft die warmbraunen Kurven streichelt.
„Meine Viola“, höre ich ihn flüstern.
Bestimmt viertel nach. Schluss, mach endlich Feierabend. Auch schon egal, raunt diese nervende Stimme in mir, du darfst ihn jetzt nicht alleine lassen. Und ich rücke einen Stuhl nah an sein Bett.
„Hm, ihr seid ganz eng.“
Charlie schlägt weit die Augen auf. Sie glänzen nun wie der Geigenlack.
„Ich gehe viermal die Woche zum Unterricht. Mein Vater sagt immer, wir haben Charlies Talent schon früh entdeckt. Kaum hatte er den Schnuller ausgespuckt, lag eine Geige auf seinem Geburtstagstisch. So drollig sah die aus, wie ein Spielzeug. Wenn er auf seinem Töpfchen saß, habe ich die ihm unters Kinn gedrückt, den Bogenarm geführt und bla, bla bla…“
Schnaufend bläst Charlie sich Luft ins Gesicht.
„Echt strange, was er da sagt. Voll peinlich, nicht?
Seitdem übe ich an jedem Tag, zwischen Bad und Frühstück das erste Mal. Und wenn ich morgens ein bisschen verschlafe, nervt er mich mit dieser grabdunklen Stimme. Wir dürfen nicht nachlassen, bla, bla, blafft er, auf keinen Fall schwächeln auf der Zielgeraden. Heute wollte ich Viola im Kasten lassen. Ich schwöre, nur diesen einen Tag. Schon um fünf zeigte das Thermometer zwanzig Grad. Auch eine Geige braucht mal Hitzefrei, nicht? Ich saß gerade vor dem Laptop in meinem Zimmer, eiskalte Cola in meinem Mund und wollte mein neues Game anklicken – Fortnite. Was, das kennen Sie nicht? – da stand in der Tür, mein Darth Vater. Ich solle mich jetzt endlich zusammenreißen, ein paar Grad mehr würden mich nun wirklich nicht umschmeißen. Und Looooser, er dehnte das U wie ein Gummiband, als wolle er es in meinen Kopf schleudern wie einen Stein, könne er überhaupt nicht leiden.“
Charlie nimmt einen kräftigen Zug aus der Wasserflasche, ich höre Zähne auf der Glasfläche knirschen.
„Als ich dann von dem Efimoff kam – wie? Ach ja, so heißt mein Geigenlehrer, wollte ich schnell zur Bushalte, weil die Sonne schon kräftig knallte. Neben der stand der Justin mit seinen Bros Bela und Nico. Die voll Obercoolen in meiner Schule. Nur einmal mit denen abhängen, dachte ich. Dafür würde jeder sich ein Tattoo in die Zunge stechen lassen. Ich schwöre. Sie umringten den Penn, eh, Obdachlosen, der sein Lager zwischen Busschild und Kiosk hat. Wenn ich mir im Büdchen eine Cola kaufe, sitzt er da auf einem schwarzen Mantel mit einer Mundharmonika. Wie der mit zwei Stummeln im Mund überhaupt darauf spielen kann. Junge, fleißig üben, nuschelt er mich an. Wir beiden stürmen zusammen die große Bühne. Voll krass, der Alte! Im Winter zieht er den Mantel über die Schultern, brabbelt Jawoll General! Dabei knicken seine Finger an den Schläfen ein und – bah, wie ein Puma stinkt er dann. Der Justin hielt die Mundharmonika in seiner Hand. Und gerade, als der Bus kam, pfefferte er sie auf die Fahrbahn. Oh Mann, grölte er, voll platt! Der Alte hat gekreischt wie ein Papagei, wollte dem Justin an die Gurgel greifen. Da haben sie ihn mit Steinen beworfen. Aus der Rabatte neben dem Kiosk. Ich habe mich nach einem ganz kleinen gebückt, aber – ich schwöre! – nur auf seine Füße gezielt, bevor er heulend sein Lager verließ.“
Sein hartes Schlucken knallt in die Stille des Raumes, während er aus der Flasche trinkt. Als verwandle sich Wasser in Granit.
„Respekt, rief der Justin, Jungs, habt ihrs gesehen? Der Crazy Fiedler kann nicht nur seinen Bogen schieben. Fiedler.“ Charlie verdreht die Geigenlackaugen. „So nennen die mich alle in meiner Schule. Dass sie mich mitnehmen wollen, hat er gesagt, am See im Stadtwald ein bisschen chillen. Aber das koste mich einen Blauen und eine Flasche, na, ich wisse schon welche er meine, drüben vom Kiosk. Ich wühlte zwei Euro aus meiner Tasche. Nicht nur die Sonne ließ mich zerlaufen. Ich könne mir den Einstand auch erspielen, sagte Justin. Und gemeinsam schubsten sie mich auf den Mantel. Zuerst musste ich würgen. Doch als der Bogen über die Saiten glitt, schien der Mief mit den Tönen fortzufliegen. Wenn der Bus kam, hörte ich ein paar Münzen klappern. Auf dem Plastikteller, den der Alte vergessen hatte. Ansonsten herrschte Hitzeleere. Ich sah Wasser über ihre Köpfe spritzen. Aus Flaschen, die sie aus ihrer Kühltasche holten. Justin ließ etwas auf meine Zunge tropfen. Oh, schon leer, seufzte er. Was, nicht mehr, drohend kippte seine Stimme, als er auf den Teller schaute. Fiedler, gib Gas. Loser sind Opfer, ich spürte ein Stechen in meinem Ohr, die können wir nicht brauchen.
Ich versuchte den Bogen fester zu greifen. Plötzlich lag der auf dem Mantel. Alles taub in meiner Hand. Ein Brennen stanzte sich in meine Kopfhaut, als drücke man Zigaretten in ihr aus. Von Ferne eine schrille Stimme. Junge, du musst aus der Sonne! Seltsame Schauer auf meinem Rücken, Eiswasser schien die Venen zu fluten. Ich hörte meine Zähne klappern und zog den Mantel über die Schultern. Der stinkende Puma erfriert im Sommer, dachte ich kichernd, dann … weiß ich nichts mehr.“
Ich sehe die endlosen Wimpern flattern, dunkle Schatten unter den Augen, bis sie hinabsinken auf die Wangen. Ein grunzendes Schnarchen dringt aus seinem Rachen. Ich tupfe noch etwas Creme auf die Wangen.
Auf dem Flur versuche ich die Bilder abzustreifen. Vom Puma, Geige und schwarzem Mantel. Und von Charlies Schattenaugen, die mich bis in die Umkleide verfolgen.
„Schluss“, flüstere ich, den obersten Knopf der Bluse schließend, „du darfst sie nicht immer mit nach Hause nehmen.“
V3
